ISW München
Krise in der Autoindustrie – Vernichtung, Verlagerung oder sozial-ökologische Transformation?
Die Krisen überlagern und verstärken sich: Die Klimakatastrophe, die Kriege und die Verrohung der Politik, die begründete Abstiegsängste der Arbeiterinnen und Arbeiter. Vor diesen Hintergründen erklären die Auto- und Zulieferkonzerne drastische Programme zu Werksschließungen und Massenentlassungen. Daraus wächst Verzweiflung und Wut derjenigen, die jahrzehntelang für den sagenhaften Reichtum der Großaktionäre, der Porsches, Piëchs, Klatten und Quandts, und für einen eigenen bescheidenen eigenen Wohlstand gearbeitet haben. Die Regelmäßigkeit der Krisen macht neugierig auf die Erforschung ihrer politisch-ökonomischen Ursachen. Ohne eine belastbare Krisentheorie wird es keine adäquate linke und gewerkschaftliche Praxis, keine Klassenorientierung in diesen Krisen geben.
Ist das noch eine normale Rezession oder ist das der Weg zur Deindustrialisierung? „Die Industriekrise und der langanhaltende Wirtschaftsabschwung hinterlassen am Arbeitsmarkt ihre Spuren“, berichtet Prof. Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit: „Wir verlieren jeden Monat in Deutschland 10.000 Arbeitsplätze in der Industrie, die Produktion liegt mittlerweile 15 Prozent unter dem Vor-Corona-Nieveau. … Während die eher klassische Industrie Jobs abbaut, werden viel zu wenig Jobs in den neuen Bereichen aufgebaut, insgesamt ist die Jobbilanz in der Industrie tiefrot. Wir brauchen einen Schub nach vorn: Deindustrialisierung ist nicht unausweichlich.“
I. So ist der KapitalismusIm Herbst 2024 und Frühjahr 2025 wird die Krise in der Auto- und Stahlindustrie zum großen Thema. Ausschlaggebend sind die Ankündigungen von Volkswagen, Ford, Bosch, Thyssen-Krupp und anderen, Werke zu schließen, Arbeiter_innen in zehntausender Größe zu entlassen und Löhne zu senken. Vorgeblich geht es darum, Verluste „wegen zu hoher Energie- und Arbeitskosten“ zu minimieren – der Strompreis ist inzwischen wieder auf dem Niveau von vor der Krise angekommen. Tatsächlich geht es um höhere Profite und darum, selbst geschaffene Überkapazitäten wieder zu vernichten.
Angst und Schrecken zu verbreiten ist Methode und Ziel der Kampagne der Unternehmen. Unberechtigt ist die Abstiegsangst nicht, wurden doch in den zurückliegenden Jahren bereits 75.000 Arbeitsplätze in der Auto- und Zulieferindustrie verlagert oder vernichtet. Die Inlandsproduktion sank von 5,7 Mio. PKW im Jahr 2016 auf 4,1 Mio. im Jahr 2023. Im scheinbaren Widerspruch zu diesen Überkapazitäten stiegen die Profite auf 60 Milliarden Euro bei den big three in Deutschland, die Gewinnrücklagen auf sagenhafte 250 Milliarden Euro. Luxusautos und hoch motorisierte SUV bringen weniger Absatz als kleine, smarte Fahrzeuge, aber mehr Profit. Die sinkende Nachfrage und der Rückgang der Produktion von Autos in Deutschland um 30 Prozent seit 2016, der Absatzeinbruch von E-Autos um 70 Prozent im Jahresverlauf 2024 und der Einbruch deutscher Hersteller auf dem wichtigen chinesischen Markt um 20 Prozent von 2019 bis 2024 markieren die Verwertungskrise des Kapitals.
Es ist nicht in erster Linie eine Krise der Autoindustrie, sondern der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Autoindustrie. Es ist eine Krise der Kapitalverwertung, der Überakkumulation, der sinkenden Arbeitsproduktivität, der zunehmenden Bindung von konstantem Kapital, der sinkenden Profitrate, der sinkenden Massenkaufkraft. Wohin mit dem ganzen Profit, wenn es gewinnträchtigere Bereiche gibt als die Autoindustrie? Ursächlich sind die Modellpolitik, die fast ausschließliche Produktion großer und teurer Fahrzeuge (SUVs), die Erwartung von 10 Prozent Umsatzrendite, die hintertrieben Verkehrswende, die arrogant angegangene und letztlich verschlafene Antriebswende und Digitalisierung sowie die vom Zaun gebrochenen Handelskriege. Ursächlich ist der Wachstumszwang für renditeorientierte Unternehmen und die weit vorauseilende Konkurrenz aus China. Der aufkommende Protektionismus trägt seinen Teil zur Krise bei.
„Es kann sein, dass es zu viele Autos gibt, sicher aber zu wenige von BMW“ – so ein oft zitierter Spruch eines ehemaligen Managers von BMW. Alle Konzerne haben in Erwartung von Profiten ihre Kapazitäten ausgebaut. Bis vor kurzem wollte Volkswagen für zwei Milliarden Euro eine neue Gigafactory für ein Luxusmodell Trinity bauen. Auch der Verkehrswendebewegung mit ihren kreativen Protesten in Wolfsburg ist zu danken, dass diese wahnsinnige Idee zu den Akten gelegt wurde. Erstmals konstatieren Unternehmen wie Volkswagen, Ford und Stellantis jetzt die Überkapazitäten in ihren eigenen Fabriken. Nach sich zum Teil widersprechenden Quellen und Berechnungsgrundlagen (VDA, destatis, OICA, CAAM, ACEA) sieht die Marktentwicklung etwa so aus (siehe Tabelle).
PKW Zulassungen (Mio.)
2017
2023
China
23
27
USA
17
15
EU
14
11
Summe
55
53
Weltweit
84
78
Im Jahr 2024 ging es weiter runter mit Produktion und Absatz in Deutschland, in Europa und speziell für die Hersteller aus Deutschland auch in China; für 2025 ist keine Trendwende absehbar.
Der kapitalismuskritische US Arbeitsmarktforscher Ian Greer wird in der Süddeutschen Zeitung vom 9./10.11. so zitiert: „Die Überkapazitäten sind eine größere Herausforderung als der sinkende Arbeitskräftebedarf. Unternehmen wie die amerikanischen Elektroauto-Spezialisten Tesla und Rivian und viele chinesische Hersteller bauen ihre Produktion aus. Und die traditionellen Automobilhersteller haben ebenfalls expandiert. Es wird Unternehmen geben, die scheitern und Werke schließen müssen. Noch wissen wir aber nicht, welche das sein werden. … Die wichtigste Lektion ist: Die Arbeiter haben gerade viel strukturelle Macht. Autounternehmen brauchen sie, um den Übergang zur Elektromobilität zu bewältigen. Das verschafft den Arbeitern Hebelwirkung, um Forderungen durchzusetzen. … Die Hersteller nutzen die Unsicherheit, um von den Beschäftigten Zugeständnisse zu verlangen – und so zuerst die Renditen für die Aktionäre zu sichern. Aber so ist Kapitalismus.“
II. VW – Abbau oder Umbau?Der Volkswagenkonzern verbreitet die Mär von Verlusten in der Marke Volkswagen, will Löhne senken, Werke schließen und 30.000 Arbeiter_innen aus der Produktion, der Verwaltung, der Forschung und Entwicklung entlassen. Konservative Medien bis hin zu ARD und ZDF sekundieren bei der millionenfachen Verbreitung dieser Mär und erzeugen im Land das gewünschte Klima von Angst, Neid und Missgunst.
Der Jammer von Volkswagen besteht darin, dass der angepeilte Profit von 6,5 Prozent nicht erreicht wird, sondern – abzüglich der „Restrukturierungskosten“ – nur bei gut vier Prozent liegt. Der Jammer von Volkswagen liegt darin, dass für 2023 „nur“ 4,5 Mrd. Euro an die Aktionäre ausgeschüttet wurden statt der angepeilten 10 Milliarden. Der Jammer von VW besteht darin, dass sie keine Möglichkeiten sehen, die Gewinnrücklagen von fast 150 Milliarden Euro gewinnbringend im Inland anzulegen.
Wem gehören die Fabriken?Die Geschichte von Volkswagen ist schnell erzählt: Ab Mitte der 1930er Jahre haben die Nazis das „Projekt Volkswagen“ mit Ferdinand Porsche und dem geraubten Vermögen der freien Gewerkschaften umgesetzt. Im Frühjahr 1945 setzte sich Porsche nach Österreich ab und nahm die Kasse von Volkswagen mit. VW war „herrenlos“, wurde von den Briten verwaltet und 1948 „zu treuen Händen“ an die deutsche Bundesregierung übergeben. Alle Gewinne wurden in den Betrieb investiert und das Unternehmen entwickelte sich prächtig. 1960 hat die damalige CDU-Regierung aus der GmbH eine AG gemacht. Das VW-Gesetz wurde verabschiedet, um den Widerstand von Betriebsräten und Gewerkschaften zu brechen. 1980 hat die Kohl-Regierung ihren 20-Prozent-Anteil zu schlechten Bedingungen an die Börse gebracht. Sofort begannen die Porsches und Piëchs im Geheimen damit, Anteile zu kaufen – Porsche wollte Volkswagen schlucken. Es kam etwas anders, im Ergebnis blieb es aber Gleiche: dem PorschePiëch-Clan gehören 53 Prozent der Stammaktien – ohne dass sie sich je an der konkreten Arbeit beteiligt hätten.
Juristisch ist das also ganz klar: 53,3 Prozent der Stimmrechte liegen beim Porsche-Piëch-Clan, 20 Prozent beim Land Niedersachsen, 17 Prozent beim Staatsfond von Katar und 9,7 Prozent im Streubesitz. Historisch und moralisch aber gehört das Unternehmen denen, die dort arbeiten und alle Werte schaffen. Deshalb gilt immer noch das VW-Gesetz von 1960. Die Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo hat recht: „130 Millionen Reichsmark entsprechen einer heutigen Kaufkraft von knapp 700 Millionen Euro. Mit einer durchschnittlichen Verzinsung hätte sich aus diesem Kapital, das die Nazis der Arbeiterbewegung geraubt hatten, über die Jahrzehnte ein Milliardenbetrag ergeben. Dieses Geld, unser Geld, steckt heute im VW-Konzern. Und deswegen ist klar: Bei Volkswagen wird niemals der Turbo-Kapitalismus Einzug halten. Sondern bei Volkswagen haben die abhängig Beschäftigten, ihre Familien und Standortregionen immer ein starkes Gewicht. Volkswagen gehört all denen, die tatkräftig mit anpacken, Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherung gleichermaßen und gleichberechtigt voranzubringen.“
Für Volkswagen gilt deshalb: Management und Aktionäre haben versagt. Das Unternehmen wird nach Artikel 14/15 des Grundgesetzes vergesellschaftet. Beim aktuellen Aktienkurs kostet eine Entschädigung etwa 40 Milliarden Euro – das bezahlen wir nach der Übernahme als gemeinnützige GmbH oder Genossenschaft, abzüglich der Schäden durch das Management, fast aus der Portokasse bzw. von den Gewinnrücklagen.
Zur Vorgeschichte des aktuellen Konfliktes gehört, dass beim Abschied von der 28,8-Stunden-Woche ein »Arbeitszeitkorridor« von 25 bis 33 Stunden vereinbart wurde, der per »Arbeitszeitfixpunkt« im Einvernehmen mit dem Betriebsrat bisher regelmäßig fast ausschließlich in Richtung 33 Stunden plus Mehrarbeit umgesetzt wurde. Jetzt, wo es darauf ankäme, durch differenzierte Arbeitszeitverkürzung in Richtung 25-Stunden-Woche diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen, wird er vom Unternehmen aufgekündigt. Das Ziel ist wohl die Angleichung zwischen Haustarif I und Haustarif II in Richtung der 35-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Praktisch bedeutet das, dass die Arbeiter:innen fast zwei Jahrzehnte lang wöchentlich vier Stunden gratis für das Unternehmen geschuftet haben. Künftig sollen es sechs Stunden werden, die vom Unternehmen nicht vergütet werden. Konservativ gerechnet eine Vorleistung von rund zehn Milliarden Euro aus den zurückliegenden Jahren.
Zur Vorgeschichte gehört auch ein »Zukunftspakt« mit nicht eingehaltenen Zusagen für die Auslastung der Fabriken – nicht nur wegen schlechter Absatzlage, sondern weil Produktion wie die des Transporters und des Passats sowie administrative Arbeit wie Controlling in die Türkei, in die Slowakei und nach Polen oder Indien verlagert wurden. Und wenn die Absatzlage schlecht ist (was mit der völlig verfehlten Modellpolitik zu tun hat), ist vom Management des sozialpartnerschaftlichen Musterbetriebs zu erwarten, dass sie sich zumindest um eine teilweise Neuausrichtung des Unternehmens kümmern. Aber wir erleben gerade, dass in diesem System absolut nichts sicher ist, was sicher schien.
Bei der Betriebsversammlung im Wolfsburger VW-Werk am 4. September sagte der Finanzchef des Konzerns: „Es fehlen uns die Verkäufe von rund 500.000 Autos, die Verkäufe für rund zwei Werke. Der Markt ist schlicht nicht mehr da.“ Im September 2024 platzte die erste Bombe: Das Unternehmen hat eine Reihe von Tarifverträgen gekündigt.
- Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung. Damit sollen Massenentlassungen und Werksschließungen ermöglicht werden. VW-Markenchef Schäfer sagt, die Reduzierung der Personalkosten um 20 Prozent reichten nicht, auch nicht Abfindungen oder Altersteilzeit.
- Tarifvertrag zur Übernahme von Auszubildenden nach erfolgreicher Ausbildung.
- Tarifvertrag zur Leiharbeit, der eine etwas bessere Entlohnung von Leiharbeiter_innen regelt.
- Vereinbarung zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei übertariflicher Entlohnung (Tarif-Plus).
- Erklärtermaßen soll die Arbeitszeit für das Gros der Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Lohnausgleich auf Minimum 35 Stunden regelmäßig verlängert werden.
Alte gegen Junge, Büro gegen Fließband, Emden gegen Zwickau – das ist das Kalkül des Managements. Die Zwickauer „Freie Presse“ fragt, ob es zum Duell Zwickau gegen Emden kommt. „Beide Standorte haben ein ähnliches Profil. Laut Medienberichten kann nur einer von beiden überleben – und für Emden sollen die besseren Argumente sprechen.“ Konzernboss Blume versucht es sentimental: „Wir führen VW wieder dorthin, wo die Marke hingehört – das ist die Verantwortung von uns allen. Ich komme aus der Region, arbeite seit 30 Jahren im Konzern. Ihr könnt auf mich zählen und ich zähle auf Euch – Wir sind Volkswagen“. Aber Tausende skandieren selbstbewusst: „Wir sind Volkswagen – aber ihr seid es nicht!“
Vor der dritten Verhandlung am 21. November platzte die zweite Bombe, die IG Metall legte ein eigenes Angebot vor, verzichtet auf die ursprüngliche Lohnforderung von 7 Prozent und bot ein Sparpaket für das Unternehmen von 1,5 Milliarden Euro in zwei Jahren. Gerechnet auf die 120.000 Beschäftigten macht das mehr als 12.000 Euro Entgeltverlust für jede einzelne Person – und das nach Reallohnverlusten seit 2019 und einer Inflationsrate von 6 Prozent und mehr bei Lebensmitteln. Die kommende Tariferhöhung, so die Idee der Gewerkschaft, könnte befristet als Arbeitszeit in einen Zukunfts-Fonds eingebracht werden. Darüber bekäme das Unternehmen ein Instrument, um bei Bedarf Arbeitszeiten abzusenken. Falls also durch den Strukturwandel in Produktion oder Verwaltung Unterauslastungen entstehen, würde der Fonds helfen, Personalabbau weiterhin sozialverträglich gestalten zu können. Weiter sollen 2025 und 2026 Teile der Boni (ehemals Urlaubs- und Weihnachtsgeld) für Zukunftssicherung eingebracht werden. Im Kern geht es bei dem „Zukunftsfond“ darum, künftigen Personalabbau durch Lohnverzicht zu finanzieren. Außer Acht bleibt dabei, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter seit der Verlängerung der Arbeitszeit vor 20 Jahren von 29 auf 33 Stunden ohne Lohnausgleich bereits jede Woche rund vier Stunden gratis für den Konzern arbeiten – eine Summe von rund 50.000 Euro, die jede und jeder zum Gewinn der letzten beiden Jahrzehnte beigetragen hat. Nun sollen es zwei weitere Gratis-Stunden sein, die alle erbringen sollen.
Ziemlich populär fordern Christiane Benner und Daniela Cavallo, dass das Management und Aktionäre auch einen Beitrag leisten sollen. Die Forderung ist richtig, weil Gewinnentnahme und Managergehälter in ihrer Höhe nicht gerechtfertigt sind – und sie ist zugleich falsch, weil mit dem auch hier von Verlustgeschäften und einem Sanierungsfall ausgegangen wird und „Beiträge“ der Arbeiterinnen und Arbeiter dann zwangsläufig sind. Die IG Metall betont mehrfach, dass „die Arbeitskosten“ nicht das Problem von VW seien. Dennoch fänden sie es gerecht, wenn nach den Arbeiterinnen und Arbeitern bei VW auch der Vorstand auf Gehalt verzichten würde? Das ist eine Form von Populismus, die der IG Metall schnell auf die Füße fallen wird. Wenn Vorstandsboss Oliver Blume auf die Hälfte seiner Bezüge verzichten würde, hätte er immer noch 20.000 Euro AM TAG! Wenn der ehemalige Genrealsekretär des Konzernbetriebsrates und jetzige Personalvorstand Gunnar Kilian auf die Hälfte seiner Vergütung verzichten würde, hätte er immer noch 10.000 Euro AM TAG. Der Vorstand stimmt großzügig zu und erklärt, er habe 2024 das Fixgehalt schon um fünf Prozent gekürzt und auf die Inflationsprämie von 1.000 Euro verzichtet. Weil es letztlich um höhere Profite geht, würden durch „Dividendenpolitik“ keine Beiträge – wofür eigentlich – erwirtschaftet. Und das alles noch im Konjunktiv. Natürlich müssen Vorstandsgehälter begrenzt, vor allem aber müssen Gewinne der Großaktionäre stärker besteuert werden.
Christiane Benner sagt weiter: „Entscheidend ist, ob es eine Strategie nach vorne gibt. Und die zu entwickeln ist eine Führungsaufgabe.“ Das genau macht das Management seit Jahren nicht. Woher der Glaube oder die Hoffnung, dass sie das jetzt machen werden. Und wo bleibt da der Mitbestimmungsanspruch und der alternative Plan der weltgrößten Gewerkschaft mit einem Organisationsgrad von über 90 Prozent in diesem Konzern?
„Wir verschließen uns keinem Personalabbau und keinem Outsourcing“, sagt Daniela Cavallo bei der Pressekonferenz am 20. November. Das passt dann zur Antwort auf die Frage, wie den Überkapazitäten begegnen werden solle: Der Betriebsrat wäre einverstanden, wenn die Werksbelegung auf der drastisch reduzierten Fertigung vom Herbst 2024 erfolgen würde. Das entspricht in Wolfsburg einer Auslastung von maximal 60 Prozent. In Emden und Zwickau ist das näher an 40 Prozent und in den Komponentenwerken folgt eine angepasste Absenkung der Produktion. Mit Beschäftigungs- und Standortsicherung hat das nichts zu tun. Die Hoffnung, dass das Management sich an solche Abmachungen halten würde, ist spätestens mit der Nichterfüllung des Zukunftspaktes obsolet.
Bei großer Kampfbereitschaft und dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von über 90 Prozent müsste die IG Metall in die Offensive gehen. Denn es ist absehbar, was nach einer Niederlage der größten und stärksten Gewerkschaft im bestorganisierten Betrieb folgen würde: Großflächig wird in der Auto- und Zulieferindustrie, später in der gesamten Metall- und Elektroindustrie und schließlich in allen anderen Bereichen von Industrie- und Dienstleistung Personal entlassen, das Einkommen der Arbeiter_innen nach unten „angepasst“, die Arbeitszeit ausgeweitet und weiter flexibilisiert. Das ist die politische und soziale Dimension dieser Auseinandersetzung, aus der sich die Verantwortung der Gewerkschaft und der gesellschaftlichen Linken ergibt.
Nur am Rande sei erwähnt, dass die IG Metall kaum mit Solidarität aus dem Werk in Belgien rechnen kann. Für die kämpfenden Kolleginnen und Kollegen im vor der Schließung stehenden Audi-Werk in Brüssel gab es keine Unterstützung von der IG Metall.
Im Dezember dann die dritte Bombe mit dem Tarifabschluss:
- Keine betriebsbedingten Kündigungen bis Ende 2030. Zunächst keine Werksschließungen – alles mit Revisionsklausel. Erleichterung bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern, mit dem blauen Auge davongekommen zu sein – und weiterhin große Sorgen in Osnabrück und Emden wegen Unterauslastung und möglicher Werksschließungen.
- Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen bis 2030 = Reduzierung der Personalkosten um 1,5 Mrd. Euro nachhaltig
- Kapazitätsreduzierung von 730.000 Fahrzeugen
- Reduzierung der Ausbildungsplätze von 1.400 auf 600 pro Jahr
- Entgeltreduzierung durch Arbeitszeitverlängerung von 33 auf 35 Stunden und Einbehalt von 5,5 % durch das Unternehmen als „Beschäftigtenbeitrag“ plus reduziertes Urlaubsgeld, Boni etc. In Summe mehr als 10.000 Euro brutto pro Beschäftigten und Jahr (je nach Entgeltstufe).
Die IG Metall hat frühzeitig erklärt, dass die Personalkosten nicht das Problem von Volkswagen sind. Also ist die Senkung der Personalkosten auch keine Lösung des Problems. Deutlich wird am Beispiel: Lohnverzicht sichert keine Arbeitsplätze!
Im Verhandlungsergebnis werden die Betriebsräte mit dem „Zukunftstarifvertrag“ § 3.1.2 darüber hinaus zu „Produktrenditen“ verpflichtet, die natürlich vom Unternehmen gesetzt werden. Im § 4 ist weiter festgelegt, dass „alle Entscheidungen darauf geprüft werden, ob sie an den Standorten wettbewerbsfähig dargestellt werden können“. Für das laufende Jahr ist eine Revision des Entgelttarifvertrages vereinbart, mit den zukünftigen Arbeiterinnen und Arbeitern, also denjenigen, die jetzt ausgebildet werden, weitere Lohnbestandteile im Umfang von sechs Prozent gestrichen werden sollen. Die 130.000 Arbeiterinnen und Arbeiter werden trotz Gewinnrücklagen des Konzerns von über 140 Milliarden Euro um viele Milliarden ihres erarbeiteten und verdienten Entgelts gebracht. US-Gewerkschaften haben in der Autoindustrie und auch bei Boeing vorgemacht wie es möglich ist, dem weinerlichen Kapitalistengenöhle nicht auf dem Leim zu gehen und viel mehr herauszuholen. Die IG Metall hat dem Standortdiskurs und den Interessen von Autokonzern und Großaktionären nicht widerstanden, sondern die Konkurrenz zu Arbeiterinnen und Arbeitern anderer Automobilunternehmen verschärft.
III. Linke Industriepolitik und die sozial-ökologische TransformationDie Konversion der Autoindustrie ist voraussetzungsvoll – es braucht einen gesellschaftlichen Konsens, politischen Willen und viel Geld für einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Räumen. Als Olaf Scholz die „Zeitenwende“ ankündigte, waren über Nacht 100 Milliarden Euro dafür da, Rheinmetall und andere Rüstungsunternehmen expandierten mit Fabriken, Personal, Produktion und Profit. Rheinmetall schaut sich leerstehende Fabriken der Auto- und Zulieferindustrie an und übernimmt deren Personal, u.a. bei Conti und Ford. Panzer statt Busse und Züge? Dabei handelt es sich um eine industrielle Konversion, die, weil es um Kriegsgeräte geht, zu weiterem Sozialabbau, zu Kürzungen von Ausgaben für den Klimaschutz und Klimaresilienz und zur Vernichtung in künftigen Kriegen führt.
Ein Beitrag zur Verkehrswende ist der Niedergang der Autoindustrie nicht, weil der öffentliche Verkehr nicht im notwendigen Umfang aufgebaut wird. Das Ergebnis ist eher Mobilitätsarmut. Um einen gesellschaftlichen Konsens zur Mobilitätswende zu erreichen, muss sich die IG Metall von ihrer Fixierung auf die Autoindustrie lösen. Die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch die Arbeitgeber mit der Androhung von Massenentlassungen und Werksschließungen macht die Perspektivlosigkeit dieser Fixierung sichtbar. Das ist aber nicht Konsens in dieser vielfältigen Gewerkschaft, in der zum Beispiel auch die Arbeiter_innen im Schienenfahrzeugbau organisiert sind. So erklärt die IG Metall in ihrem 11-Punkte-Plan: „Unternehmen und Politik müssen die Mobilitätswende massiv beschleunigen. Schluss mit den Debatten um Ausstiegsdaten und Grenzwerte! Ein Zick-Zack-Kurs gefährdet nur Arbeitsplätze. Mobilität bedeutet für uns die bestmögliche Kombination von Auto, Bus, Bahn und anderen Verkehrsmitteln – in der Stadt wie auf dem Land. Von zentraler Bedeutung: deutlich höhere Investitionen in den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und in das Schienennetz.“
Die Folge des Kahlschlags sind weniger Einkommens- und Gewerbesteuern, weniger Sozialversicherungsbeiträge und weniger Kaufkraft in den Kommunen: Haushalts-Schock in Wolfsburg! 270 Millionen Euro fehlen. "Zu knapp bemessen ist auch die Kostenpauschale für Asylbewerber. 6.000 Euro schießen die Kommunen pro Person zu. Oberbürgermeister Weilmann kündigte an, künftig mehr Menschen abschieben zu wollen." In Köln ist zu lesen: "Nicht mal für neue öffentliche Toiletten in der Stadt ist Geld da. Um die prognostizierten jährlichen Verluste von bis zu einer halben Milliarde Euro abzumildern, müssen die Kölnerinnen und Kölner mehr Gebühren bezahlen.“ Die da oben, wir da unten – das wird immer konkreter, sichtbarerer und krasser.
Es geht um Umbau statt Abbau! Die Eigentümer und Manager der Autoindustrie fahren den Laden gerade gegen die Wand. Ursächlich für die Krise sind die Fehlplanungen und die falsche Produktstrategie der Manager, der rückläufige Autoabsatz sowie die Weigerung von Autoindustrie und der Regierung, die Weichen Richtung Verkehrswende zu stellen. Während VW, Mercedes und BMW mit immer größeren und teureren Autos hohe Gewinne machen, müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Zukunft bangen. Wir brauchen eine Jobgarantie, eine Einkommensgarantie und eine Weiterbildungsgarantie für die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Industrie mit Zukunft. Es braucht politische Steuerung und mehr Mitbestimmung, denn die Unternehmen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht.
VW und die gesamte Auto- und Zulieferindustrie könnte besser dastehen, wenn man auf Die Linke gehört hätte: Ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm auf Basis einer bedarfsorientierten Investitionsplanung, kräftige Investitionen in die Infrastruktur, den smarten Fahrzeugpark und das Personal des öffentlichen Personenverkehrs. Weil die profitorientierten privaten Unternehmen das wegen zu geringer Gewinne nicht machen, müssen gemeinwirtschaftlich orientierte Unternehmen aufgebaut werden: gGmbH`s, Genossenschaften oder Stiftungen. Zunächst mit Anschubfinanzierung des Bundes, der Länder oder der Kommunen, bald sich selbst tragend.
Ein weiteres Instrument ist eine kollektive Arbeitszeitverkürzung in Richtung einer Drei- oder vier-Tage-Woche mit Zeitwohlstand für alle, die in diesen Betrieben arbeiten. Das bedeutet eine Abkopplung vom Wachstumszwang, einen Ausstieg aus der globalen Konkurrenz, die die globalen Krisen verursacht hat und kein Teil der Lösung sein kann. Ein ganz praktischer Grund besteht darin, dass die Konkurrenz zu China auf diesem Sektor nicht mehr zu gewinnen ist.
Die politischen Verwerfungen, die Tendenz zu autoritären „Lösungen“ der Krise sind bedrohlich und unübersehbar. Die neuen Nazis beschäftigen sich damit und plakatieren ihren "Stolz auf den deutschen Diesel" vor jedem Werk, greifen BR und IGM an. Zu diesem Teil der „Zeitenwende“ gehört, dass Rüstungshersteller wie Rheinmetall auf die Übernahme der Arbeiterinnen und Arbeiter warten, um neue Waffen zu produzieren, die sich ihren Weg suchen und einen Krieg für finden.
Ohne wesentlich mehr Mitbestimmung der Produzentinnen und Produzenten und der gesamten Gesellschaft, ohne Beschneidung der Macht des Kapitals, ohne Vergesellschaftung wird es keine Krisenlösung gebe, sondern die Katastrophe wird mit allen politischen und sozialen Konsequenzen ihren Lauf nehmen. Carsten Büchling, Betriebsratsvorsitzender bei VW in Kassel sagt dazu: „Dass jetzt betriebsbedingte Kündigungen und Werksschließungen im Raum stehen, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Wenn wir mehr Einfluss hätten auf strategische Entscheidungen, könnten solche Zuspitzungen vermieden werden. Die Beschäftigten müssen zu Miteigentümern der Betriebe werden.“
EU-Wahl 2024
AFD
Die LINKE
Niedersachsen
13,2
2,1
Salzgitter
22
2,1
Emden
16,5
2,8
Wolfsburg
15,7
1,7
Deutschland
15,9
2,7
Über Klasse und Klassenpolitik zu reden ist richtig, solche praktisch zu machen aber ungleich wichtiger und schwieriger. In den Betrieben gibt es maximale Verunsicherung und große Ängste vor Entlassungen und Betriebsschließungen. Das, was wir jetzt tun müssen, um den Rechten nicht das Feld zu überlassen sind Aktionen auf Basis unserer Kenntnisse und Erfahrungen: Wir brauchen eine klare politisch-ökonomische Analyse entsprechend der aktuellen ökonomischen Lage, der realen Entwicklung, den Kräfteverhältnissen und der Klassenauseinandersetzungen. Angesichts der Krise der Automobilindustrie als Schlüsselindustrie und der notwendigen sozial-ökologischen Transformation sind öffentliche Kontrolle, die Demokratisierung von Unternehmen und öffentliches Eigentum dringend notwendig für eine zukunftsfähige, nachhaltige und gute Arbeit sichernde Industrie – und nicht die Steigerung des Aktienwerts und der Dividendenausschüttung, anknüpfend an das Transparent von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten bei der Warnstreikdemo am 2. Dezember in Wolfsburg: „Statt Krise und mit Gier – wenn ihr nicht könnt übernehmen wir!“. Es geht nicht um die radikalste Forderung – aber mit „Sozialpartnerschaft“ und auf Basis der Konkurrenz und Profitwirtschaft sind die Probleme nicht zu lösen.
Es bleibt dabei: Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!
Steigender Arbeitsdruck durch Management per RFID, Excel & KI
Im letzten Jahr hat sich erneut gezeigt: Arbeit macht auch in der modernen Arbeitswelt krank. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, wie Beschäftigte unter Druck gesetzt werden. Jeder fünfte Arbeitnehmer war mindestens einmal aufgrund von mentalen Problemen krankgeschrieben, meldet der AXA Mental Health Report 2024 (1). Bei vielen Arbeitsstellen ist die psychische Belastbarkeit des Arbeitenden nachhaltig gefährdet. „Führung geht nicht per Excel-Tabelle“, schreibt der Psychologe Rolf Schmiel in seinem neuen Buch „Toxic Jobs“ (2). Er kritisiert, dass Zahlen von vielen Managern als einziges Steuerungsinstrument genutzt werden. Motivation, die Suche nach Verbesserungspotential der Beschäftigten – all das hält er für sinnvollere Instrumente.
Die Realität sieht anders aus: Bedeutete Controlling in der Vergangenheit, die Gewinnerwartung zu ermitteln und Kostenrechnung zu betreiben, soll heute jeder Arbeitsablauf mit aktuellen Zahlen verfolgt werden. Das ist Ziel der „digitalen Transformation“, von der Unternehmen zunehmend sprechen. Neue Software verspricht immer mehr Möglichkeiten, wie das Beispiel „Microsoft“ zeigt: „Microsoft Fabric verfolgt einen integrierten Ansatz, der Datenintegration, Datenmanagement und Business Intelligence nahtlos miteinander verbindet. Während Power BI bisher überwiegend für die Datenvisualisierung und -analyse verwendet wurde, erweitert Fabric diese Funktionalitäten zu einer umfassenderen Datenplattform. Power BI ermöglicht zwar bereits Datenintegration und Datenmodellierung, aber Fabric hebt das Ganze auf ein völlig neues Niveau.“ (3) Die Dokumentation und Verwaltung von Beschäftigtendaten mit Hilfe moderner Technik ist von besonderer Bedeutung – denn sie liefern Vorgesetzen Daten zur Kontrolle. In „Echtzeit“, wie es heute heißt, indem sofort nach einzelnen Arbeitsschritten etwa das Arbeitstempo überwacht wird.
Dabei ist diese prozessorientierte Steuerung nicht so einfach umzusetzen, wie ein Bericht des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) zeigt. Geschildert wird die Situation in einer Werkshalle der Firma Bosch in Bühl. Es wird alle paar Sekunden ein neuer elektrischer Motor für die Sitzverstellung in Autos produziert – und zwar auf einer rund 50 Meter langen Fertigungsstraße, die seit vielen Jahren genutzt wird. „Um die Performance der Linie durch Daten- und KI-gestützte Analysen zu verbessern, müssen wir zunächst Daten sammeln und korrelieren, was mit den alten Maschinen nicht so einfach möglich ist. Zugleich wäre es aber nicht wirtschaftlich gewesen, sie technisch aufzurüsten“, erläutert Dr. Stefan Groh, Data Scientist bei Bosch (4). „Also haben wir nach einer intelligenten Lösung gesucht, wie wir die Daten kostengünstig sammeln, aufbereiten und weiterverwenden können“. Statt die ganze Maschine zu vernetzen, wurden die Werkstückträger aufgerüstet, auf denen der Motor durch die Fertigungslinie fährt. Diese Träger sind mit RFID-Chips ausgestattet, durch die sich der Weg durch die Linie nachvollziehen lässt. RFID bedeutet „Radio Frequency Identification“. Auf einem kleinen RFID-Chip können die unterschiedlichsten Informationen gespeichert und durch Funkwellen gesendet werden. Durch dieses Senden werden einzelne Arbeitsschritte nachvollziehbar, was den „gläsernen Arbeiter“ ermöglicht. Sobald sich andeutet, dass etwas nicht nach Plan läuft, bewertet eine KI-Software die Auswirkung und schickt eine Meldung auf die Handys von Produktionsplaner und Facharbeiter. Diese Meldungen können dann auch in der Freizeit bei Beschäftigten ankommen, so dass die Arbeit immer mehr in die Freizeit eindringt.
KI-Verordnung ohne BeschäftigtendatenschutzIm letzten Jahr wurde eine europaweite Regelung zum KI-Einsatz verabschiedet. Die EU-KI-Verordnung gilt für alle Unternehmen mit Sitz in der EU – und zwar nach dem Marktortprinzip gemäß Art. 2 EU KI-VO auch unabhängig vom Standort des Betreibers, solange der Einsatz des KI-Systems für Nutzer in der EU erfolgt. Sie gilt sowohl für Entwickler oder Anbieter von KI-Systemen als auch für deren Anwender im Betrieb und hat deshalb auch für Arbeitsplätze eine große Bedeutung. Mit der Verordnung werden KI-Systeme in unterschiedliche Risikogruppen unterteilt. Zu Hochrisiko-KI-Systemen gehören Recruiting-Programme, die Bewerbungen sichten, Bewerber bewerten oder Aufgaben automatisiert zuweisen. Selbst diese Hochrisiko-KI-Systeme sind aber nicht verboten, sie sollen Anbieter zur Transparenz zwingen, indem eine sogenannte Konformitätserklärung abzugeben ist – sie sollen so zusichern, dass sie sich an die geltenden EU-Vorgaben halten.
Die Mängel der Neuregelung sind offensichtlich: Sie umfasst keinen Schutz der Belegschaften vor Überwachung. Ein spezifisches Beschäftigtendatenschutzgesetz, wie es die Gewerkschaften seit Langem fordern, fehlt also weiterhin.
An oberster Stelle steht bei vielen Technik-Projekten die Begrenzung sogenannter nicht-wertschöpfender Tätigkeiten. Dazu zählen im Industriebereich das Holen von Werkzeugen, Reparaturarbeiten oder die Nachbearbeitung. Auch Abstimmungen zwischen Schichten oder Arbeitsgruppen können dazu gehören. Übersehen wird bei dieser Suche nach „Luft in den Prozessen“ bewusst: Diese Arbeiten dienen den Beschäftigten nicht nur dazu, auch eine kleine Verschnaufpause zu haben, sie sind vielmehr in der Regel Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Erledigung der Arbeit. Auch die Auswertung der einzelnen Arbeitsschritte und somit die Kontrolle der Arbeitenden zählen zu den Möglichkeiten der neuen Technik. Voraussetzung ist oft eine Datenbank, in der Informationen aus unterschiedlichen Quellen in einem einheitlichen Format zusammengefasst werden. Die Folge ist steigender Leistungsdruck in den Betrieben.
Proteste gegen Leistungsdruck bei AmazonDagegen regt sich Widerstand. Die Gewerkschaft ver.di hat Beschäftigte von Amazon am „Black Friday“ im Dezember 2024 die zum Streik aufgerufen. In Bad Hersfeld fand eine zentrale Protestaktion statt, zu der 1.200 Streikende aus der ganzen Republik anreisten. Die Arbeiter fordern nicht nur eine Bezahlung nach Tarif. Vielmehr soll der Tarifvertrag für gute und gesunde Arbeit im Einzelhandel durchgesetzt werden. „Die Beschäftigten berichten uns von einem enormen Leistungsdruck, von einer erschöpfenden Arbeitsverdichtung und von einer Überwachung am Arbeitsplatz, die ein Klima der Angst erzeugt“, erklärt ver.di-Bundesvorstand Silke Zimmer (5).
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Nachweise:
(1) www.axa.de/presse/mediathek/studien-und-forschung/mental-health-report-2024
(2) Rolf Schmiel, Toxic Jobs, https://www.zsverlag.de/book/toxic-jobs-e-book-9783965844827
(4) www.iao.fraunhofer.de/de/forschung/beitrag_01-die-frau-fuers-digitale.html
(5) www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++9452b59c-ad91-11ef-be85-2b47d3ea26bf
Internationale Kooperation für eine andere Weltordnung – 22. Doha-Forum erörtert Wege der multipolaren Zusammenarbeit
Das Streben des globalen Südens nach einer gerechteren Weltordnung hat auf dem 22. Doha-Forum, das vom 7. bis 8. Dezember2024 stattfand, neuen Schwung erhalten. Das diesjährige Forum betonte unter dem Motto „Der Imperativ der Innovation" die Notwendigkeit offener, kollaborativer und sektorübergreifender Zusammenarbeit.
Der hochrangige Dialog fand zu einem kritischen Zeitpunkt statt, da die globale Handelslandschaft mit neuen Unsicherheiten konfrontiert ist. Das Doha-Forum versteht sich seit seiner Gründung in 2001 als eine Plattform für transformative Diskussionen über die wichtigsten Herausforderungen der Welt und sinnvolle Veränderungen. In regelmäßigen Abständen richtet sich die Einladung des Forums an ein weltweites Publikum zur Teilnahme an den Diskussionen.
In diesem Jahr standen die organisierten Foren zu einem großen Teil im Zeichen der Erörterung progressiver und innovativer Lösungen für die schwierigsten Herausforderungen wie z.B. geopolitische Spannungen, globale Sicherheit, humanitäre Krisen und technologische Fortschritte, die die meisten Menschen auf der Welt erleben. Innovation, so die Veranstalter, spiele eine entscheidende Rolle, wenn es um eine Überwindung globaler Hindernisse gehe. Die Zukunft liege nicht in konkurrierenden Narrativen, sondern in gemeinschaftlichen Lösungen. Mit der Absicht, unterschiedliche Stärken zu vereinen, könnten gerechtere globale Partnerschaften geschmiedet werden. Das Doha-Forum umfasste 80 Diskussionsrunden und über 350 Redebeiträge.
Im Folgenden sind einige ausgewählte Themen in der gegebenen Kürze zu überprüfen, ohne den Anspruch einer vollständigen Zusammenfassung erheben zu wollen.
Zuvor eine knappe Erläuterung von zwei unterschiedlich akzentuierten Foren im Vergleich: Weltwirtschaftsforum in Davos und das Doha-Forum: Beide Foren sind bedeutende internationale Veranstaltungen, die sich mit globalen Herausforderungen befassen. Beide Foren sind konzipiert als Plattformen für den Austausch, beides sind keine Entscheidungs-Gremien.
Das Weltwirtschaftsforum Davos ist traditionell stark auf Wirtschaftspolitik ausgerichtet 2024 stand unter dem Motto "Wiederaufbau des Vertrauens". Zahlende Mitglieder, international führende Wirtschaftsexperten, Politiker, Wissenschaftler, gesellschaftliche Akteure und Journalisten kommen zusammen, um über aktuelle globale Fragen zu diskutieren. Im Jahr 2024 zählte das Forum 2.800 TeilnehmerInnen. Viele Diskussionsrunden fanden erfahrungsgemäß hinter verschlossenen Türen statt. Zunehmender Fokus auf Themen wie Umweltschutz und soziales Unternehmertum, zudem standen 2024 aktuelle Krisen wie der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten auf der Tagesordnung.
Das Doha-Forum existiert seit 2002 und versteht sich als eine Plattform zur Erörterung von Themen der globalen Herausforderung und konzentriert sich schwerpunktmäßig auf Diplomatie, Dialog und Diversität. In den Diskussions-Foren werden im allgemeinen Themen der wirtschaftlichen Entwicklung, neue Technologien, geopolitische Themen und Themen der kulturellen Diplomatie. Die Veranstalter legen besonderen Wert auf Innovation und offene, kollaborative Ansätze. Im Jahr 2024 nahmen mehr als 4.500 Menschen aus 150 Ländern an den diversen Foren, Experten-Panels und Diskussions-Runden teil, einschließlich Staats- und Regierungschefs, Minister, Parlamentarier, Akademiker, Wirtschaftsführer, Vertreter von Nichtregierungs-organisationen und Think Tank-Vertretern aus aller Welt.
Wirtschaftliche Entwicklung und neue TechnologienDie Nutzung innovativen Denkens zur Neugestaltung der Zukunft bildete entsprechend des Tagungs-Mottos den ersten Diskussions-Schwerpunkt des diesjährigen Doha-Forums. Den Teilnehmern ging es vor allem darum, die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Staaten in der Ära intelligenter Volkswirtschaften zu erörtern. Zur Bewältigung globaler Krisen sei Innovation eine Verpflichtung. Dabei kündigte sich eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Doha-Forum und dem Weltwirtschaftsforum zur Intensivierung des internationalen Dialogs an.
Unter dem erwähnten Begriff „Der Imperativ der Innovation" ging es insbesondere um eine effektive Steuerung neuer Technologien wie KI, Klimabezogene Technologie, der digitale Wirtschaft und des Übergangs zu grüner Energie, um diese neue Technologie als Säulen für eine Zusammenarbeit zur Förderung von Wohlstand und Entwicklung, auch in den Ländern des globalen Südens einschließlich der arabischen Staaten zu nutzen. Die Redner plädierten in ihren Beiträgen dafür, die Entwicklung von Technologie für den Einsatz zur Bewältigung globaler Krisen auszurichten. In ergänzenden Podiums-Diskussionen ging es um die Frage der Förderung des Dialogs zwischen verschiedenen Ländern und Organisationen, wofür Plattformen wie das Doha-Forum eine gute Basis bildeten. Zustimmung fand dabei u.a. der Vorschlag der Veranstalter, sich als Forum dem existierenden globalen Netzwerk anzuschließen, das sich der globalen Wirkung durch Zusammenarbeit, Innovation und Inklusivität widmet.
Geopolitik und internationale BeziehungenIm Zentrum der Podiumsdiskussion über Chinas Rolle in einem aufstrebenden globalen Süden standen Fragen zu Geopolitik und internationale Beziehungen sowie zur Neudefinition der zukünftigen Weltordnung. In den Redebeiträgen spielte die jüngste Erweiterung der BRICS-Gruppe sowie die Frage, wie Chinas wirtschaftliche und politische Führungsrolle Allianzen beeinflusst und globale Handelsnetze umgestaltet, eine wichtige Rolle. Die chinesische Berichterstattung stellt China als konstruktiven Partner für den Globalen Süden und als wichtigen Akteur in der internationalen Zusammenarbeit dar, wobei der Fokus auf Chinas Beiträgen und seine Rolle bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung lag. Die chinesischen Teilnehmer betonten die Bereitschaft ihres Landes, mit anderen Ländern, so auch mit der EU und den USA zusammenzuarbeiten, um das UN-System zu unterstützen und nach UN-Prinzipien zu handeln. Zu erwähnen ist dabei, dass die jüngste Ankündigung des Teilnehmerlandes China, die Zölle für mehr als 40 am wenigsten entwickelte Länder zu senken, große Aufmerksamkeit erregte, während große Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten und die Europäische Union eine Rückkehr zu protektionistischen Maßnahmen signalisierten.
SicherheitSicherheitsfragen, einschließlich Cybersicherheit und die aktuellen Krisen in verschiedenen Regionen der Welt bildeten einen weiteren Schwerpunkt in den Diskussions-Runden, beispielsweise der "Wandel der öffentlichen Meinung in der arabischen Welt im Lichte des Gaza-Krieges" sowie "Globale Governance und Politik nach einem Jahr mit Wahlen in über 50 Ländern" und die "Stärkung der zukünftigen UN-Charta für Frieden und nachhaltige Entwicklung".
Katar als Veranstalterland des Doha-Forums spielt mit seinen Netzwerken und Kommunikationskanälen in der arabischen Welt gerade bei der Frage der Sicherheit eine bedeutende Rolle. Keinem anderen regionalen Akteur sei es in den letzten Jahren besser gelungen, sich über die Kommunikationskanäle mit Gruppen zu verhandeln, mit denen es andere Akteure der internationalen Politik ablehnen, direkt zu verhandeln. Katar gilt neben seiner Gastgeber-Rolle des Doha-Forums als ein Mediator, der sich mit hyperaktiver Diplomatie internationale Anerkennung verschaffen konnte. Auf die derzeit ruhende Vermittler-Rolle Katars als einflussreiche Mittelmacht zwischen den Konfliktparteien Israel und palästinensischen Organisationen ist an dieser Stelle nicht einzugehen.
Wichtige Redebeiträge bezogen sich darauf, Daten über die öffentliche Meinung in der arabischen Welt zu erfassen und Wissen über arabische Bürger und arabische Gesellschaften zu erheben, um die politischen Verhältnisse in der arabischen Welt besser zu verstehen und sie basierend auf Fakten einordnen zu können.
Transformative diplomatische Strategien für die geopolitischen Herausforderungen der GegenwartIn der Veranstaltung Transformative diplomatische Strategien für die geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart, die in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Internationale Politikforschung und der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde, untersuchten die Podiumsteilnehmer den sich wandelnden Charakter der Diplomatie als Reaktion auf die komplexe globale Landschaft von heute.
Weiterentwicklung des UN-Zukunftspakts für globalen Frieden und nachhaltige EntwicklungIn dieser Veranstaltung untersuchten die Podiumsteilnehmer neue Partnerschaften und Akteure, die erforderlich seien, um diese in der Praxis umzusetzen. S.E. Philémon Yang: Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen, erklärte dazu: „Wir müssen den Frieden erhalten, wo immer er gebrochen wurde. Wir müssen nachhaltige Entwicklung fördern, wo Armut herrscht. Wir müssen sicherstellen, dass wir uns an dem Kampf um einen gesunden Planeten für uns alle beteiligen."
Einführung einer globalen Charta für humanitäre DiplomatieErwähnenswert ist auch die Forums-Diskussion, bei der es um die Frage ging, ob eine koordinierte Strategie der humanitären Diplomatie die weltweite Krisenreaktion revolutionieren könnte. An der Diskussion nahm eine Reihe von Experten teil, um deren Ziele und Herausforderungen von humanitärer Arbeit zu erörtern. Es ging insbesondere um den Zustand, mit denen die Mitarbeiter humanitärer Organisationen konfrontiert seien, wie z. B. das gezielte Angreifen und Blockieren von Hilfe, was gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße. Eine besondere Rolle spielte dabei die Initiative von Katar zur Entwicklung einer „Globalen Charta für humanitäre Diplomatie“. Es geht um die Förderung eines gemeinsamen Verständnisses für die humanitäre Diplomatie sowie ihrer ethischen und rechtlichen Grundlagen. Mit klaren Leitlinien und methodischen Vorgaben soll die Zusammenarbeit zwischen Regierungen, humanitären Organisationen und der Zivilgesellschaft gefördert und die Effektivität humanitärer Diplomatie zu gesteigert werden.
"Gemeinsam für den Wandel: Eine globale Allianz gegen Hunger und Armut"Im Forum „Uniting for Change: A Global Alliance Against Hunger and Poverty“ (Übersetzung siehe Überschrift) untersuchte die entscheidende Rolle der Globalen Allianz gegen Armut und Hunger, die auf dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro im November 2024 ins Leben gerufen wurde, um weltweite Bemühungen für Nahrungsmittelsicherheit und soziale Gerechtigkeit zu mobilisieren. Hierzu betonte S.E. Wellington Dias, Minister für Entwicklung und soziale Sicherheit, Familie und Hungerbekämpfung der Föderativen Republik Brasilien: „Armut ist kein Problem für die Armen. Sie ist ein Problem für die ganze Welt. Die Lebensmittelproduktion ist sehr hoch und könnte auf alle Länder verteilt werden, insbesondere auf diejenigen, die unter Hunger leiden.“ Ergänzend dazu stellte S.E. der Außenminister von Mali, Abdoulaye Diop die weitreichenden Folgen, die ein Scheitern bei der Bekämpfung des Hungers mit sich bringen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: “Die Frage der Ernährungssicherheit ist mit Frieden und Investitionen verbunden. Menschen, die hungern, können keine Menschen sein, die Frieden wollen – deshalb brauchen wir Ernährungssicherheit.“
Notwendigkeit der Reform der internationalen InstitutionenMehrere Redner setzten sich mit der Frage der Notwendigkeit einer Reform der internationalen Institutionen auseinander. Die Vereinten Nationen müssten verändert werden lautete eine der vorgebrachten Forderungen. Sie seien unverzichtbar, aber es müsse Brücken geben zwischen den Großmächten, die den Sicherheitsrat in eine Sackgasse brächten, und denen, die die sogenannte zweite Welt repräsentieren.
Ein ZwischenfazitDie Rolle des Doha-Forums als Plattform für den Austausch von Lösungsansätzen zur internationalen Verständigung über globale Krisen mit seiner bemerkenswerten Teilnehmerzahl aus Politik und Wissenschaft sollte nicht überbewertet werden. Aus den Reihen der Teilnehmer erfolgte auch der Hinweis an die Veranstalter, die Erwartungen eher zu dämpfen und nicht zu viel zu erwarten, wenn es in den Konflikt-Zonen Sudan, Gaza, Ukraine und Syrien zu baldigen Friedensabkommen kommen sollte.
Und dennoch ist die Auseinandersetzung mit den erörterten Konzepten und Ideen für internationale Kooperation und Bemühungen der Verständigung von Ländern des globalen Südens begrüßenswert. Auch wenn einige der erörterten Initiativen in ihrer weiteren Präzision weiter betrachtet werden sollten, sind sie doch als Aufklärung und Information über das Bemühen auch jener Länder einzuordnen, die einen Beitrag bei der Neudefinition der Weltordnung mit Partnern auf Augenhöhe leisten können.
Quellen:
https://dohaforum.org/docs/default-source/default-document-library
https://impacthub.net/de/impact-hub-policy-approach
https://www.mfa.gov.cn/eng/xw/wjbxw/202412/t20241211_11542637.html
Kriege befeuern das Geschäft der Top-100 Waffenkonzerne
Die globalen Kriege und Krisen treiben die Umsätze der 100 weltgrößten Rüstungskonzerne in die Höhe. Wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem jährlich aktualisierten Bericht zu den Umsätzen der 100 größten globalen Rüstungsunternehmen schreibt, haben deren Einnahmen im Jahr 2023 um 4,2 Prozent (+ 35 Milliarden Dollar) auf 632 Milliarden Dollar (fast 600 Milliarden Euro) zugenommen. Es ist ein neues Allzeithoch! (The Sipri Top 100 Arms-Producing and Military Services Companies, 2023).
An der Spitze stehen wieder US-amerikanische Waffenproduzenten. Platz 1 bis 5 im Ranking sind von US-Firmen belegt. Diese fünf generieren 31 Prozent (198 Milliarden Dollar) der Waffenverkäufe der Top 100. Weitere 36 der Top 100-Rüstungsfirmen haben ebenfalls ihren Sitz in den USA, insgesamt also 41, auf die 50,3% der weltweiten Top-100-Rüstungsumsätze entfallen: 317 Milliarden Dollar. Die USA stellen nur vier Prozent der Weltbevölkerung – sie müssen sich besonders bedroht fühlen!
Nicht nur die USA, sondern der Westen – Nordamerika und Europa (ohne Russland) – insgesamt dominiert das Geschäft mit dem Tode in einem erdrückenden Ausmaß. Die kollektiven imperialistischen Mächte, die sich in der G7 zusammengeschlossen haben – USA, Deutschland, Japan, UK, Frankreich, Italien, Canada – beheimaten 63 der Top 100 Rüstungsfirmen, die 72,2 Prozent der Umsätze erwirtschaften. Und das bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von lediglich neun Prozent.
Die 32 NATO-Staaten mit gerade mal 12 Prozent der Weltbevölkerung kommen auf 69 der Top-100-Waffenschmieden und fast Dreiviertel (73,4%) der Waffenproduktion. Dennoch wird in Politik und Medien das Narrativ von der „Bedrohung aus dem Osten“ – Russland und Fernost (China) – in Endlosschleife abgespielt.
„Die beiden russischen Unternehmen, die in den Top 100 gelistet sind, verzeichneten einen gemeinsamen Umsatzanstieg von 40 Prozent auf schätzungsweise 25,5 Milliarden US-Dollar“, schreibt SIPRI. Gewiss ein rasanter Anstieg, hauptsächlich infolge des Ukrainekriegs. Aber zusammengenommen betragen die Waffenverkäufe der beiden Holdings (Rostec und United Shipbuildings Corp.) nur vier Prozent der Rüstungsumsätze aller Top 100 – USA dagegen: 50 Prozent.
Nimmt man China mit seinem 16%-Anteil (9 Konzerne) noch dazu, dann sind es noch immer erst 20 Prozent. Dagegen 72% G7 (50 Prozent USA). Selbst die europäische NATO (einschließlich Türkei) toppt mit 21,8 Prozent den zusammengefassten Wert von Russland und China: 20,0 Prozent. Zur Panikmache besteht also nicht der geringste Anlass. Sie dient nur dazu, den Bürgern noch mehr Geld abzupressen und Kriege mental vorzubereiten. „Die Zahlen stehen im offenen Widerspruch zu einer angeblich unzureichenden Verteidigungsfähigkeit des Westens und Forderungen nach mehr und mehr Aufrüstung“, sagte Greenpeace-Experte Alexander Lurz.
Deutsche Konzerne fahren Rüstungskapazitäten hochDie Zahl europäischer Konzerne unter den 100 größten Waffenherstellern beträgt 27 (ohne Russland); der Rüstungsumsatz 132,6 Milliarden Dollar (21 Prozent. Die Umsatzsteigerung betrug 2023 0,2 Prozent. Die vier deutschen Konzerne unter den Top-100 steigerten dagegen ihre addierten Waffenverkäufe um 7,5 Prozent auf 10,7 Milliarden Dollar.
Die Zahl rein deutscher Rüstungskonzerne unter den Top 100 ist unverändert bei vier: Rheinmetall, der größte deutsche Rüstungskonzern rangelte sich um drei Positionen nach vorne: von Platz 29 auf 26. Zehn Prozent Umsatzwachstum. Den größten Sprung in der Skala machte Diehl mit seinen Luftabwehrsystemen: von Platz 98 auf 83. ThyssenKrupp ging dagegen von 64 auf 66 zurück; auch Hensoldt verlor an Boden: Platz 73 gegenüber 71. Bei der deutschen Rüstungsindustrie muss man auch die Transeuropäischen Konzerne mit deutscher Beteiligung berücksichtigen. Es sind dies Airbus Defence (Luftrüstung) (von Platz 14 auf 12), MBDA (Lenkwaffen/Raketen) (von 33 auf 30) und KNDS (Panzer) (46 auf 45). (siehe auch Fred Schmid; „Zeitenwende und der Militär-Industrie-Komplex“, isw-report 140, S. 14ff).
Die deutschen Firmen unter den Top-100 werden auch 2024 im Ranking nach oben gehen; ihre Auftragsbücher sind prallvoll. Möglicherweise kommt noch Renk (Panzergetriebe) dazu. Allen voran der Kanonen-, Granaten- und Panzer-Konzern Rheinmetall, dessen Auftragsbestand ein Mehrfaches des Jahresumsatzes ausmacht. Rheinmetall wird in diesem Jahr seinen Umsatz wahrscheinlich auf zehn bis elf Milliarden Euro verdoppeln und sich dann unter die 20 umsatzstärksten Rüstungskonzerne der Welt einreihen. Die Rheinmetall-Aktionäre – zuvorderst angelsächsische Vermögensverwalter und andere Finanzfonds – setzen auf verstärkte europäische Rüstung, die Präsident Trump den Europäern abverlangen wird. Die Rheinmetall-Aktie hat nach den US-Wahlen einen mächtigen Satz nach oben gemacht: sie stieg von 495 Punkten (6.11.2024) auf 658 am 5. Dezember. Ein Kursgewinn von fast einem Drittel (32,9%) binnen eines Monats.
2024 dürfte sich der starke Anstieg der Rüstungsverkäufe nach Einschätzung des SIPRI-Experten Lorenzo Scarazzato „weiter fortsetzen“. „Die Rüstungseinnahmen der 100 größten Waffenhersteller spiegelten (2023 – F.S.) das Ausmaß der Nachfrage immer noch nicht vollständig wider, und viele Unternehmen haben Rekrutierungsmaßnahmen gestartet, was darauf hindeutet, dass sie optimistisch sind, was die zukünftigen Verkäufe angeht“.
Auch das Börsenblatt finanz-trends bescheinigt der Rüstungsindustrie eine glänzende Perspektive: „Schätzungen zufolge wird die globale Rüstungsindustrie bis zum Jahre 2030 jährlich um rund acht Prozent wachsen. Damit zählt sie zu den wachstumsstärksten Teilindustrien der Welt“. „Treiber“ sind vor allem der Ukraine-Krieg, die Konflikte im Nahen Osten und die „zunehmenden militärischen Spannungen in Asien“. Finanz-trends nennt dann gleich auch noch die Vor- und Nachteile von Investments in Rüstungsaktien. „Hauptvorteil“ sei die Stabilität der Branche“ aufgrund des staatlichen Auftraggebers. „Hinzu kommt, dass es sich um eine vergleichsweise stark wachsende Branche handelt. Angesichts der zahlreichen Krisenherde in aller Welt haben Rüstungsindustrie-Aktien hervorragende Renditeperspektiven“. „Ein dritter Vorteil von Rüstungsindustrie-Aktien ist ihre überdurchschnittlich hohe Dividendenrendite. Aufgrund ihrer starken Cashflows (durch staatliche Anzahlungen – F.S.) können Rüstungsindustrie-Aktien meist hohe Dividenden zahlen“. Hauptnachteil sei „die ethische Bedenklichkeit“ – „Dividenden versus ethische Bedenken“.
Die SIPRI-Tabelle ist erst seit Dezember 2024 verfügbar; deshalb konnten wir sie in isw-report 140 noch nicht veröffentlichen.
isw-report 140, November 2024, 32 Seiten, 3,50 Euro zzgl. Versand
30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (III/III)
Die Gegenbewegungen und neue Bündnisse zur westlich dominierten Globalisierung.
Neue Bündnisse und Machtkonstellationen sind im Entstehen, nachdem sich viele Länder des globalen Südens von Westen distanzieren und ihren eigenen Interessen folgend neue Partner suchen. Die Entwicklung hin zu einer multipolaren Weltordnung birgt Chancen einer Kriegsvermeidung und eine partnerschaftlichen demokratischen Entwicklung des internationalen Systems.
30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (II/III)
Der globale Süden und seine zunehmende geopolitische Bedeutung.
Welche Rolle spielt der globale Süden in einer multipolaren Welt, die am Rand eines/mehrere Kriege steht? Und welche Rolle spielen die Verdammten dieser Erde, die Unsichtbar Gemachten in einer sich herausbildende neuen globale Ordnung oder Unordnung?
30. isw-Forum: Weltordnung im Umbruch. (I/III)
Der neue kalte Krieg, der Kampf um die globale wirtschaftliche und politische Macht.
Die Umgestaltung der Weltordnung vollzieht sich im 21. Jahrhundert als eine große Auseinandersetzung um widersprüchliche Macht- und Interessenskonstellationen.
Der kalte Krieg erneuert sich und prägt die Hauptlinie des globalen Konflikts.
Thyssenkrupp von Krise zu Krise – Personalabbau trotz Staatsgeldern
Kampfansage für die IG Metall.
5.000 Stellen sollen gestrichen, 6.000 ausgelagert werden.
Die Situation bei ThyssenKrupp ist vergleichbar mit der bei VW: Wie beim Autokonzern hat auch der Aufsichtsrat von Thyssenkrupp keine Probleme damit, trotz Krise Dividenden an Aktionäre auszuschütten. So fehlt Geld für die nötige Modernisierung des Unternehmens. Thyssenkrupp sieht sich als Vorzeigeunternehmen der industriellen Transformation.
Für den Umbau zur Produktion von „grünem Stahl“ fliessen Steuergelder an den Konzern. Bund und Land haben zwei Milliarden Euro Fördermittel für den Aufbau einer mit Wasserstoff betriebenen Anlage bereitgestellt. 700 Millionen Euro hat der Konzern mittlerweile davon abgerufen, meldet tagesschau.de. „An der grünen Transformation führt kein Weg vorbei“, sagt Konzernchef Miguel Lopez. „In kaum einer anderen Industrie ist der Hebel zur Senkung der Emissionen so groß wie beim Stahl.“[1]
Das Land NRW gibt dem Stahlkonzern die größte Einzelsubvention der Landesgeschichte in Höhe von 700 Millionen Euro, ohne dass mit der Vergabe des Geldes dem Unternehmen irgendwelche Bedingungen gestellt werden.
Hinter Planungen des Managements steht „die Frage, wie der klimagerechte Umbau der Industrie in Deutschland aussehen wird: sozialverträglich oder raubtierkapitalistisch?“, schreibt die Journalistin Anja Krüger in der taz. Und sie bemängelt das Verhalten der Vorstände: „Milliarden an Förderung einstreichen und Jobs in großem Stil abbauen, verträgt sich nicht. Steckt der Staat Geld in das Unternehmen, muss er die Bedingung stellen, auf den Kahlschlag zu verzichten.“[2]
Gewerkschafter: Offensiveres Vorgehen der Gewerkschaften erforderlich
Ein offensiveres Vorgehen der Gewerkschaften fordern einzelne Gewerkschafter.
Betriebsrat bei VW in Braunschweig, Lars Hirsekorn erklärt dazu:
„Zum Beispiel die Debatte um Wasserstoff: Natürlich hat diese Technologie, die für Autos ohnehin nicht zu gebrauchen ist, ihre Probleme, aber es ist sicher sinnvoll, ein Stahlwerk auf Wasserstoff umzustellen. Die Regierung will den Wasserstoff dem freien Markt überlassen. Das ist Irrsinn, die Industrie muss unter gesellschaftliche Kontrolle kommen. Da müssen wir mutiger werden in den Forderungen“.
Neue Ideen stoßen auch in der Belegschaft auf Interesse. „Wenn ich zum Beispiel mit Leuten über den ehemaligen Autoteilehersteller GKN in Florenz rede, wo die Belegschaft den Betrieb übernommen hat und auf klimafreundliche Produkte umstellen will, sagen alle, das ist super, da wehrt sich jemand“, berichtet Hirsekorn, der seit 1994 bei Volkswagen und seit Mai 2022 freigestellter Betriebsrat ist, von Gesprächen mit Arbeitern.[3]
In ihrer Satzung fordert die IG Metall nach Artikel 2 seit 1949 eine Vergesellschaftung:
„Überführung von Schlüsselindustrien und anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden
Unternehmungen in Gemeineigentum“ [4]Bereits im Oktober 1983 beschloss der Gewerkschaftstag der IG Metall die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie.[5]
Mit dem Berliner Volksentscheid zur Vergesellschaftung konzerneigener Wohnungsbestände hat die Mietenbewegung gezeigt, wie populär diese Forderungen sein können. Die Transformation in der Stahlindustrie mit einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse zu verknüpfen, wäre die logische Konsequenz aus dem Managerversagen. Ein Blick auf die saarländische Stahlindustrie zeigt, dass es auch anders geht. Anteilseigner ist dort die „Montan-Stiftung-Saar“ ist. Die Stiftung setzt eine Unternehmenspolitik durch, die Gewinne zum größten Teil im Unternehmen lässt, um notwendige Investitionen zu finanzieren.
Krise: keine neue Erfahrung für die Belegschaft
Krise ist keine neue Erfahrung für die Beschäftigten. So wollte das Management in den 2010er Jahren Weltkonzern werden. Mit einem neuen Hüttenwerk bei Rio de Janeiro und einem Walzwerk in den USA sollte ein Global Player aus NRW entstehen. „Wir leiden immer noch unter den Folgen der Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA“, erklärte vor zwei Jahren die damalige Vorstandschefin Martina Merz. [6]
Die Wut auf die Vorstände bei den Beschäftigten groß. „Auf einer Belegschaftsversammlung bei Thyssenkrupp Steel in Bochum wurde es laut. Die Stahlarbeiter sind sauer und enttäuscht“, meldet tagesschau.de. Der Vorstand musste mit Sicherheitskräften vor wütenden Arbeitern geschützt werden. [7]
[1] www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/thyssenkrupp-gruener-stahl-100.html
[2] https://taz.de/Stellenabbau-bei-Thyssenkrupp/!6048548
[3] www.akweb.de/bewegung/massenentlassungen-bei-vw-ein-angriff-auf-alle-arbeiterinnen-betriebsrat-lars-hirsekorn-im-interview
[4]www.igmetall.de/download/20231222_IGM_Satzung_2024_232da4272e6e85e92c762acbccd45acb4569daf
d.pdf
[5] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176984.ig-metall-gemeineigentum-als-krisenloesung.html
[6] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/thyssenkrupp-stahlwerke-verluste-krise-1.4750048 )
[7] (www.tagesschau.de/inland/regional/nordrheinwestfalen/wdr-belegschaftsversammlung-bei-thyssenkrupp-die-leute-haben-geweint-102.html
COP-out 29
Planung statt Preisgestaltung. Die COP29 bot nichts dergleichen.
Die Hauptfrage war, wie viel die reichen Länder den armen Ländern zur Verfügung stellen würden, um die Maßnahmen zur Eindämmung der globalen Erwärmung und zur Bewältigung der durch die steigenden Treibhausgasemissionen verursachten Schäden zu bezahlen.
Als Finanzierungsziel waren mehr als 1,3 Billionen Dollar pro Jahr bis 2035 vorgesehen.
Die endgültige Einigung basierte jedoch auf nur 300 Mrd. $ an tatsächlichen Zuschüssen und zinsgünstigen Darlehen der Industrieländer.
Der Rest sollte von privaten Investoren und vielleicht von Abgaben auf fossile Brennstoffe und Vielflieger kommen - die Einzelheiten blieben vage.
Das Angebot der „entwickelten“ Länder, das aus ihren Staatshaushalten und der Auslandshilfe finanziert wird, soll den inneren Kern einer so genannten „gestaffelten“ Finanzierungsregelung bilden, die von einer mittleren Schicht neuer Finanzierungsformen wie neuen Steuern auf fossile Brennstoffe und kohlenstoffintensive Aktivitäten, dem Kohlenstoffhandel und „innovativen“ Finanzierungsformen sowie einer äußeren Schicht von Investitionen aus dem Privatsektor in Projekte wie Solar- und Windparks begleitet wird. Dies sei ein „Ausweg“ aus der Bereitstellung echter Geldtransfers.
Mohamed Adow, Direktor des Thinktanks Power Shift Africa, sagte:
"Dieser [Gipfel] war eine Katastrophe für die Entwicklungsländer.
Er ist ein Verrat an den Menschen und dem Planeten durch reiche Länder, die behaupten, den Klimawandel ernst zu nehmen. Die reichen Länder haben versprochen, einige Mittel in der Zukunft zu 'mobilisieren', anstatt sie jetzt bereitzustellen. Der Scheck ist auf dem Postweg. Aber Leben und Lebensgrundlagen in gefährdeten Ländern gehen jetzt verloren.
Juan Carlos Monterrey Gómez, Panamas Klimabeauftragter, schloss: "Das ist definitiv nicht genug. Wir brauchen mindestens 5 Mrd. Dollar pro Jahr, aber wir haben nur 1,3 Mrd. Dollar gefordert. Das ist 1 % des weltweiten BIP. Das sollte nicht zu viel sein, wenn es um die Rettung des Planeten geht, auf dem wir alle leben." Das endgültige Abkommen „läuft ins Leere, wenn man es aufteilt.
Nach Dürren und Überschwemmungen haben wir Rechnungen in Milliardenhöhe zu bezahlen. Es wird uns nicht auf einen Pfad zu 1,5C bringen. Eher auf 3C."
Mehr als 60.000 Menschen hatten sich für die Konferenz angemeldet, die die Hotelpreise um 500 % in die Höhe schnellen ließ. Ein Standardzimmer im Holiday Inn in Baku kostete für die Dauer der Konferenz 700 Pfund pro Nacht, verglichen mit den üblichen 90 Pfund.
Laut FlightRadar24, einer Website zur Flugüberwachung, landeten in der ersten Woche 65 Privatjets in Baku, doppelt so viele wie üblich.
Edi Rama, Ministerpräsident von Albanien, kommentierte: „Die Menschen dort essen, trinken, treffen sich und machen gemeinsam Fotos - während im Hintergrund immer wieder Bilder von sprachlosen Führern laufen “, sagte er. „Für mich sieht das genauso aus wie das, was jeden Tag in der realen Welt passiert. Das Leben geht weiter, mit seinen alten Gewohnheiten, und unsere Reden - voll von guten Worten über den Kampf gegen den Klimawandel - ändern nichts. Was bedeutet es für die Zukunft der Welt, wenn die größten Umweltverschmutzer so weitermachen wie bisher?“, fragte Rama.
„Was um alles in der Welt machen wir auf dieser Versammlung, immer und immer wieder, wenn kein gemeinsamer politischer Wille in Sicht ist, über Worte hinauszugehen und sich für sinnvolle Maßnahmen zu vereinen?“
Auf der COP29 war keine Rede mehr von der „Abkehr von der Verbrennung fossiler Brennstoffe“, wie sie die Staaten der Welt vor einem Jahr versprochen hatten, und für 2024 ist ein neuer Rekord bei den weltweiten Kohlenstoffemissionen geplant.
Die neuesten Daten zeigen, dass die den Planeten erhitzenden Emissionen aus Kohle, Öl und Gas im Jahr 2024 um 0,8 % steigen werden. Im krassen Gegensatz dazu müssen die Emissionen bis 2030 um 43 % sinken, damit die Welt überhaupt eine Chance hat, das im Pariser COP-Abkommen festgelegte Ziel eines Temperaturanstiegs um 1,5 °C einzuhalten. Dieses Ziel ist in weite Ferne gerückt, und der Planet steuert schnell auf einen Anstieg von 2,0 °C (und mehr) im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu.
Die derzeitige Politik steuert sogar auf einen Temperaturanstieg von 2,7 °C zu. Das erwartete Niveau der globalen Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts hat sich seit 2021 nicht verändert, wobei in diesem Jahr „minimale Fortschritte“ erzielt wurden, so das Climate Action Tracker-Projekt.[1] Die Schätzung des Konsortiums hat sich seit dem Cop26-Klimagipfel in Glasgow vor drei Jahren nicht verändert. „Wir haben es eindeutig nicht geschafft, die Kurve zu biegen “, sagte Sofia Gonzales-Zuñiga von Climate Analytics. Die erwartete Erwärmung liegt mit 2,1 °C etwas niedriger, wenn man die Zusagen und Ziele der Regierungen einbezieht, aber auch das hat sich seit 2021 nicht geändert. Die Erwärmung im optimistischsten Szenario stieg leicht von 1,8 °C im letzten Jahr auf 1,9 °C in diesem Jahr, so der Bericht. „Wir verursachen eine globale Erwärmung, die 100 Mal schneller ist als frühere natürliche Veränderungen. „Wir bringen das Klima der Erde über die natürlichen Grenzen hinaus, mit CO2- und Temperaturwerten, die seit 3 Millionen Jahren nicht mehr erreicht wurden“, sagte Mark Maslin, [2]
Veränderungen der globalen Durchschnittstemperaturen, die gering erscheinen, können zu massivem menschlichem Leid führen. Letzten Monat wurde in einer Studie festgestellt, dass die Hälfte der 68.000 Hitzetoten in Europa im Jahr 2022 auf die bisherige globale Erwärmung von 1,3 °C zurückzuführen ist. Bei den höheren Temperaturen, die für das Ende des Jahrhunderts prognostiziert werden, wird auch das Risiko irreversibler und katastrophaler Extremereignisse in die Höhe schnellen. Die Forscher warnten, dass die von ihnen geschätzte mittlere Erwärmung von 2,7 °C bis zum Jahr 2100 eine so große Fehlerspanne aufweist, dass sie sich in weitaus heißeren Temperaturen niederschlagen könnte, als die Wissenschaftler erwartet hatten. „Es besteht eine 33%ige Chance, dass unsere Projektion 3°C oder mehr beträgt, und eine 10%ige Chance, dass sie 3,6°C oder mehr beträgt “, sagte Gonzales-Zuniga. Letzteres wäre „absolut katastrophal“, fügte sie hinzu.
Und das liegt nicht nur an den Kohlenstoffemissionen. Die Industrie für fossile Brennstoffe stößt gefährliche Mengen an Methanemissionen aus - das schädlichste aller Treibhausgase.
Es verbleibt zwar nicht so lange in der Atmosphäre wie Kohlendioxid, aber über einen Zeitraum von 20 Jahren ist Methan 80-mal stärker beim Einfangen von Wärme. Es ist für schätzungsweise 30 Prozent der weltweiten Erwärmung seit der industriellen Revolution verantwortlich.
Laut einer Studie, die im September in der Zeitschrift Earth System Science Data veröffentlicht wurde, steigen die Methanemissionen mit einer Rekordrate. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie um etwa 20 Prozent zugenommen. Die atmosphärischen Konzentrationen des Gases sind heute mehr als 2,6 Mal höher als in der vorindustriellen Zeit und damit so hoch wie seit mindestens 800.000 Jahren nicht mehr. Es gelangt auf verschiedene Weise in die Umwelt: Es wird aus Sicherheitsgründen oder in Notfällen von Öl- und Gasfeldern in die Atmosphäre abgelassen oder aus Rohren oder Schornsteinen abgefackelt“, wodurch es hauptsächlich in Rauch und Kohlendioxid umgewandelt wird. (Wenn das Abfackeln ineffizient ist, wird auch reines Methan freigesetzt.)
Weltweit ist die Luftverschmutzung durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe für etwa 1 von 5 Todesfällen verantwortlich - das entspricht in etwa der Bevölkerung von New York City. In den USA werden 350.000 vorzeitige Todesfälle auf die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe zurückgeführt. Die Belastung durch Feinstaub aus fossilen Brennstoffen war 2012 für 21,5 % aller Todesfälle verantwortlich und wird 2018 aufgrund der verschärften Luftqualitätsmaßnahmen in China auf 18 % sinken. In Indien hingegen war die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe im Jahr 2018 für fast 2,5 Millionen Menschen (über 14 Jahre) verantwortlich, was mehr als 30 % der gesamten Todesfälle in Indien bei Menschen über 14 Jahren entspricht. Tausende von Kindern unter 5 Jahren sterben jedes Jahr aufgrund von Atemwegsinfektionen, die auf die Verschmutzung durch fossile Brennstoffe zurückzuführen sind.
Die gängige Wirtschaftswissenschaft hat das Ausmaß und die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen auf die Weltwirtschaft nicht erkannt.
William Nordhaus erhielt 2018 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Modellierung der Kosten und des Nutzens von Maßnahmen gegen den Klimawandel durch die Begrenzung der Emissionen.[3]
Er leistete Pionierarbeit bei der wirtschaftlichen Analyse des Klimawandels.
Nordhaus' Beitrag bestand darin, ein Modell zu entwickeln, mit dem die wahrscheinlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Volkswirtschaften abgeschätzt werden können.
Nordhaus konstruierte so genannte integrierte Bewertungsmodelle (IAMs), um die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) zu schätzen und alternative Vermeidungsstrategien zu bewerten. IAMs werden verwendet, um die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) zu berechnen. Sie versuchen, die inkrementelle Veränderung bzw. den Schaden an der globalen Wirtschaftsleistung zu modellieren, die sich aus einer Tonne anthropogener Kohlendioxidemissionen oder einem Äquivalent ergibt. Diese SCC-Schätzungen werden von politischen Entscheidungsträgern in Kosten-Nutzen-Analysen von Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels verwendet. Da die IAMs jedoch so viele der großen Risiken auslassen, sind die SCC-Schätzungen oft viel zu niedrig. Die Werte hängen oft entscheidend von der „Diskontierung“ ab, mit der zukünftige Kosten in heutige Dollar umgerechnet werden.
Diese Abzinsungssätze sind für jede Diskussion von zentraler Bedeutung. Die meisten aktuellen Modelle zu den Auswirkungen des Klimawandels gehen von zwei fehlerhaften Annahmen aus: dass die Menschen in Zukunft viel reicher sein werden und dass das Leben in der Zukunft weniger wichtig ist als das Leben in der Gegenwart. Die erste Annahme ignoriert die großen Risiken schwerer Schäden und Störungen der Lebensgrundlagen durch den Klimawandel. Die zweite Annahme ist eine „Diskriminierung aufgrund des Geburtsdatums“. Es handelt sich um ein Werturteil, das selten hinterfragt wird, schwer zu verteidigen ist und den meisten Moralvorstellungen zuwiderläuft.
Der Abzinsungssatz, der zur Berechnung des wahrscheinlichen monetären Schadens für die Volkswirtschaften verwendet wird, ist willkürlich. Wenn wir einen Abzinsungssatz von 3 % verwenden, bedeutet dies, dass der derzeitige Anstieg der globalen Erwärmung zu einem wirtschaftlichen Schaden von 5 Billionen Dollar (Verlust des BIP) führen würde, aber die Kosten der globalen Erwärmung in heutigem Geld nicht mehr als 400 Milliarden Dollar betragen würden, etwa so viel wie China für Hochgeschwindigkeitszüge ausgibt. Bei diesem Abzinsungssatz verursacht die globale Erwärmung also nur geringe wirtschaftliche Schäden, so dass die sozialen Kosten des Kohlenstoffs (SCC) nur etwa 10 $/Tonne betragen und Maßnahmen zur Abschwächung begrenzt werden können. Dies hat Nordhaus in seinem Modell verwendet.
Aber warum 3 %? Im Jahr 2018 hat Nicholas Stern, der Verfasser des berühmten Stern-Berichts über den Klimawandel, Nordhaus' Daten verwendet und einen Diskontsatz von 1,4 % angesetzt. Der SCC steigt dann auf 85 $/Tonne - was bedeutet, dass jede Tonne Co2 die Wirtschaft 85 $ kostet, also annähernd 3 Billionen $. In jüngerer Zeit sind die SCC-Schätzungen unter Verwendung komplexerer Methoden und realistischerer Annahmen als die ursprünglichen auf 180 bis 300 Dollar pro Tonne gestiegen.
Nordhaus' IAMs ( Integrated Assessment Models) weisen Mängel auf, die sie als Instrumente für die politische Analyse nahezu unbrauchbar machen. IAMs haben Schwierigkeiten, das Ausmaß der wissenschaftlichen Risiken zu berücksichtigen, wie das Auftauen des Permafrosts, die Freisetzung von Methan und andere potenzielle Kipppunkte. Darüber hinaus werden viele der größten potenziellen Auswirkungen nicht berücksichtigt, wie z. B. weit verbreitete Konflikte als Folge einer groß angelegten Migration von Menschen, die aus den am stärksten betroffenen Gebieten fliehen. IAMs tragen Risiken und Unsicherheiten nicht Rechnung. Diese Modelle schätzen die Schäden jedes Jahr anhand eines Schadensfaktors x, multipliziert mit T2 in diesem Jahr - das heißt, die sehr einfache Schadensfunktion ist eine sanft ansteigende Linie.
Der kürzlich verstorbene Klimaökonom Martin Weitzman, ein Kollege von Nordhaus, war mit diesem Ansatz der „Diskontierung“ der Zukunft nicht einverstanden. Weitzman wies auf die enorme Unsicherheit in den Prognosen der Klimaauswirkungen hin, einschließlich Kipppunkte, große Fehlerbalken und „unbekannte Unbekannte“.
In der Wirtschaftssprache bezeichnete er dies als enormes "Abwärtsrisiko “, einschließlich einer potenziell kleinen, aber grundsätzlich unbekannten Chance der totalen Vernichtung der Menschheit.
Weitzman argumentierte, dass Durchschnittswerte nicht die ganze Geschichte erzählen. Tatsächlich weist eine Pareto-Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion der aktuellen Projektionen „Fettschwänze“ auf [4], die auf eine Wahrscheinlichkeit von 1 % für einen Temperaturanstieg von 12⁰C hindeuten.
Weitzman:
"Das auffälligste Merkmal der Ökonomie des Klimawandels ist, dass seine extreme Kehrseite nicht zu vernachlässigen ist. Eine tiefe strukturelle Ungewissheit über die unbekannten Dinge, die schief gehen könnten, ist mit einer im Wesentlichen unbegrenzten Haftung für mögliche planetarische Schäden verbunden." Bei dieser Art von Temperaturanstieg würde das menschliche Leben wahrscheinlich nicht überleben. Das Problem ist, dass „niemand im ‚globalen Durchschnittsland‘ lebt!“
Der auf eine Dürre folgende Sturm, der an einem Tag eine ganze Saison an Niederschlägen abwirft, hat wahrscheinlich Auswirkungen auf das finanzielle Risiko, wird aber nicht in den Messgrößen für den durchschnittlichen JAhresniederschalg in einer Region erfasst.[5] Wirtschaftsmodelle ignorieren diese Feinheiten des Klimas. Das Modell, das von vielen Zentralbanken der Welt verwendet wird, stützt sich beispielsweise auf eine Schadensfunktion, die die regionale Wirtschafts- und Arbeitsproduktivität mit der jährlichen Temperatur und den Niederschlägen in Beziehung setzt.
Steve Keen argumentiert, (6) dass die IAMs "davon ausgehen, dass empirische Beziehungen, die aus Daten über Temperatur- und BIP-Änderungen zwischen 1960 und 2014 abgeleitet wurden, bis zum Jahr 2100 extrapoliert werden können - sie gehen also davon aus, dass eine weitere Erderwärmung von 3,2°C das Klima nicht verändern wird! Sie sind davon ausgegangen, dass Kipppunkte - kritische Merkmale des Erdklimas wie die grönländischen und westantarktischen Eisschilde, der Amazonas-Regenwald und die atlantische meridionale Umwälz-zirkulation, die Europa heute warm hält - mit nur minimalen zusätzlichen Schäden für das BIP“ gekippt werden können.
Ökonometrische Berechnungen, die auf dem Verhalten der Vergangenheit beruhen, ignorieren nicht nur die „Kipp-Punkte“ wie die Methanfreisetzung aus dem schmelzenden Permafrost, sondern auch die, die viel leichter zu erkennen sind, wie das Austrocknen des Großen Salzsees. Auch in der Gesellschaft gibt es Kipp-Punkte; Infrastrukturen haben Sollbruchstellen; Ökosysteme haben Schwellenwerte; ab einem gewissen Temperaturanstieg verlieren Nutzpflanzen nicht ihre Produktivität, sondern sterben einfach ab - das Gleiche gilt für Menschen.
Trotz der enormen Mängel in den IAMs haben sie weiterhin Einfluss auf die Politik, insbesondere um „Marktlösungen“ für den Klimawandel zu befürworten, die keine öffentlichen Investitionen in die Klimakontrolle oder eine öffentliche Beteiligung an der fossilen Brennstoffindustrie erfordern.
So wurde Nordhaus beispielsweise von der EZB und der G20 eingeladen, um über Maßnahmen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu beraten. Nordhaus' Antwort lautete: Märkte für Kohlenstoffpreise.[7]
Nordhaus' IAMs gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft in 50 Jahren ein viel größeres BIP haben wird, so dass die Regierungen, selbst wenn die Kohlenstoffemissionen wie vorhergesagt steigen, die Kosten für die Eindämmung auf die Zukunft verschieben können. Wendet man dagegen strenge Maßnahmen zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen an, z. B. die Beendigung der gesamten Kohleproduktion, so könnte dies zu niedrigeren Wachstumsraten und Einkommen führen und damit die Verringerung der Emissionen in der Zukunft erschweren. Stattdessen, so Nordhaus, können wir mit Kohlenstoffpreisen und -steuern die Emissionen kontrollieren und reduzieren, ohne die Produktion und den Verbrauch fossiler Brennstoffe an der Quelle zu verringern.
Dies ist die Lösung für die Bepreisung und Besteuerung von Tabak und Zigaretten. Je höher die Steuer oder der Preis, desto geringer der Verbrauch, ohne die Tabakindustrie zu treffen. Abgesehen von der Frage, ob das Rauchen durch Preisanpassungen wirklich weltweit ausgerottet werden konnte, kann die globale Erwärmung wirklich durch Marktpreise gelöst werden? Marktwirtschaftliche Lösungen für den Klimawandel basieren auf dem Versuch, das „Marktversagen“ zu korrigieren, indem die schädlichen Auswirkungen der Kohlenstoffemissionen durch ein Steuer- oder Quotensystem berücksichtigt werden. Das Argument lautet, dass der Preismechanismus durch eine Steuer oder einen neuen Markt „korrigiert“ werden muss, da die gängige Wirtschaftstheorie die sozialen Kosten von Kohlenstoff nicht in die Preise einbezieht.
Auf der COP29-Klimakonferenz einigten sich die Länder auf Regeln für einen globalen Markt zum Kauf und Verkauf von Kohlenstoffgutschriften, die laut Befürwortern Milliarden von Dollar für neue Projekte zur Bekämpfung der globalen Erwärmung mobilisieren werden.
Es hat sich jedoch herausgestellt, dass Emissionsgutschriften gefälscht sind.[8] Letztes Jahr stellte eine Bloomberg-Untersuchung fest[9], dass fast 40 % der im Jahr 2021 gekauften Emissionsgutschriften aus Projekten für erneuerbare Energien stammten, die in Wirklichkeit keine Emissionen vermieden haben.
Dieser Ansatz ist hoffnungslos unzureichend und nicht umsetzbar. Die weltweiten Pläne für saubere Energien (und das sind nur Pläne) liegen immer noch um fast ein Drittel unter dem, was nötig wäre, um diese Zahl zu erreichen. Und um das erforderliche Investitionsniveau zu erreichen, muss die Klimafinanzierung bis 2030 weltweit auf etwa 9 Mrd. Dollar pro Jahr ansteigen, gegenüber knapp 1,3 Mrd. Dollar im Jahr 2021-22, so die Climate Policy Initiative. Das auf der COP29 festgelegte (und jetzt ohnehin nicht erreichte) Ziel von 1,3 Billionen Dollar ist meilenweit verfehlt.
Auf der COP29 sagte die Chefin des IWF, Kristalina Georgieva, dass 98 % der Anpassungsfinanzierung aus öffentlichen Quellen stammt. Das ist nicht nachhaltig. Wir müssen den privaten Sektor sowohl bei der Anpassung als auch bei der Abschwächung freisetzen. Es ist machbar!"
Und die Chefin der EZB, Christine Lagarde, fügte hinzu: „Wir müssen dringend alle möglichen Kapitalquellen erschließen, und zwar schnell und in großem Umfang.“ Doch die private Klimafinanzierung wird nach Angaben der OECD im Jahr 2022 nur 21,9 Mrd. Dollar betragen. Und ein Großteil der öffentlichen Mittel wurde bisher aus den bestehenden Budgets für Auslandshilfe entnommen. Nur 21-24,5 Mrd. Dollar der 83 Mrd. Dollar bleiben als reine Klimafinanzierung ohne Auflagen übrig, so Oxfam in seinem Schattenbericht zur Klimafinanzierung 2023.
Warum wird das Klimaziel nicht erreicht? Warum werden die notwendigen Finanzmittel nicht bereitgestellt?
Es liegt nicht an den Kosten der erneuerbaren Energien. Die Preise für erneuerbare Energien sind in den letzten Jahren stark gesunken. Das Problem besteht darin, dass die Regierungen darauf bestehen, dass private Investitionen die Entwicklung hin zu erneuerbaren Energien anführen sollen.
Private Investitionen werden aber nur getätigt, wenn sie rentabel sind.[10]
Die Rentabilität ist das Problem. Die durchschnittliche Rentabilität liegt weltweit auf einem niedrigen Niveau, und so hat sich das Investitionswachstum in allen Bereichen ebenfalls verlangsamt. Ironischerweise drücken die niedrigeren Preise für erneuerbare Energien die Rentabilität solcher Investitionen. Die Hersteller von Solarmodulen leiden ebenso wie die Betreiber von Solarparks unter einem starken Gewinndruck. Dies offenbart den grundlegenden Widerspruch bei kapitalistischen Investitionen zwischen Kostensenkung durch höhere Produktivität und Verlangsamung der Investitionen aufgrund sinkender Rentabilität.
Dies ist die Kernaussage eines weiteren hervorragenden Buches von Brett Christophers,
The Price is Wrong - why capitalism won't save the planet. [11]
Christophers argumentiert, dass nicht der Preis für erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Brennstoffen das Hindernis für die Erreichung der Investitionsziele zur Begrenzung der globalen Erwärmung ist. Es ist die Rentabilität der erneuerbaren Energien im Vergleich zur Produktion fossiler Brennstoffe.
Marktlösungen werden nicht funktionieren, weil es für kapitalistische Unternehmen einfach nicht rentabel ist, in die Eindämmung des Klimawandels zu investieren.
Wie es der IWF selbst ausdrückt: „Private Investitionen in Produktivkapital und Infrastruktur sind mit hohen Vorlaufkosten und erheblichen Unwägbarkeiten verbunden, die nicht immer eingepreist werden können. Investitionen für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft sind zudem erheblichen politischen Risiken, Illiquidität und ungewissen Erträgen ausgesetzt, die von politischen Ansätzen zur Eindämmung des Klimawandels sowie von unvorhersehbaren technologischen Fortschritten abhängen."
In der Tat:
"Die große Kluft zwischen den privaten und gesellschaftlichen Erträgen aus kohlenstoffarmen Investitionen wird wahrscheinlich auch in Zukunft bestehen bleiben, da die künftigen Wege der Kohlenstoffbesteuerung und -bepreisung nicht zuletzt aus politökonomischen Gründen sehr unsicher sind. Das bedeutet, dass es nicht nur einen fehlenden Markt für den derzeitigen Klimaschutz gibt, da Kohlenstoffemissionen derzeit nicht bepreist werden, sondern auch fehlende Märkte für künftige Klimaschutzmaßnahmen, was für die Renditen privater Investitionen in künftige Klimaschutztechnologien, Infrastruktur und Kapital relevant ist. Mit anderen Worten:
Es ist nicht profitabel, etwas Bedeutendes zu tun.
Ein globaler Plan könnte Investitionen in Dinge lenken, die die Gesellschaft braucht, wie erneuerbare Energien, ökologische Landwirtschaft, öffentliche Verkehrsmittel, öffentliche Wassersysteme, ökologische Sanierung, öffentliche Gesundheit, gute Schulen und andere derzeit unerfüllte Bedürfnisse.
Und er könnte die Entwicklung auf der ganzen Welt angleichen, indem er Ressourcen aus der nutzlosen und schädlichen Produktion im Norden in die Entwicklung des Südens verlagert, in den Aufbau einer grundlegenden Infrastruktur, von Abwassersystemen, öffentlichen Schulen und der Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig könnte ein globaler Plan darauf abzielen, gleichwertige Arbeitsplätze für Arbeitnehmer zu schaffen, die durch die Verkleinerung oder Schließung unnötiger oder schädlicher Industrien verdrängt werden.
Planung statt Preisgestaltung. Die COP29 bot nichts dergleichen.
[1] https://climateactiontracker.org/publications/the-climate-crisis-worsens-the-warming-outlook-stagnates
[2] https://x.com/ProfMarkMaslin/status
[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2018/10/09/climate-change-and-growth-nordhaus-and-romer
[4] https://thenextrecession.wordpress.com/2020/02/11/the-climate-and-the-fat-tail-risk
[5] https://metamodel.blog/posts/fed-climate-risk
[6] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14747731.2020.1807856
[7] https://thenextrecession.wordpress.com/2021/07/22/global-warming-planning-not-pricing/
[8] https://time.com/6264772/study-most-carbon-credits-are-bogus
[9] https://www.bloomberg.com/graphics/2022-carbon-offsets-renewable-energy
[10] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/06/23/fixing-the-climate-it-just-aint-profitable
[11] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/06/23/fixing-the-climate-it-just-aint-profitable
Rechtsentwicklung EU-Kommission: Die Brandmauer bricht
Die EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen bricht den bisherigen cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten: Sie wird künftig zwei Kommissare aus dem ultrarechten Parteienspektrum umfassen. Dabei handelt es sich um Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia, der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, und um Olivér Várhelyi, der der Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dem Fidesz, nahesteht. Die Fratelli d’Italia gehören zur Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der Fidesz zur Fraktion der Patrioten für Europa (PE), zu der auch der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ zählen.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) hat unter der Führung des CSU-Politikers Manfred Weber bereits in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder mit der EKR kooperiert und behält sich dies explizit auch in Zukunft vor. Zuletzt hatte sie sogar mehrfach mit den PE, zuweilen gar mit der Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESR), der die AfD angehört, gemeinsam abgestimmt. Die tradierte Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten („Brandmauer“) bröckelt damit weiter.
In kleinen Schritten
Die jahrzehntelang übliche Praxis, Parteien der äußersten Rechten von der Macht in der EU fernzuhalten und sie deshalb auch nicht zu Mehrheitsbeschaffern aufzuwerten, ist von der konservativen Fraktion im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), schon in der vergangenen Legislaturperiode systematisch ausgehöhlt worden. Bereits im Januar 2022 ermöglichte es die EVP, dass ein Abgeordneter der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt wurde.[1] Eine Untersuchung der Grünen-Fraktion ergab, dass sich die EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei rund 340 Abstimmungen auf Abgeordnete der EKR oder sogar der noch weiter rechts angesiedelten Fraktion ID (Identität und Demokratie) gestützt hatte, um eine Mehrheit zu bekommen. Gewöhnlich sei es dabei darum gegangen, etwa den CO2-Preis für die Kfz-Industrie zu senken oder Subventionen für fossile Energien abzusegnen, heißt es in der Untersuchung – etwas, wofür von der Leyen die Grünen nicht als Mehrheitsbeschaffer gewinnen konnte.[2] Mit den Stimmen von EKR und ID gelang es der EVP im April 2024 auch, einen Antrag zu blocken, der Maßnahmen vorsah, um die Belästigung von Parlamentsmitarbeitern durch Abgeordnete zu verhindern.[3] Der Bruch des cordon sanitaire wurde demnach in kleinen Schritten sukzessive eingeübt.
Die „Venezuela-Mehrheit“
Größere Aufmerksamkeit erhielt im September eine der ersten Abstimmungen des Anfang Juni neu gewählten Europaparlaments. Die Resolution, die zur Debatte stand, sah vor, den in der venezolanischen Präsidentenwahl vom 28. Juli 2024 unterlegenen Kandidaten Edmundo González als angeblich tatsächlichen Wahlsieger anzuerkennen. Den Schritt hatten zuvor die Vereinigten Staaten vollzogen. Dass der Westen meint, darüber befinden zu dürfen, wer in Venezuela als Präsident amtiert, ist absurd und kaum anders denn als Fortbestand alter Kolonialherrenmentalität zu erklären; es ist aber nicht neu: Schon Anfang 2019 hatten einige westliche Staaten, darunter die USA und Deutschland, den venezolanischen Umstürzler Juan Guaidó freihändig – und erfolglos – zum Präsidenten des Landes erklärt (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die neue Resolution zugunsten von González wurde gemeinsam von der EVP und der EKR vorgelegt; in der EKR sind die Fratelli d’Italia (FdI) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni stärkste Kraft. Verabschiedet wurde die Resolution letztlich mit den Stimmen der PE (Patrioten für Europa), zu denen der Fidez von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ gehören, sowie mit Stimmen der ESR (Europa der Souveränen Nationen), zu der unter anderem die AfD zählt.[5]
Wechselnde Abstimmungsbündnisse
Die „Venezuela-Mehrheit“, wie die breite Abstimmungsmehrheit von konservativen und extrem rechten Parteien im Europaparlament seitdem genannt wird, ist inzwischen mehrmals zum Tragen gekommen. Dies war etwa im Oktober der Fall, als das Europaparlament über die Modalitäten bei der Präsentation der künftigen EU-Kommissare und bei der Abstimmung über sie entschied.[6] Ebenfalls im Oktober stimmte die EVP für einen Haushaltsantrag der AfD, der die Schaffung umfassender Abschottungsanlagen an den Außengrenzen der EU vorschlug.[7] Auch die Vergabe des diesjährigen Sacharow-Preises des Europaparlaments im Oktober an González und an die rechte venezolanische Oppositionspolitikerin María Corina Machado geschah mit den Stimmen von EVP, ECR und PE.[8]
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war im Juli noch auf der Basis eines Abstimmungsbündnisses von EVP, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen gewählt worden; es kam damals nicht zuletzt zustande, um der EKR keine wahlentscheidende Funktion einzuräumen. Allerdings zeigt der mehrmalige Rückgriff auf die „Venezuela-Mehrheit“ nun, dass diese der Kommission ganz ungeachtet der Ursprungsmehrheit der Kommissionspräsidentin jederzeit zur Verfügung steht.
Rechts des cordon sanitaire
Konflikte gab es nun um die Wahl der EU-Kommissare – und zwar, weil einige EU-Staaten Politiker nominiert hatten, deren Parteien rechts der EVP stehen und die, würde der tradierte cordon sanitaire noch gewahrt, nicht auf führende Positionen in Brüssel gehievt werden dürften. Das betraf vor allem Raffaele Fitto, der den Fratelli d’Italia angehört, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Von der Leyen will Fitto, einen der engsten Mitarbeiter von Meloni, zu einem der exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission ernennen, mit spezieller Zuständigkeit für Kohäsion und Reformen. Ungarn wiederum hatte als seinen Kommissar in Brüssel Olivér Várhelyi benannt, den bisherigen Erweiterungskommissar, der künftig für Gesundheit zuständig sein soll. Várhelyi steht dem Fidesz von Ministerpräsident Orbán sehr nahe. Der Fidesz gehört der dieses Jahr neugegründeten PE-Fraktion an, zu der mit dem RN, der FPÖ und anderen auch Parteien zählen, die bisher klar jenseits des cordon sanitaire eingestuft wurden. Gegen Fitto und gegen Várhelyi regte sich in den Fraktionen der Sozialdemokraten und der Grünen, die ansonsten die von der Leyen-Kommission mittragen, heftiger Protest; bis vor kurzem hieß es, beide Fraktionen würden die Ernennung der zwei Politiker nicht mittragen.
Taktik und Strategie
In den vergangenen Tagen spitzte sich der Streit um die künftigen Kommissare zu. Dabei wurde massiv taktiert; so hieß es etwa, der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU), der als maßgeblicher Drahtzieher bei der Öffnung seiner Fraktion für Abstimmungsbündnisse mit EKR und PE gilt, könne zwar theoretisch die beiden Rechtsaußenkommissare mit der „Venezuela-Mehrheit“ bestätigen lassen, werde das praktisch aber kaum tun: Stimmten CDU- bzw. CSU-Politiker im Europaparlament jetzt bei einer zentralen Entscheidung gemeinsam mit der AfD, dann gebe das kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl ein unwillkommenes Signal.[9]
Gleichzeitig hieß es – so äußerten sich etwa am Dienstag die früheren italienischen Ministerpräsidenten und Ex-EU-Spitzenfunktionäre Romano Prodi und Mario Monti –, in einer Zeit, in der die EU „gewaltigen Herausforderungen im Osten wie auch im Westen“ ausgesetzt sei – dem Konflikt mit Russland und den drohenden Differenzen mit der künftigen Trump-Administration –, müsse das Staatenkartell geschlossen agieren: ein Hinweis nicht zuletzt an die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament, das Personaltableau von Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht weiter zu blockieren.[10]
Primat der Außenpolitik
Am gestrigen Mittwoch haben die Fraktionsspitzen in Brüssel nun eine Einigung erreicht. Demnach dürfen Fitto und Várhelyi die Posten in der EU-Kommission übernehmen, die von der Leyen ihnen zugedacht hat; die sozialdemokratische Fraktion will dem zustimmen.
Im Gegenzug verspricht die EVP, nur mit Parteien zu kooperieren, die proukrainisch – also antirussisch – sind, die EU befürworten und für den Rechtsstaat eintreten.
Damit wird die einstige Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten, der cordon sanitaire, durch vor allem außenpolitische Festlegungen ersetzt.
Laut Interpretation der EVP steht der Kooperation mit der EKR damit nichts mehr im Weg.[11] Ob die EVP in Zukunft wirklich darauf verzichten wird, auch mit den PE und der ESN-Fraktion zusammenzuarbeiten, wird sich zeigen. Die endgültige Abstimmung im Europaparlament über die neue EU-Kommission einschließlich der beiden ultrarechten Kommissare ist für den kommenden Mittwoch angekündigt.
Mehr zum Thema: Die Brandmauer rutscht (II).
[1] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts.
[2] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts (III).
[3] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.
[4] S. dazu Die Weltenherrscher (II) und Heute schon geputscht?
[5] Noemi Morucci: Prove di maggioranza a destra all’Eurocamera: passa la condanna a Maduro con i voti compatti di Ppe, Ecr e sovranisti. eunews.it 19.09.2024.
[6] Eddy Wax, Max Griera: Here’s the final schedule for commissioner hearings in November. politico.eu 10.10.2024.
[7] Eddy Wax, Max Griera, Jacopo Barigazzi: Far-right ‘Venezuela majority’ signals new power balance in European Parliament. politico.eu 28.10.2024.
[8] Csongor Körömi: Venezuela’s opposition wins top EU human rights award. politico.eu 24.10.2024.
[9] Thomas Gutschker: Wer sich bewegt, verliert. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2024.
[10] Alessia Peretti: Former Italian PMs Prodi, Monti want veto on Fitto, Ribera to be lifted. euractiv.com 20.11.2024.
[11] Thomas Gutschker, Hans-Christian Rößler: Am weitesten mussten sich die Sozialdemokraten bewegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2024.
EU-Parlament verschiebt Gesetz zum Schutz der Wälder und des Klimas
420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU -
durch Entwaldung verloren gegangen sind.
Wenn in Brasilien die Regenwälder brennen, ist die Empörung in Europa groß. Für Rinderweiden, den Anbau von Soja als Tierfutter, aber auch Palmöl, Holz, Kakao und Kaffee werden vor allem in Südamerika und Südostasien riesige Flächen Regenwald abgeholzt und zum Beispiel auch Graslandökosysteme und Savannenwälder im brasilianischen Cerrado in gigantische Ackerflächen umgewandelt. Doch tatsächlich trugen die Handelspolitik der EU und der Fleischhunger der Europäer:innen erheblich zur Waldzerstörung besonders in Brasilien, Indonesien, Paraguay und Argentinien, aber auch in anderen Ländern bei. Für den Konsum an landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Europa werden anderswo auf der Welt Wälder zerstört oder geschädigt.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt, dass zwischen 1990 und 2020 420 Millionen Hektar Wald - eine Fläche größer als die EU - durch Entwaldung verloren gegangen sind. Der EU-Verbrauch macht etwa 10 % der weltweiten Entwaldung aus. Palmöl und Soja sind für mehr als zwei Drittel davon verantwortlich.
Entwaldungsfreie Lieferketten sind daher ein wichtiger Baustein für den Schutz der Umwelt und des Klimas.
Am 19. April 2023 beschloss das EU-Parlament die Entwaldungsverordnung, die darauf abzielt, den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt zu bekämpfen.
Nach dem Gesetz dürfen Produkte wie Kaffee, Holz, Soja, Kakao,Kautschuk, Palmöl und aus Rindern hergestellte Erzeugnisse künftig nur noch dann in der EU verkauft werden, wenn dafür nach 2020 keine Wälder gerodet wurden. Damit soll auch die Abholzung des Regenwaldes etwa im südamerikanischen Amazonasgebiet deutlich reduziert werden.
Unternehmen müssen künftig eine Sorgfaltserklärung abgeben, dass für ihr Produkt nach dem 31. Dezember 2020 kein Wald gerodet oder geschädigt wurde. Wer sich nicht an die Vorschriften hält, muss mit hohen Strafen von mindestens vier Prozent des Jahresumsatzes in der EU rechnen.
Die Regelungen gelten auch für Landwirte, Waldbesitzer und Händler in der EU, sobald sie die relevanten Rohstoffe und Erzeugnisse auf dem EU-Markt bereitstellen oder exportieren.
Die Verordnung ist am 30. Juni 2023 in Kraft getreten und sollte nach einer Übergangszeit von 18 Monaten ab dem 30. Dezember 2024 angewendet werden.
Für kleine Unternehmen sollte eine Übergangszeit von 24 Monaten gelten.
Grüne Minister: Anwendung der Verordnung verschieben
Doch EU-Mitgliedstaaten und betroffene Unternehmen wehren sich gegen die Verordnung und erklärten, dass sie nicht in der Lage wären, die Vorschriften der EU-Entwaldungsverordnung einzuhalten, wenn sie ab Ende 2024 gelten würden.
Daraufhin haben bereits im April 2024 auf Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) zusammen mit Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) mehrere EU-Mitgliedstaaten an die Europäische Kommission appelliert, den Anwendungsstart zu verschieben. Die Kommission stimmte Anfang Oktober zu und schlug eine Verschiebung um 12 Monate vor.[1]
EU-Parlament: Verschiebung um ein Jahr
Am Donnerstag, 14. November, hat auch das EU-Parlament die Verschiebung um ein Jahr mit 371 Stimmen gegen 240 Stimmen und 30 Enthaltungen gebilligt.
Das Parlament nahm auch andere Änderungen an, darunter die Schaffung einer neuen Kategorie von Ländern, die hinsichtlich der Entwaldung "kein Risiko" darstellen, zusätzlich zu den bestehenden drei Kategorien "geringes", "normales" und "hohes" Risiko. Für Länder, die als "kein Risiko" eingestuft werden, d. h. für Länder mit stabiler oder zunehmender Entwicklung der Waldfläche, gelten deutlich weniger strenge Anforderungen, da das Risiko der Entwaldung vernachlässigbar sei oder gar nicht bestehen würde.
Eingebracht wurde der Antrag von der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP - der auch CDU und CSU angehören.
Die neue Allianz zur Abschaffung des Green Deal
Weil im EU-Parlament die Grünen sowie die Sozialdemokraten die von einer CDU-Abgeordneten eingebrachten Anträge ablehnten, waren die europäischen Christdemokraten auf die Stimmen der ultrarechten, nationalistischen Abgeordneten angewiesen.
Ohne die Stimmen von mehreren AfD-Abgeordneten wäre keine ausreichende Mehrheit zustande gekommen
Damit hat eine Allianz von Christdemokraten und Ultrarechten eines der prominenteren Umweltgesetze ("Entwaldungsverordnung") der Sozialdemokraten und Grünen gekippt.
Im Jahr 2019 war der Kampf gegen die Klima- und Umweltkrise das Bindeglied zwischen den beiden großen Fraktionen, der Volkspartei und den Sozialdemokraten. Heute haben sich die Dinge geändert: Die Umwelt ist nach wie vor der Klebstoff, aber zwischen der EVP und den ultrarechten politischen Kräften (einschließlich der AfD), die sich zusammengeschlossen haben, um grüne Politik zu verzögern oder zu blockieren
Es lag in der Luft, aber wahrscheinlich hat niemand damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Die Mehrheit aus christdemokratischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen, die es vor einigen Monaten mit Hilfe der Grünen geschafft hatte, Ursula von der Leyen (CDU) für eine neue Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission ins Amt zu hieven, zeigt nun sichtbare Risse.
Die Tatsache, dass die Europäische Volkspartei, nachdem sie ursprünglich die Zustimmung zur Verordnung gegen die Abholzung unterstützt hatte, eine beispiellose Kehrtwende vollzieht und sich mit den Stimmen der Ultrarechten gegen Klima- und Umweltschutz stellt, ist ebenso ein Beweis dafür wie die Pattsituation bei der Anhörung der Kandidatinnen und Kandidaten für die EU-Kommission.
Patt bei der Anhörung der Kandidaten für die EU-Kommission
Die Sozialdemokraten bestehen auf einer gemeinsamen Abstimmung über die fünf Vizepräsidenten, die Ausdruck der "Mehrheitsparteien" sind, und eine separate Abstimmung über den sechsten, den "Außenseiter" Raffaele Fitto von den faschistischen Fratelli d'Italia, der zum Kommissar befördert würde, aber nicht Vizepräsident werden soll. Die französischen und die spanischen Sozialdemokraten drohen: Entweder gibt von der Leyen bei Fitto als Vizepräsident nach oder wir stimmen gegen die gesamte Kommission. Die Christdemokraten Volksparteien stellen als Gegenmaßnahme die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribeira als Kommissarin für Green Deal in Frage. Im Moment ist alles eingefroren bis zum 27. November.
Tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Ultrarechten
Die gemeinsame Abstimmung von Christdemokraten und Ultrarechten könne als Drohsignal an die Sozialdemokraten betrachtet werden, um sie in der Frage der Vizepräsidentschaft zu erweichen, meint der italienische Journalist und Kommentator, Andrea Colombo. Das sei zwar nicht ganz unbegründet, aber trotzdem irreführend.
"Es ist nicht so, dass die zweite Ursula-Mehrheit, die um die Grünen erweitert wurde, die im vergangenen Juli für von der Leyens Wiederwahl gestimmt haben, im Sterben liegt. Sie wurde nie geboren. Selbst wenn die Kommission die für den 27. November angesetzte Abstimmung im Europaparlament dank eines Taschenspielertricks bestehen sollte, wäre dies nur eine neue Täuschung. So wie auch das Bündnis vom Juli eine Täuschung war", so Andrea Colombo. Denn in Wirklichkeit gebe es beim Green Deal wie bei der Einwanderung eine echte und tiefe Übereinstimmung zwischen den Positionen der EVP und denen der Rechten, einschließlich ihrer ultrarechten Flügel, Orbáns Patrioten und sogar der AfD-Souveränisten. [2]
Sollte sich diese neue politische Konstellation konsolidieren, wird es nicht nur eine gemeinsame Zerschmetterung von Green-Deal-Projekten geben, sondern angesichts weitgehend identischer Standpunkte wird sie sich auf weitere Bereiche ausdehnen: Rüstungs-, Innen-, Sozial-, Migrations-, Konzern-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und alle Teile der Außenpolitik.
Ein Probelauf fand bereits am 20. September statt, als die Christdemokraten mit den Ultrarechten und Faschisten der Fraktion der Partei Europäische Konservative und Reformer (EKR) unter Vorsitz von Giorgia Meloni und den Patrioten für Europa (PfE mit FPÖ, Lega, Partij voor de Vrijheid, Rassemblement National, Vlaams Belang, Vox, ..) einen gemeinsamen Antrag einbrachten, mit dem der venezolanische Oppositionelle Edmundo Gonzalez Urrutia als Sieger der Wahl in Venezuela im Juli anerkannt wird.
"Anstatt einen Kompromiss mit uns zu suchen, arbeiten die Konservativen mit Rechtsaußen zusammen und ziehen somit eine ultrarechte Mehrheit durch."
Moritz Körner (FDP), Mitglied des Europäischen Parlaments über die gemeinsame Resolution von EVP, EKR und PfE zu Venezuela
"Größere inhaltliche Differenzen können wir zwischen CDU und AfD, EVP und den noch rechteren politischen Gruppierungen im EU-Parlament längst nicht mehr erkennen", sagt der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei).
Die Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus sieht in dem Vorgehen ein Einreißen der sogenannten Brandmauer. Das Mitte-rechts-Bündnis EVP "baut aus den Trümmern Brücken zur Rechten", so Paulus.
In Straßburg bilden die Christdemokraten bereits eine Schattenmehrheit mit den Ultrarechten und warten darauf, in den einzelnen Staaten in Regierungskoalitionen zu wechseln - mit Italien, wo sie dies bereits tun, als leuchtendes Vorbild. Die Sozialdemokraten wollen genau das Gegenteil erreichen: eine Barriere errichten, hinter der sie versuchen können, die letzte Verteidigung angesichts einer Offensive zu organisieren, die sie immer weiter zurückdrängt.
Anmerkungen:
[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52024PC0452R%2801%29&qid=1731321503796
[2] il manifesto, 15.11.2024: Commissione Ue, comunque sia sarà un insuccesso
https://ilmanifesto.it/commissione-ue-comunque-sia-sara-un-insuccessone
https://www.isw-muenchen.de/broschueren/reports/219-report-138-139
Schwache Konjunktur – Gehaltssteigerungen deutscher Top-Manager höher als 2,0 % Lohnerhöhung bei Metall
Nach den Konjunkturprognosen von Bundesregierung und Konjunktur-Forschungs-Instituten wie dem ifo-Institut und dem iw-Köln ist für 2024 von einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt zwischen 0,2 Prozent und 0,0 %, also „Null-Wachstum“, auszugehen.[1]
Basierend auf den veröffentlichten Informationen aus den Konjunkturprognosen werden für den aktuellen Rückgang der deutschen Wirtschaft strukturelle Faktoren wie die angestrebte Digitalisierung, ein demographischer Wandel und eine erklärte Zielsetzung der Dekarbonisierung als Begründung dafür angegeben.
„Die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise fest. Dabei belasten sowohl konjunkturelle als auch strukturelle Faktoren. Nach einem Rückgang um 0,3% im vergangenen Jahr wird das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr wohl nur stagnieren.“[2]
Auffällig ist bei der Angabe der Gründe, dass sich die deutsche Industrie im Hinblick auf die o.g. verbalen ehrgeizigen Klimaziele nicht gerade mit „Meriten“ behängen kann. So haben sich etwa 2 von drei der größten börsennotierten Unternehmen zur Reduzierung ihrer direkten und indirekten CO2-Emissionen verpflichtet. Doch über die Hälfte dieser Gruppe der Unternehmen hängt ihren selbst gesteckten Zielen hinterher.[3]
Im gleichen Atemzug werden die gestiegenen Energiekosten für die energieintensive Industrie, die in Deutschland einen großen Anteil hat, als eine große Beeinträchtigung der unternehmerischen Wirtschaftsleistung.
Hinzu kommt offenbar eine Nachfrageschwäche in nahezu allen Wirtschaftsbereichen, was zu einer unternehmerischen schwachen Investitionstätigkeit, zu Umsatz-Rückgängen und letztlich zu Geschäftsschließungen, Produktionsstilllegungen und -verlagerungen führt.
Die Konjunkturprognosen gehen zudem von einer anhaltenden Exportschwäche des deutschen Außenhandels aus, als Folge einer schwachen globalen Industriekonjunktur und rückläufiger Teilhabe an der verhaltenen Belebung des Welthandels.
Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße sich die noch realisierbaren Wirtschaftsbelebungs-Programme der sich auflösenden Ampel-Regierung einen Effekt für die Konjunktur durch staatliche Interventionen im kommenden Jahr konjunkturbelebend niederschlagen werden.
Reallohn-Entwicklung
In den gegenwärtigen Konjunktur-Prognosen spielen auch die Reallöhne insbesondere im Hinblick auf den privaten Konsum und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage eine wichtige Rolle.
In diesem Jahr laufen Tarifverträge für knapp zwölf Millionen Beschäftigte in wichtigen Branchen aus. Durch die starke Inflation in den vergangenen Jahren sind die realen Tariflöhne in Deutschland im Schnitt mittlerweile auf das Niveau von 2016 zurückgefallen, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung jüngst mitteilt.[4]
Die Inflationsrate wird nach den vorliegenden Prognosen weiter sinken, von durchschnittlich 5,9% im vergangenen Jahr auf 2,2% in 2024.
Die Reallohnentwicklung (Nominallohn minus Inflation) dürfte dennoch weit hinter den Vorhersagen von Gesamt 4,7% zurückbleiben. [5]
Steigende Reallöhne erhöhen die Kaufkraft der Lohn-Beschäftigten, eine grundlegende Voraussetzung für gesellschaftlichen Wohlstand der werteschaffenden Produktivkräfte. Lohnerhöhungen sind zur konjunkturellen Belebung für die Kompensation von Kaufkraftverlusten in den zurückliegenden Jahren unumgänglich. Dem folgenden Schaubild ist der angegebene Nachholbedarf durch die entstandenen Lücken an Lohnerhöhung der Vorjahre zu entnehmen.
Quelle: Destatis
Die aktuellen Tarifabschlüsse für Metall umfassen für das kommende Jahr eine Gehaltserhöhung von 2,0% und für das darauffolgende Jahr nochmals 3,1, %. Sie sind eine Kompromissformel, die wie zumeist von allen Seiten beschworen, der „schwierigen wirtschaftlichen Lage“ geschuldet ist. [6]
Von den noch im Herbst vergangenen Jahres dargestellten Prognosen einer Gehaltserhöhung von durchschnittlich 4,7% (siehe weiter oben) ist das Verhandlungsergebnis als ein Ausgleich für versäumte angemessene Lohnerhöhungen weit entfernt. Dadurch kommt das derzeit ungleiche Kräfteverhältnis beim Ankämpfen gegen den grundlegenden Konflikt innerhalb des Kapitalismus, des privaten Eigentums an Produktionsmitteln, vollends zum Ausdruck.
Gehaltsentwicklung Top-Manager - mehr als 2,0%
Dafür umso erfreulicher die Nachricht, wer immer es hören mag, dass Gehälter der Vorstände von Deutschlands großen Börsenunternehmen trotz der beschriebenen Konjunkturflaute auf ein Allzeithoch angestiegen sind.
So erhielten im Geschäftsjahr 2023 Vorstandsmitglieder der börsennotierten Konzerne im Durchschnitt elf Prozent mehr und erreichen eine Vergütung von 2,65 Mio. €
Zu den Einkünften hinzuzurechnen sind die Boni-Zahlungen, Die Angaben stammen aus der „Mixed Compensation Barometer“, eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Großkapital-Berater EY.[7]
Die Vergütungen von Vorstandschefs sind laut EY besonders kräftig um 16 Prozent auf im Durchschnitt gut 3,7 Millionen Euro gestiegen. Das durchschnittliche Gehalt eines DAX-Vorstandsvorsitzenden wird mit 5,7 Mio. € angegeben.
Als Hauptgrund werden dafür die hohen erzielten Gewinne der Unternehmen trotz der stagnierenden Gesamtentwicklung angegeben.
„Allerdings haben sich die DAX-Konzerne sehr heterogen entwickelt:
Einige Unternehmen hatten mit starkem Gegenwind zu kämpfen, andere haben hingegen hervorragende Ergebnisse abgeliefert – was sich dann auch in der Gehaltsentwicklung der Top-Manager widerspiegelt. Zudem muss eine schwache Entwicklung bei Umsatz, Gewinn- oder Aktienkurs nicht zwangsläufig zu Gehaltsrückgängen in der Vorstandsetage führen. Denn bei Unternehmen, die sich in einer Transformationsphase befinden, lassen sich temporäre Einbußen nicht vermeiden. Wenn ein Management in einer solchen Zeit bessere Ergebnisse als prognostiziert abliefert, kann dies auch zu einem Gehaltsplus führen.“[8]
Am 4. November hatte die Hans-Böckler-Stiftung dargelegt, dass es in der Bundesrepublik in den späten 90er und den frühen 2000er Jahren einen auch im internationalen Vergleich deutlichen Zuwachs der Einkommensungleichheit gegeben hatte. Nach einer Stagnationsphase setzte sich demnach die Umverteilung von unten nach oben seit 2010 wieder fort, die Armutsquote sei »spürbar« angestiegen auf 17,8 Prozent im Jahr 2021, d. h. vor der rasanten Inflation.[9]
Zuzustimmen ist der Aussage, dass das leitende Personal der großen Konzerne mit dazu beigetragen hat, die Einkommensungleichheit und die Zunahme von Armut zu vergrößern.
[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/herbstprojektion-2024-2261242
https://www.iwkoeln.de/studien/michael-groemling-iw-konjunkturprognose-herbst-2024.html
[2] https://www.ifo.de/fakten/2024-09-05/ifo-konjunkturprognose-herbst-2024-deutsche-wirtschaft-steckt-in-krise-fest
[3] https://www.telepolis.de/features/Dekarbonisierung-der-Industrie-in-Deutschland-kommt-kaum-voran-10024037.html
[4] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-reale-tarifloehne-auf-dem-niveau-von-2016-trotz-kaufkraftsicherung-2023-57220.htm
[5] ifo Schnelldienst, 12/2023
[6] https://www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/metall-und-elektro/tarifrunde-metall-und-elektro-2024
[7] https://www.ey.com/de_de/newsroom/2024/11/ey-mixed-compensation-barometer-2024
[8] Ebd:
[9] https://www.jungewelt.de/artikel/487794.rekordgeh%C3%A4lter-deutscher-manager-miese-leistung-lohnt-sich.html?sstr=GEh%C3%A4lter
Auf ultrarechtem Kurs
Die künftige Regierung der USA, des wichtigsten NATO-Verbündeten der Bundesrepublik, wird neben hart anti-chinesischen auch ultrarechte Minister umfassen. Marco Rubio, designierter Außenminister, behauptet, die Volksrepublik werde „alle Institutionen und alle Normen der Welt unterminieren“, um ihren machtpolitischen Ehrgeiz zu stillen. Pete Hegseth, designierter Verteidigungsminister, prahlt mit Tattoos, die Kreuzritterparolen wiedergeben und die in der äußersten Rechten verbreitet sind. Unter ihm könnte ein Gremium eingesetzt werden, das Säuberungen unter hochrangigen Offizieren vornimmt. Etwaige Widerstände im US-Senat gegen die Ernennung von Hegseth will Trump aushebeln und ihn, wie andere umstrittene Kandidaten auch, ohne die formal nötige Zustimmung ins Amt bringen. Während Washington hart nach rechts schwenkt, hat die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den USA in den vergangenen Jahren zugenommen – insbesondere aufgrund der Politik Berlins im Ukraine-Krieg. Selbst wenn sie wollte, wäre die Bundesregierung kaum in der Lage, sich künftigem Druck aus den Vereinigten Staaten zu widersetzen, zumal Deutschland ökonomisch sowie politisch in einer schweren Krise steckt.
Hart anti-chinesisch
Marco Rubio, der seit 2011 dem Senat angehört, gilt dort seit je als einer der maßgeblichen Scharfmacher gegen die Volksrepublik China. So trieb er beispielsweise die Verabschiedung von US-Gesetzen voran, die unter dem Vorwand, Maßnahmen der chinesischen Behörden in Hongkong oder Xinjiang bestrafen zu wollen, bereits während der ersten Amtszeit von US-Präsident Donald Trump Sanktionen gegen chinesische Politiker und Unternehmen einführten. Rubio war einer der ersten Aktivisten der Inter-Parliamentary Alliance on China (IPAC), eines globalen Netzwerks von Parlamentsabgeordneten aus zur Zeit ungefähr 40 Parlamenten, das antichinesische Gesetzesvorhaben auf sämtlichen Kontinenten koordiniert (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Der designierte US-Außenminister unterstellt Beijing unter anderem, „alle Institutionen und alle Normen der Welt unterminieren“ zu wollen, um seinen machtpolitischen Ehrgeiz zu stillen.[2] Rubio werde stärker als alle seine Amtsvorgänger gewillt sein, „chinabezogene Angelegenheiten anzugehen“, sagt etwa der Präsident der Jamestown Foundation, Peter Mattis, voraus.[3] Wegen seiner aggressiv gegen die Volksrepublik gerichteten Politik hat Beijing im Jahr 2020 Sanktionen gegen ihn verhängt, darunter ein Einreiseverbot.[4]
Kreuzritter-Parolen
Pete Hegseth, designierter US-Verteidigungsminister, ist ein Quereinsteiger, der bislang über keinerlei politische Erfahrung verfügt. Als Angehöriger der Minnesota National Guard war er in Afghanistan und im Irak im Einsatz; zudem betätigte er sich als Wachmann im US-Lager Guantanamo Bay, das als Symbol für gravierende Menschenrechtsverletzungen wie etwa Folter gilt.[5] Nach Abschluss seiner Militärkarriere arbeitete Hegseth als Moderator bei dem Rechtsaußensender Fox News. In einer Buchpublikation („Der Krieg gegen die Krieger“) hat er sich dafür ausgesprochen, in den Streitkräften „politisch korrekten Nonsens und soziale Gerechtigkeit“ zu beenden; zum Beispiel will er Frauen aus Kampfeinheiten ausschließen.[6] Unter seiner Führung im Ministerium könnte, so wird es in Trumps unmittelbarem Umfeld diskutiert, ein Gremium eingesetzt werden, das Säuberungen unter ranghohen Offizieren vornimmt.[7] Hegseth selbst prahlt mit Tattoos, die nicht nur Waffen, sondern auch Symbole und Parolen („Deus Vult“) der Kreuzritter wiedergeben. Der „Kreuzritter-Schlachtruf“ „Deus Vult“ werde, so heißt es, „von teils rechtsextremen Trump-Unterstützern genutzt“. Hegseth behauptet dazu: „Israel, das Christentum und mein Glaube sind Dinge, die mir sehr am Herzen liegen.“[8]
Ohne jede Kontrolle
Rubio kann voraussichtlich mit einer umstandslosen Bestätigung durch den Senat rechnen, die in den Vereinigten Staaten erforderlich ist. Im Senat haben die Republikaner seit der Wahl mit 53 von 100 Senatoren eine klare Mehrheit. Gegen Hegseths Bestätigung allerdings gibt es Berichten zufolge sogar unter republikanischen Senatoren Widerspruch. Um ihn auszuhebeln, verlangt Trump, der Mehrheitsführer im Senat müsse bereit sein, ein Vorgehen zuzulassen, bei dem der Präsident während einer Sitzungspause des Senats Personalien ohne dessen Zustimmung durchwinken kann. John Thune, Senator aus South Dakota, der inzwischen zum Mehrheitsführer gewählt worden ist, hat Trump vorab zugesagt, diese Forderung zu erfüllen. Damit können sogar Ministerposten für bis zu zwei Jahre ohne die eigentlich erforderliche Zustimmung der Parlamentskammer ernannt werden.[9] Es entfällt also faktisch jede Kontrollmöglichkeit.
Abhängig von den USA
Der rabiate Rechtskurs und die antichinesische Zuspitzung der US-Politik vollziehen sich in einer Zeit, in der sich die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den Vereinigten Staaten stark ausgeweitet hat. Der Ukraine-Krieg hat die Bedeutung der NATO, in der die USA klar den Ton angeben, für Deutschland und Europa erheblich erhöht. Das Bestreben, möglichst schnell aufzurüsten, führt dazu, dass Berlin wieder mehr US-Rüstungsgüter kauft; ein Beispiel ist die Beschaffung von US-Kampfjets des Modells F-35, die beschlossen wurde, weil das deutsch-französische Luftkampfsystem FCAS (Future Combat Air System) frühestens in 20 Jahren einsatzbereit ist.[10] Der Versuch, gänzlich aus dem Bezug russischen Erdgases auszusteigen, hat die Abhängigkeit von US-Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) spürbar intensiviert; der Anteil der US-Lieferungen an der LNG-Einfuhr der EU und Großbritanniens zusammen näherte sich im vergangenen Jahr laut Statistiken der US-amerikanischen Energy Information Administration (eia) 50 Prozent.[11] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angeboten, den Anteil von US-LNG – und damit auch die Abhängigkeit der EU von der Trump-Administration – weiter zu erhöhen.[12] Indem Berlin und Brüssel nun auch noch den Konflikt mit China eskalieren, bringen sie sich in eine noch stärkere Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten.
In einer Phase der Schwäche
Zur vergleichsweise leichten Beute für Washington werden Deutschland und die EU dabei auch, weil sie zur Zeit in einer Phase eklatanter Schwäche stecken. Die deutsche Wirtschaft, die 2023 um 0,3 Prozent schrumpfte, wird 2024 laut Prognose des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erneut zurückgehen – wohl um 0,1 Prozent.[13] Seine Vorhersage für das nächste Jahr hat der Sachverständigenrat soeben von einem Plus von 0,9 Prozent auf ein Plus von 0,4 Prozent gesenkt. Die EU wiederum, die 2023 ein Wachstum von gerade einmal 0,4 Prozent erreichte, steigerte ihre Wirtschaftsleistung im ersten und im zweiten Quartal 2024 jeweils um magere 0,3 Prozent. Im Innern ist sie zerstrittener denn je; das drückt sich gegenwärtig unter anderem darin aus, dass es der EU-Kommissionspräsidentin offenbar nicht gelingt, die neue Kommission wie geplant Anfang Dezember ins Amt zu bringen.[14] Deutschland wiederum, die Zentralmacht der EU, steckt seinerseits in einer schweren politischem Krise; die Regierungskoalition ist zerbrochen, jetzt stehen Neuwahlen bevor. Zusätzlich muss die Bundesrepublik damit rechnen, wegen neuer Strafzölle der Trump-Administration gravierende Schäden zu erleiden – german-foreign-policy.com berichtete [15]. Die Chancen, erfolgreich Widerstand zu leisten, wären – selbst wenn die Bundesregierung dazu bereit wäre – aufgrund der steigenden Abhängigkeit gering.
[1] S. dazu Der grüne Kalte Krieg
und Drahtzieher gegen China
[2], [3] Micah McCartney: Marco Rubio: Five Times He Spoke Out on China. newsweek.com 12.11.2024.
[4] China sanctions 11 US politicians, heads of organizations. apnews.com 10.08.2020.
[5] Julian Borger: Pentagon stunned after Trump picks Pete Hegseth for defence secretary. theguardian.com 13.11.2024.
[6] Sofia Dreisbach: Ohne politische Erfahrung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.11.2024.
[7] Vivian Salama, Nancy A. Youssef, Lara Seligman: Trump Draft Executive Order Would Create Board to Purge Generals
[8] René Garzke: Waffen, Krieg, Kreuzritter: Die Protz-Tattoos von Trumps Armee-Chef. bild.de 14.11.2024.
[9] Sofia Dreisbach: Aggressiv vorwärts. Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.11.2024.
[10] S. dazu Streit um das Luftkampfsystem
[11] The United States remained the largest liquefied natural gas supplier to Europe in 2023. eia.gov 29.02.2024.
[12] Jamie Smyth, Myles McCormick, Shotaro Tani: LNG exports could provide crucial bargaining chip in US-EU trade talks. ft.com 12.11.2024.
[13] Wirtschaftsweise halbieren Wachstumsprognose. tagesschau.de 13.11.2024.
[14] Josef Kelnberger: Ursula von der Leyen im Wartestand. sueddeutsche.de 14.11.2024.
[15] S. dazu Die transatlantische Rivalitaet
"100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich"
Die zitierte Ausgangsthese ist, passend zur Weltklimakonferenz COP29, den Ausführungen von Simon Schaupp aus "Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten" entnommen. *)
Am 11. November d. J. begann die UN-Weltklimakonferenz in Baku (Aserbaidschan) und die über 30.000 Teilnehmenden sehen sich zum Start mit einer Reihe von Hiobsbotschaften konfrontiert: Das aktuelle Jahr wird dem EU-Klimawandeldienst Copernicus zufolge so gut wie sicher das erste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn werden, in dem es im Durchschnitt mehr als 1,5 Grad wärmer als im vorindustriellen Mittel war. Auf der Weltklimakonferenz 2015 in Paris hatten die Staaten weltweit vereinbart, die Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad.
Der jährliche Klimagipfel der Vereinten Nationen hat in Aserbaidschan begonnen. Zentrales Thema wird die Finanzierung der Kosten für Klimaschutz sein, aber auch für Schäden durch Extremwetter im Globalen Süden, nachdem ein Jahr voller Wetterkatastrophen die Entwicklungsländer in ihren Forderungen nach mehr Mitteln bestärkt hat. Ein von den Vereinten Nationen unterstützter Bericht besagt, dass Schwellenländer, mit Ausnahme von China, bis 2030 Investitionen von weit über 2 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigen, wenn die Welt die globale Erwärmung stoppen will.
In seiner Eröffnungsrede sagte der UN-Klimachef Simon Stiell, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt zeigen müssen, dass die globale Zusammenarbeit "nicht am Ende ist".
"Hier in Baku müssen wir uns auf ein neues globales Klimafinanzierungsziel einigen. Wenn mindestens zwei Drittel der Nationen der Welt es sich nicht leisten können, ihre Emissionen schnell zu senken, dann zahlt jede Nation einen hohen Preis", warnte er.
Stiell forderte außerdem ein "ehrgeiziges" neues Ziel für die Bereitstellung von Klimafinanzierung für die ärmeren Nationen der Welt und sagte: "Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass Klimafinanzierung Wohltätigkeit ist."
Doch wichtige Spitzenpolitiker:innen aus Europa, den USA und der Welt nehmen diesmal gar nicht teil.
Neben Bundeskanzler Olaf Scholz, Präsident Macron und der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, fehlen auch andere wichtige Vertreter:innen. Joe Biden reist nach dem Wahlsieg Trumps nicht zur Klimakonferenz. Ursula von der Leyen nimmt wegen der Übergangsphase der EU-Kommission und ihrer Vorbereitung auf die zweite Amtszeit nicht teil. Emmanuel Macron bleibt dem Gipfel aufgrund der angespannten Beziehungen zu Aserbaidschan fern, das den Gipfel ausrichtet. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Aserbaidschan sind angespannt, seit Paris im vergangenen Jahr die militärischen Angriffe Aserbaidschans gegen armenische Separatisten in der abtrünnigen Region Karabach verurteilte. Beim kanadischen Premierminister Justin Trudeau wurden keine offiziellen Gründe für seine Abwesenheit bekanntgegeben.
Neben Spitzenpolitiker:innen aus Europa und den USA, fehlen u.a. Narendra Modi, Premierminister in Indien sowie Brasiliens Präsident da Silva. Im vergangenen Jahr bei der Weltklimakonferenz in Dubai hatten sie alle noch teilgenommen.
Keine gute Ausgangslage für die wichtige Konferenz, obwohl zentrale Beschlüsse gefasst werden müssten.
Ursache ist nach Angaben der Weltmeteorologieorganisation (WMO), dass die Konzentration klimaschädlicher Treibhausgase in der Erdatmosphäre einen neuen Rekordstand erreicht hat.
Allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahm die CO₂-Konzentration um mehr als zehn Prozent zu. Die fortschreitende Erderwärmung geht laut WMO zu 64 Prozent auf den Ausstoß von Kohlendioxid zurück; aber auch Methan und Stickstoffoxid sind bedeutende Treibhausgase. [1]
Die Folgen sind immer mehr spürbar: Taifune und Hurricane wie jetzt um die Philippinen und um Kuba/USA herum bilden sich in immer kürzeren Zeitspannen in den subtropischen Meeren. Und auch die Menschen in Spanien mussten vor wenigen Wochen hautnah am eigenen Leib erleben, was Klimawandel bedeutet: Sturmtief "Boris" verursachte die stärksten Niederschläge, die jemals in Mitteleuropa gemessen wurden; es folgten die durch anhaltende Regenfälle verursachten Überschwemmungen in der Gegend von Málaga bis Valencia mit etwa 250 Toten.
Um 43 Prozent müssten die Treibhausgasemissionen bis 2030 zurückgehen, wenn die globale Erwärmung auf ein gerade noch vertretbares Maß beschränkt werden soll, hat der IPCC, der Weltklimarat, vorgerechnet. Doch die von den Regierungen versprochenen Maßnahmen werden bis 2030 bestenfalls zu einer Reduktion um 2,6 Prozent führen, so die ernüchternde UN-Analyse.
Viele Konferenzen und Publikationen – wenig greifbare Erfolge
Dabei mangelt es nicht an internationalen Klima- und Naturschutzkonferenzen: Vor der 29. UN- Weltklimakonferenz in Baku, fand Anfang November in Cali (Kolumbien) die Weltnaturkonferenz mit rund 23.000 Teilnehmer:innen (und wenigen greifbaren Ergebnissen) statt. Ende November wird in Busan (Südkorea) über ein globales Plastikabkommen konferiert und Anfang Dezember wird Saudi-Arabien Gastgeber der UN-Wüstenkonferenz sein.
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Es wir also viel verhandelt und konferiert, um den Klimawandel, den Rückgang der biologischen Vielfalt und die Umweltverschmutzung einzudämmen. Daneben gibt es eine unübersehbare Fülle an Veröffentlichungen und Büchern, die faktenbasiert Ursachen und Auswege aus der Klimakatastrophe aufzeigen.
Insgesamt verfestigt sich der Eindruck, dass sich die Debatten um das Thema Klimawandel in einer Sackgasse befinden – trotz jahrelanger "Fridays-For-Future"-Aktivitäten und Aktionen der "Letzten Generation".
Das belegen z. B. auch Zahlen der aktuellen Shell-Jugendstudie. Danach ist die Sorge vor Umweltverschmutzung im Vergleich zu 2019 von 71 Prozent auf 64 Prozent zurückgegangen und rangiert hinter Ängsten vor einem Krieg in Europa (81 Prozent) und Angst vor Armut (67 Prozent).[2]
Redaktionelle Anmerkung zu einer folgenden Buchbesprechung:
Simon Schaupp. Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten
Üblicherweise nimmt die isw-Redaktion keine Buchbesprechungen vor.
In Anbetracht des sich abzeichnenden Klimawandels und der Dringlichkeit des internationalen Handelns halten wir es für angebracht, die Ausführungen von Günther Stamer zu dem Werk zu veröffentlichen.
Trotz der ernüchternden Vorbemerkung ist ein Buch empfehlen, dessen Autor die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, dass der Planet Erde eine Zukunft hat.
Der Untertitel unter dem etwas sperrigen Headliner "Stoffwechselpolitik" lautet "Arbeit, Natur und Zukunft des Planeten." Dass dabei "Arbeit" als erster Begriff genannt wird, ist durchaus programmatisch. Zwar haben schon zahllose Autor:innen festgestellt, dass in dem kapitalistischen Wachstumsimperativ und der damit einhergehenden immer umfassenderen Ausbeutung der Natur, die strukturelle Ursache der ökologischen Krise liegt. Der Fokus war in den meisten Fällen dabei auf den Konsumtionsbereich gerichtet; Stichwort: "Imperiale Lebensweise".
Der Soziologe Simon Schaupp möchte mit seinem Buch in gewisser Weise einen Perspektivwechsel initiieren. Schaupp, der "Oberassistent" am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel ist, hat sich bisher vor allem kritisch mit Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Dem bleibt er auch in seinem aktuellen Buch treu. Mit Karl Marx, für den Arbeit der "gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur" war, setzt Schaupp Arbeit und Natur ins Verhältnis miteinander und nimmt so eine wichtige Verschiebung in der Betrachtung der ökologischen Krise vor.
So rutscht bei ihm der Konsum, der sonst meist vorrangig die Klima-Debatte dominiert, weitgehend aus dem Blick. Wie wichtig diese Verschiebung seiner Meinung nach ist, zeigt er gleich zu Beginn des Buchs: Der Großteil des Treibhausgas Ausstoßes stammt nämlich von Unternehmen, nicht Privathaushalten: "100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich." Da liegt also das Problem.
"Wer die ökologische Krise verstehen will, muss die Arbeitswelt verstehen"
"Wenn Arbeit der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dann bedeutet eine sozialökologische Transformation notwendigerweise eine Transformation der Arbeitswelt."
Die Ausgangsthese seines Buches lautet: Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen. Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus. "Wenn Arbeit der Ort des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur ist, dann bedeutet eine sozialökologische Transformation notwendigerweise eine Transformation der Arbeitswelt."
Der Autor arbeitet an historischen Beispielen der kapitalistischen Produktion die Wechselwirkung von Natur- und Arbeitsverhältnissen theoretisch ambitioniert (mit Marx) und empirisch reichhaltig unterfüttert, heraus. Er spricht von einem "Stoffwechsel" zwischen Natur und Gesellschaft, die in einer widersprüchlichen Einheit und Getrenntheit zueinander stehen. Das Trennende verschärft sich in der kapitalistischen Produktionsweise immer weiter. Das liegt daran, "dass im Zuge der Kapitalakkumulation ökologische Kreisläufe durch Akkumulationsprozesse ersetzt werden. Marx veranschaulicht dies am Beispiel der kapitalistischen Landwirtschaft, die Agrarprodukte kontinuierlich vom Land in die Stadt transferiert. In der Folge stehen die Abfälle nicht mehr vor Ort als Dünger zur Verfügung, sondern sie belasten in den Städten in Form von Müll die Umwelt. Auf diese Weise entsteht ein immer breiter werdender 'Riss' im Stoffwechsel mit der Natur."
Die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion ist eine der zentralen Konfliktlinien in der Debatte um die ökologische Krise, bei der die Rolle der "Produktivkräfte" im Mittelpunkt steht. Mit Marx versteht er darunter neben den Produktionsmitteln und der Gesamtheit des menschlichen Arbeitspotenzials auch das gesellschaftliche Wissen sowie Formen der Arbeitskooperationen (MEW 4, Seite 130).
"Deshalb entwickle ich in diesem Buch das vermittelnde Konzept der Re/produktivkräfte, bei dem Produktion und Reproduktion zusammengedacht werden."
Dieses Konzept der Re/produktivkräfte demonstriert der Autor dann im folgenden an ausgewählten Feldern der kapitalistischen Expansionsdynamik, die sich in einer immer weiter ausgreifenden und zunehmend intensiveren Nutzbarmachung von Arbeit und Natur darstellt.
Dabei betont der Autor die Relevanz von Wissen um Naturprozesse in Arbeitskonflikten und - kämpfen sehr plastisch: Angefangen von den Sklav:innen-Aufständen in der Karibik über die Chicagoer Schlachtfabriken bis hin in die Gegenwart der Kämpfe der Automobil- und Bauarbeiter:innen.
An den Wiegen des industriellen Kapitalismus
Am umfangreichsten und gerät ihm dabei im 2. Kapitel die Beschreibung der Wurzeln des industriellen Kapitalismus. Überraschend ist dabei, dass der Autor dies nicht am Beispiel Englands aufarbeitet sondern an dem Schimmelmann-Imperium. Dieses umfasste Ende des 18./Anfang des 19 Jahrhunderts ausgedehnte Ländereien Rum-, Gewehr- und Baumwollmanufakturen in Schleswig-Holstein und Dänemark. An der westafrikanischen Goldküste waren sie als Großaktionäre am Sklavenhandel beteiligt und verschifften dort "ihre Afrikaner:innen" insbesondere auf ihre Plantagen auf den Jungferninseln in der Karibik. Die dort angebaute Baumwolle und der Zucker gingen dann an ihre nordeuropäischem Fabriken.
"In diesem Sinne ist die kapitalistische Weltwirtschaft schon immer eine Art Puzzle gewesen, eine Aneinanderreihung von Zonen, die miteinander auf verschiedenen Ebenen verbunden sind."
Ausführlich und anschaulich beschreibt der Autor in diesem 50seitigen Kapitel das Schimmelmannsche Geschäftsmodell von Handel, Sklavenarbeit und "freier Lohnarbeit" ehe es von dem fossilen Zeitalter mit ihren großen Fabriken (Webereien) und Bergwerken abgelöst wurde.
Die Geburtsstunde der modernen Arbeitswelt des fossilen Zeitalters markieren nach Schaupp die Schlachthöfe von Chicago, wo in Gestalt von Eisenbahn und Fließband qualitativ neue technische und ökonomische Entwicklungen zusammenfließenden. Die Industrialisierung zieht hier ihre Kostenvorteile vor allem aus Skaleneffekten, d.h. aus der Abhängigkeit der Produktionsmenge pro Zeitspanne von der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren. Sobald sich totes Fleisch in den Schlachthöfen anhäufte stieg mit der Gefahr der Verwesung und damit drohende ökonomische Verluste. Die Fleischindustrie stand somit stärker als andere Branchen unter dem Druck, die Produktionsgeschwindigkeit zu erhöhen. Zentrales Instrument der Beschleunigung war dabei das Fließband.
Autofabriken und der "fossile Klassenkompromiss"
Von Mitte der 50er bis Mitte der70er Jahre vollzog sich eine weitere grundlegende Veränderung in der materiellen Produktion – das Erdöl löste die Kohle als "Treibstoff" der Wirtschaft endgültig ab. Hatte Westeuropa seinen Bedarf in der Energieversorgung bisher noch zu 75 Prozent aus Kohle und 23 Prozent aus Öl gedeckt, entfielen 1972 nur noch 23 Prozent auf Kohle, während der Anteil des Öls auf 60 Prozent angestiegen war.
Während sich der Preis der Kohle im Gleichschritt mit der allgemeinen Konjunktur entwickelt hatte, war Öl derart billig, dass Energieverschwendung gang und gäbe wurde.
"Erst dadurch wurde jenes exponentielle Wirtschaftswachstum möglich, das wir heute mit einem funktionierenden Kapitalismus identifizieren. Auf dieser Basis konnten zudem die Konflikte in der Arbeitswelt entschärft werden, waren die Unternehmer doch in der Lage, hohen Profit zu erwirtschaften und gleichzeitig relativ hohe Löhne zu zahlen. Der auf Massenkonsum ausgerichtete fossile Klassenkompromiss materialisierte sich im Automobil."
Der Autor prophezeit, dass dieser Klassenkompromiss angesichts der staatlichen Maßnahmen, die den Klimawandel eindämmen sollen und typischerweise vor allem die lohnabhängige Klasse und die Bauern finanziell trifft, zunehmend erodiert (die französischen Gelbwesten sind hier ein spektakuläres Beispiel).
Er weist nach, dass die modernen Arbeitskämpfe immer mehr mit der ökologischen Krise zusammen gedacht werden müssen. Ein zarter Ansatz, den Schaupp erwähnt, sind die gemeinsamen Streiks der ÖPNV Beschäftigten mit der Klimabewegung "Fridays for Future", die aktuell gemeinsam sowohl für verbesserte Arbeitsbedingungen als auch den Ausbau des Nahverkehrs auf die Straße gehen.
Gegen eine "Expansion in die Nutzlosigkeit"
"Die Relevanz einer proletarischen Umweltpolitik resultiert daraus, dass es die Arbeitenden sind, die den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Das heißt einerseits, dass sie als Erste von ökologischen Risiken betroffen sind. Andererseits ergibt sich aus der zentralen Stellung der Arbeitenden auch ein besonderer Machthebel. Denn wenn sie den Betrieb einstellen, kommt der gesellschaftliche Stoffwechsel sofort zum Erliegen."
Dabei weist er darauf hin, dass in Deutschland 64 Prozent der gesamten gesellschaftlichen Arbeitszeit auf sogenannte "Care-Tätigkeiten" entfallen wie Erziehung und Pflege. Davon wiederum werden allerdings nur 12 Prozent in Form von Erwerbsarbeit und die restlichen 88 Prozent unentgeltlich in den Haushalten geleistet.
Bei der kapitalistischen Nutzbarmachung handelt es sich um eine "Vernutzung": Die Natur und die Arbeitskörper werden ausgeplündert. Besonders dramatische Folgen in Bezug auf die Umwelt hat dies im Fall fossiler Energieträger, die verbrannt werden, um "die Wirtschaft" anzutreiben – was zu einer Steigerung der CO2-Emissionen führt. Neben der Chemie- und Automobilindustrie ist insbesondere auch die Baubranche eine der zentralen Verursacherinnen der ökologischen Krise. Als Beispiel führt der Autor die Schweizer Holcim AG an, den zweitgrößten Zementhersteller der Welt, der 2.300 Fabriken in 70 Ländern betreibt und zu den weltweit größten CO2-Verursachern gehört.
"Das Problem ist: Die vorherrschende Umweltpolitik setzt auf die Einschränkung des Konsums. Sogenannte Austeritätspolitiken zielen auf höhere Preise, was dazu führt, dass sich nur noch Reiche umweltschädliches Verhalten leisten können. Ärmere Leute bezahlen hingegen die Kosten der Krise. Aber tatsächlich gibt es objektive Grenzen der Naturbelastung. Deshalb brauchen wir eine politische Vision, die diese Grenzen anerkennt.
Wie könnte diese aussehen?
Arbeitszeitverkürzung scheint mir eine zentrale Forderung zu sein, weil sie die zweifellos notwendige Reduktion des Gesamtproduktionsvolumens mit Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit vereinbar macht. Es geht darum, weniger Lebenszeit zu verkaufen, weniger Bullshit-Jobs zu machen, stattdessen mehr ökologisch verträgliche Tätigkeiten auszuüben."[3]
Gedanken nach Lesen des Buches
Projekte wie der "Green Deal", die den Kapitalismus ökologisch modernisieren sollen, führen in eine Sackgasse und verschärfen die soziale Ungleichheit, weil sie die Transformationskosten auf die lohnabhängig Beschäftigten und von Armut betroffenen Menschen abwälzen.
Da ökonomisches Wachstum notwendigerweise einen höheren Ressourcenverbrauch und damit eine Zerstörung der Umwelt erfordert, die nach Marx zu "einem Riss" im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur führt, stellt sich also die Frage wie Umgehen mit "Wachstum". Wenn in Schaupps Buch das Wort "Degrowth" auch nicht vorkommt, laufen seine Schlussfolgerungen letztlich aber in Richtung einer "Nullwachstums-Strategie" ohne dass er eine grundsätzliche gesellschaftliche Perspektive formuliert. Das unterscheidet ihn z. B. von Kohei Saito, der einem nebulösen "Degrowth-Kommunismus" das Wort redet.[4]
Schaupp und Saito führen insbesondere den "späten Marx" für ihre Argumentation ins Feld. 1868 exzerpierte Marx mehrere Bücher von Carl Fraas. Dessen umwelthistorische Studien zu den antiken Klassengesellschaften Mesopotamiens, Ägyptens und Griechenlands waren von der These geleitet, dass diese Zivilisationen aufgrund von ökologischen Krisen kollabierten, insbesondere durch Raubbau an den Böden und die flächendeckende Rodung von Wäldern. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass gesellschaftliche Landnutzungsänderungen zu lokalem Klimawandel führten, der sich wiederum durch Ernteausfälle und in sozialen Unruhen niedergeschlagen habe.
Wie eine neue postkapitalistische Gesellschaft aussehen, geschweige denn wie der Weg dahin aussehen könnte, ist eine große Lehrstelle in allen Kapitalismus-kritischen Klima-Veröffentlichungen. Das ist bei Saito so und Schaupp verzichtet gleich ganz darauf.
Etwa zur gleichen Zeit, als Marx sich mit den umwelthistorischen Studien beschäftigte, schrieb auch seine "Kritik des Gothaer Programms" (1875)[5]. Darin skizziert er den Übergang in eine kommunistische Gesellschaft als langwierigen, in zwei qualitativ verschiedene Phasen gegliederten Prozess und betont dabei die notwendige Unvollkommenheit der ersten Phase, "wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Da die neue Gesellschaft "aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen" sein wird, ist auch das Problem der Produktivkräfte als ein langwieriger Prozess der Umformung zu erwarten.
Seit diesen vor 150 Jahren Geschriebenem ist allerdings das Zeitfenster erheblich kleiner geworden, um das Überleben des Planeten und ihrer Bewohner:innen zu sichern. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Viele Augen richten sich gegenwärtig auf China mit der Hoffnung, dass man sich dort auf den Weg macht, die Produktivkräfte nachhaltig in den Dienst der Menschen und der Natur zu stellen.
Anmerkungen
*) Siehe die redaktionelle Anmerkung zur Buchbesprechung
[1] https://wmo.int/media/news/greenhouse-gas-concentrations-surge-again-new-record
[2] https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study-2024/information
[3] Simon Schaupp im Interview mit Guido Speckmann, AK 16.4.24
[4} Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt, meint der japanische marxistische Philosoph Kohei Saito.
www.kommunisten.de: "Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt, meint der japanische marxistische Philosoph Kohei Saito"
[5] MEW 19, Seite 13-32
Zur Buchbesprechung
Simon Schaupp
Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten.
Suhrkamp, Berlin 2024,
419 Seiten, 24 Euro
Ein bisschen Populismus und Faschismus retten nicht die Demokratie
Was kann also die deutsche Politik daraus lernen?
Deutschland feiert 35 Jahre Mauerfall, und die Welt steht kopf.
In Europa ist Krieg, die Ampelregierung ist am Ende und Donald Trump wird (wieder) Präsident der USA. Ein verurteilter Straftäter, Populist und Faschist als politischer Führer der größten westlichen Demokratie. Wer hätte 1989 davon zu träumen gewagt?
Mit Trumps Amtsantritt wird sich vieles ändern – die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die Stabilität Europas und unser aller ökologische Zukunft.
Analysten in Deutschland suchen jetzt nach Antworten auf die Frage, wie es so weit kommen konnte.
Die einen meinen, Trump verstehe die Amerikaner besser.
Die anderen sagen, er zeige den politischen Eliten Amerikas, wie das Volk wirklich ticke.
Wir alle, so ein Fazit, könnten von Trump einiges lernen.
Hier sind drei Gründe, warum das nicht stimmt:
Erstens wählten nicht „die Amerikaner“ Trump, sondern rund 74 Millionen Menschen.
Das sind viele, aber rund 70 Millionen wählten die Gegenkandidatin Kamala Harris.
In einem Land mit rund 335 Millionen Einwohnern wählten viele auch gar nicht – beispielsweise die Einwohner von Puerto Rico oder Guam. Diese sogenannten Territorien gehören zu den USA, aber ihre Bürger haben kein Wahlrecht. Auch rund vier Millionen ehemalige Straftäter wählten nicht.
Denn obwohl ein vorbestrafter US-Präsident kein Problem ist, dürfen Vorbestrafte in vielen Bundesstaaten nicht wählen, vor allem Afroamerikaner sind betroffen.
Das heißt, nicht alle Amerikaner haben eine Stimme.
Zweitens versteht Trump die Amerikaner nicht besser als andere; er schafft nur bessere Informationsblasen. In diesen Blasen wird jede Kritik an Trump zu politisch motivierten Fake News. Selbst seine Verbrechen – wie die Verschleierung von Schweigegeld – werden zu Akten der Revolution. Während viele Medien also kritisch über Trumps Straftaten berichten, feiern ihn rechtskonservative Medien als „Freiheitskämpfer“ und „Rebell“.
Für erzkonservative Megakirchen ist er der Retter der freien Welt.
Solche Informationsblasen sind Kern politischer Kommunikation in den USA und ein wichtiger Teil von Trumps Erfolg.
Kommt dann, drittens, noch Inflation, wachsende Armut und das Gefühl politischer Alternativlosigkeit hinzu, profitiert Trump.
Seine Stärke ist weniger die eigene als das Versagen seiner Gegner.
Ähnliches gilt wohl auch für die AfD.
„Wir werden gegen die Medien vorgehen.“
Jetzt ist die Frage, was die Zukunft bringt. Seit Jahren schürt Trump Hass gegen alle, die ihn kritisieren, beispielsweise Journalisten. Er nennt sie „Feinde des Volkes“, bezichtigt sie der Lüge. Laut der britischen Zeitung Guardian erklärte Kash Patel, ein möglicher Trump-Kandidat für das Amt des FBI-Direktors: „Wir werden gegen die Medien vorgehen.“ Das Konzept „Projekt 2025“ für Trumps zweite Amtszeit sieht zum Beispiel die leichtere Beschlagnahmung von E-Mails und Telefonaufzeichnungen von Journalisten vor. Im Klartext heißt das: Bye, bye Pressefreiheit! Auch in Deutschland werden wir die Folgen spüren.
Nein, wir können von Donald Trump nicht lernen, sein Erfolg gibt ihm nicht recht.
Denn ein bisschen Populismus und Faschismus retten nicht die Demokratie.
Im Gegenteil, wir brauchen kritisch kühle Köpfe, vor allem im Journalismus. Nur sie können Informationsblasen platzen lassen, auch die unserer Politiker. Sonst geht die Welt vor die Hunde und wir sehen im Liveticker dabei zu.
Erstveröffentlichung: Berliner Zeitung
Chips: US-Sanktionen haben Chinas Aufholjagd beschleunigt
Warum die Zukunft der Halbleiterindustrie weiter in Asien und in China liegt
Unter Kritikern der US-Sanktionspolitik gegen China kursiert der o.g. sarkastische Satz, dass China dann erfolgreich agieren wird, wenn man ihm den Zugang zu diesen Industrien verwehrt.
Im Fall der Halbleiterindustrie scheint sich dieses Muster zu wiederholen.
Noch vor 10 Jahren galt der westliche und insbesondere der US-Vorsprung bei Halbleitern als uneinholbar.
Dieser technologische Vorsprung ist inzwischen drastisch geschrumpft.
Bislang haben die Technologie-Sanktionen, die die US-Regierung schon seit der ersten Trump-Präsidentschaft gegen China und einzelne chinesische Firmen verhängt hat, nicht gewirkt. Nach fast 6 Jahren US-Sanktionen hat China durch vervielfachten Einsatz von Ressourcen große Fortschritte gemacht.
In vielen Zukunftstechnologien und auch in der Halbleiterindustrie, wo China weit zurück lag, ist das Land von westlichen und speziell von US-Inputs zunehmend unabhängig und autark.
Natürlich waren und sind die US-Sanktionen auch ein Treiber für erfolgreiche Umgehungsstrategien von westlichen Konzernen, Zwischenhändlern und chinesischen Abnehmern.
Denn China ist nicht irgendein Kunde, sondern der weltgrößte Absatzmarkt für Halbleiter, Vorprodukte etc. und für Maschinen zur Chipproduktion.
Diesen Riesenmarkt gibt kein kapitalistisches Unternehmen nur wegen politischer Bauchschmerzen freiwillig auf. Aber vor allem hat China in der Halbleiterindustrie technologische Durchbrüche erzielt, wie Berichte aus den einschlägigen deutschsprachigen und angelsächsischen Technologiemedien belegen.
Auch China kann ultrafeine Chips produzieren
Im Zentrum von Chinas technologischer Aufholjagd steht der Konzern Huawei. Seit Beginn der US-Exportkontrollen 2018, die das lukrative Smartphone-Geschäft von Huawei zerstört haben, hat das Unternehmen mehr als je zuvor in Forschung und Entwicklung investiert, im Jahr 2021 über 22% vom Umsatz.
Nach Angaben der EU ist Huawei heute das innovativste chinesische Unternehmen. Kurzfristige Profite zählen dabei weniger als die langfristige Profitabilität und die Unterstützung auch durch die chinesischen Regierungsebenen.
In einer Untersuchung für die US-Regierung kommen Spezialisten aus der Halbleiterindustrie zum Ergebnis, dass um Huawei inzwischen ein Zentrum der Chipentwicklung und -produktion in China entstanden ist:
“Das Ausmaß und die Geschwindigkeit sind enorm: wir schätzen, dass das Produktionsnetzwerk von Huawei im Jahr 2024 7,3 Mrd. Dollar für ausländische Anlagen zur Chipproduktion ausgeben wird, der viertgrößte Einkäufer in der Welt. Wenn man noch (die Auftragsfertiger) SMIC und CXMT einbezieht, die beide eng mit Huawei zusammenarbeiten, sind das die zweitgrößten Käufer von Anlagen in der Welt, direkt hinter TSMC und weit vor amerikanischen Firmen.
Über die Hälfte dieser Anlagen kommt gegenwärtig von US-Firmen.”
(im Netz unter: https://semianalysis.com/2024/10/28/fab-whack-a-mole-chinese-companies
In diesem Jahr hat Huawei zusammen mit dem Shanghaier Chip-Auftragsfertiger SMIC ein neuartiges Lithografie-Verfahren zur Produktion von ultrafeinen 5- und 3-Nanometer-Chips patentiert. Bislang konnte China solche ultrafeinen Chips nicht produzieren. Nur das taiwanesische Unternehmen TSMC und Samsung aus Südkorea sind da weiter. Sie fertigen inzwischen sogar 2nm-Chips.
Die Maschinenbau-Technologien für die Produktion von Halbleitern sind hoch komplex: Im Zentrum stehen lithographische Verfahren, mit denen winzigste Leiterbahnen auf die Oberfläche einer Waferscheibe geätzt werden. Aus der Waferscheibe im Format einer Pizza werden später die Chips ausgeschnitten. Je winziger die Leiterbahnen auf einem Chip - gemessen in Nanometern (1 Nanometer = ein millionstel Millimeter) - sind, desto mehr Halbleiter können auf einen Chip integriert werden. Umso geringer ist auch die Leistungsaufnahme, der Energieverbrauch. Auch SiCarrier, ein chinesischer Hersteller von Maschinen für die Chipproduktion und ebenfalls Partner von Huawei, hat 2024 ein neues Lithografie-Verfahren patentieren lassen.
Westliche Experten hatten nicht damit gerechnet, dass mit Belichtungsmaschinen einer älteren Technologie (DUV), die bislang nicht unter die US-Sanktionen fällt, Halbleiter mit 5nm- oder 3nm-Leiterbahnen produziert werden können. Denn "state-of-art" sind sogenannte EUV-Maschinen des Monopolisten ASML aus den Niederlanden mit Optiken von Zeiss und mit Lasern von Trumpf zum Stückpreis von weit über 150 Mio Euro.
Aber aufgrund der US-Sanktionen, den sich die EU angeschlossen hat, dürfen diese Anlagen nicht nach China geliefert werden.
Für Huawei und die Partnerfirmen ist dieser technologische Durchbruch, mit älteren Generationen von Maschinen und Anlagen trotzdem ultrafeine Chips zu produzieren, entscheidend - trotz der damit verbundenen höheren Stückkosten.
In der chinesischen Halbleiterindustrie wird geschätzt, dass SMIC vergleichbare Prozessoren um 40 bis 50% teurer produziert als der Markt- und Technologieführer TSMC aus Taiwan. Aber Huawei kann auf diesen Anlagen seine ultraschnellen Kirin-Prozessoren für Smartphones, Tablets etc. ebenso produzieren lassen wie die Ascend-Prozessoren für KI-Server.
Der schnellste KI-Prozessor von Huawei, der Ascend 920, wird künftig auch von SMIC in 5nm-Technologie produziert.
Damit reduziert sich der Entwicklungsrückstand zwischen KI-Chips aus China und den sehr gesuchten KI-Prozessoren vom Marktführer Nvidia, einem auf Grafik- und KI-Chips spezialisierten US-Konzern.
Die von Huawei entwickelten und von SMIC produzierten Ascend-Chips gelten auch unter westlichen Chip Experten als vielversprechende Alternativen zu den KI-Prozessoren von Nvidia. Sie mussten konstatieren, dass Chinas Halbleiterindustrie trotz US-Exportkontrollen weiter aufholt. Die Überraschung war groß, als Huawei im August 2024 sein Mate 60 Pro-Smartphone mit einem 7nm-Prozessor und KI-Fähigkeiten vorstellte.
Spätestens seitdem sieht Apple in China, seinem weltgrößtenAbsatzmarkt, nur noch die Rücklichter der chinesischen Konkurrenz.
Chinesischer Erfolg beim Chipdesign
Der chinesische Smartphone- und Elektronikhersteller Xiaomi, der inzwischen in seinen Läden in China auch ein eigenes Elektroauto vertreibt, hat einen wichtigen Schritt in der Halbleiterindustrie gemacht: Xiaomi hat einen eigenen 3nm-Chip entwickelt (Telepolis Wirtschaft, 23/10/2024 https://www.telepolis.de/features/Halbleiter-Xiaomi-gelingt-Durchbruch-mit-eigenem-3nm-Chip-9991576.html).
Er soll bereits im ersten Halbjahr 2025 in die Massenproduktion gehen. Die Nachricht wurde sogar im chinesischen Staatsfernsehen bekannt gegeben. Es ist der erste 3-nm-Chip, der von einem chinesischen Unternehmen entwickelt wurde. Bei der Entwicklung des Chips soll Xiaomi mit dem taiwanischen Unternehmen MediaTek zusammengearbeitet haben. MediaTek kontrolliert mit dem US-Konzern Qualcomm bislang den Weltmarkt für Smartphone-Prozessoren.
Die Ankündigung von Xiaomi ist ein Meilenstein, weil nicht nur die Produktion, sondern auch das Design, die Entwicklung von Chips äußerst komplex ist. Dabei geht es um das Zusammenspiel von bis zu Milliarden Transistoren auf einem einzigen Chip. Diese Beziehungen müssen dargestellt und getestet werden, bevor das Chip-Design in die Fertigung geht. Das geht nicht mehr an einem oder auch hunderten Zeichenbrettern. Ohne die entsprechende Software ist das unmöglich. Der Gründer und CEO von Xiaomi, Lei Jun, erwähnte einmal, Chip-Design sei ein riskantes Spiel: Große Investitionen können manchmal keinen Ertrag bringen. 2017 brachte Xiaomi einen ersten Smartphone-Chip auf den Markt. Der hatte aber Überhitzungsprobleme. Ein weiterer Versuch mit einem neuen Chip scheiterte dann 2020.
Trotz der hohen Entwicklungskosten setzen nicht nur der chinesische Xiaomi-Konzern, sondern auch Apple, Google oder Amazon inzwischen auf selbst entwickelte Prozessoren für Smartphones, Tablets oder auch für die eigenen Rechenzentren. Es geht dabei um Verbesserungen bei der Chipleistung, der Energieeffizienz und der Transistordichte. Durch die Optimierung und Abstimmung von Hardware - also den eigenen Chips statt Chips von der Stange - und Software funktionieren die Smartphones besser, so die Philosophie. Eigene Chipsätze eröffnen zudem Möglichkeiten für innovative Funktionen in zukünftigen Smartphones.
Außerdem sind die Smartphone-Hersteller weniger von Lieferengpässen oder Preiserhöhungen der Lieferanten abhängig. Der Chef von Xiaomi erklärte, die Entwicklung eigener Chips sei entscheidend, da die Prozessoren von Qualcomm immer teurer würden. So kostet ein einziger winziger Grafikchip des US-Konzerns Nvidia, der für KI-Anwendungen eingesetzt wird, derzeit 50.000 $.
Der Xiaomi-Chip wird künftig von dem taiwanesischen Auftragsfertiger TSMC produziert.
In den USA gibt es deshalb schon Spekulationen über mögliche Sanktionen gegen Xiaomi aufgrund dieses technologischen Durchbruchs in der Chipentwicklung.
Auch bei Software für Chip-Design holt China auf
Seit August 2022 haben die USA chinesischen Unternehmen den Zugang zu amerikanischer Software für den Chipdesign (ECAD Electronic Computer Aided Design) untersagt. Diese Software wird für den Entwurf komplexer integrierter Schaltkreise, also Halbleiter, verwendet. Bereits seit 2019 darf diese Software nicht mehr an Huawei lizensiert werden.
Aktuell wird der Markt von einem Oligopol der drei Firmen Cadence, Synopsys und Siemens EDA (vormals Mentor Graphics) dominiert. Alle drei Firmen haben ihren Hauptsitz in den USA und haben zusammen knapp 70 Prozent Marktanteil. Natürlich setzen die USA ihre Dominanz auf diesem technologischen Spezialgebiet gezielt ein, um die chinesische Chip-Design-Industrie zu behindern. Das erklärte unverblümt der frühere Pentagon-Mitarbeiter Gregory Allen vom Center for Strategic and International Studies CSIS (Asia Times, Oktober 2022). Dennoch bekam der Xiaomi-Konzern offensichtlich Zugang zu dieser Software. Wie sich Xiaomi Zugang zu US-amerikanischer EDA-Software verschafft hat, ist noch unklar.
Mikrochips für Computer werden schon lange nicht mehr von Hand entworfen. In den Anfängen der Halbleiterindustrie hatten Prozessoren wie der Intel 4004 nur wenige Tausend Transistoren. Einzelne Mitarbeiter waren nicht nur in der Lage, den kompletten Aufbau zu verstehen, sondern sie konnten auch Prototypen, etwa einer ALU (Arithmetic Logic Unit), in größerem Maßstab aufbauen und manuell testen, um Fehler zu beheben.
Das ist heute unmöglich, denn moderne Prozessoren haben Hunderte Milliarden Transistoren. Kein Mensch ist mehr in der Lage, den Aufbau vollständig manuell zu planen. Dafür wird EDA-Software verwendet. Erst so wird es möglich, moderne Chips zu entwerfen und den Entwurf zu testen und auf Machbarkeit zu prüfen. Die Alternative, einen einzelnen Chip als Prototyp zu fertigen, um dann bei im Prototyp gefundenen Fehlern einen ganz neuen Chip zu fertigen, wäre extrem teuer.
Die Eintrittsschranken in diesen extrem spezialisierten Markt für das Chipdesign sind extrem hoch: Chinesische (und andere) Neueinsteiger müssen die Komplexität der Software beherrschen. Sie müssen das sehr lukrative Oligopol der drei Marktführer herausfordern und brauchen zudem Entwickler, die schon in die Software der Marktführer eingearbeitet sind. Schließlich muss die vollkommen neue Software für das Chipdesign auch in der Fertigung funktionieren, also reibungslose Prozesse für die kontinuierliche Chipproduktion, deren Anlagen Milliarden kosten, garantieren.
China hat deshalb die Entwicklung eigener Software für das Chipdesign im aktuellen Fünfjahresplan priorisiert. Die Regierung investiert in Firmen auf diesem Gebiet. Am weitesten ist wohl die Firma Huada Empyrean mit 6 Prozent Marktanteil im eigenen Land. Deren Software ist aber noch weit davon entfernt, den kompletten Entwicklungsablauf für einen neuen Chip abbilden zu können. (Martin Böckmann, 24. August 2022, in: Golem.de)
Chinesische Firmen für Chipdesign-Software werden häufig von ehemaligen Mitarbeitern von Cadence oder Synopsys geleitet. Durch das Bündeln ihrer Erfahrungen bei den Marktführern können solche Startups die Entwicklung in China deutlich vorantreiben. Dem Land kommt dabei zugute, dass über ein Viertel aller Ingenieure im amerikanischen Silicon Valley aus China stammen und/oder einen chinesischen Pass haben.
Die rassistisch kontaminierte Anti-China-Hetze in den USA hat inzwischen zu einem Brain Drain zurück nach China geführt, wie das japanische Wirtschaftsmagazin Nikkei Asia
https://asia.nikkei.com/Business/Japan-seeks-to-stop-tech-brain-drain
konstatierte. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis China auch das Oligopol bei der Chipdesign-Software geknackt hat.
KI-Chips aus China: teilweise (schon) gleichwertig
Die meisten im Westen bekannten sogenannten Sprachmodelle der künstlichen Intelligenz oder KI sind trainiert auf ultraschnellen Grafikprozessoren, etwa von Nvidia. So lernte das neueste Sprachmodell der Zuckerberg-Konzerns Meta namens Llama 3 auf 16.000 H100 Chips von Nvidia. Bis zum Jahresende will der Meta-Konzern weitere 600.000 dieser Chips vorhalten. Doch chinesische KI-Firmen können mit dieser opulenten Hardwareausstattung der US-Konzerne noch nicht nicht mithalten. Sie haben stattdessen das Beste aus ihren begrenzten Ressourcen gemacht - einerseits durch Optimierung der Software und der Trainingsprozesse für die KI-Modelle, andererseits durch konzentrierten Einsatz der in China verfügbaren Chips.
Das Ergebnis sind leistungsfähige KI-Modelle, die bei Programmieraufgaben oder bei Sprachaufgaben in Englisch oder Chinesisch mit den Open-Source-Modellen wie etwa Chat GPT mithalten können (Economist, 21.09 24).
So setzt das Startup DeepSeek aus Hangzhou gerade mal 10.000 Nvidia Prozessoren älterer Generationen ein - wenig im Vergleich zu US- oder europäischen Mitbewerbern. Das Sprachmodell besteht aus einer Anzahl verschiedener Netze, die jeweils für spezielle Aufgaben trainiert sind. Außerdem werden die Eingabedaten komprimiert. Obwohl DeepSeek mit über 200 Milliarden (!) Parametern arbeitet, nutzt es für eine bestimmte Aufgabe nur maximal ein Zehntel dieser Parameter. Das spart Zeit, Rechenleistung und Energie. Ein anderes kleines Sprachmodell, an der Pekinger Tsinghua-Universität entwickelt, kann sogar auf Smartphones eingesetzt werden.
Aus Sicht eines Experten von SenseTime, ein chinesischer Konzern, in dessen KI-Rechenzentrum in Shanghai KI-Chips von den wichtigsten chinesischen Lieferanten wie Huawei und Biren arbeiten, gibt es zwar nach wie vor Leistungsunterschiede zwischen KI-Chips aus China und denen von Nvidia.
Die US-Chips seien leistungsfähiger für das Training von KI-Modellen. Das ist der Prozess, die KI-Software mit riesigen Datenmengen für den speziellen Einsatzbereich - etwa Steuerprüfung – anzulernen. Aber beim praktischen Einsatz scheinen die Unterschiede nicht groß zu sein. So bringt ein KI-Prozessor von Huawei namens Ascend 910C eine signifikante Leistungsverbesserung.
Nicht nur Huawei, sondern auch SenseTime und Biren stehen auf der Sanktionsliste des US-Handelsministeriums.
Huawei hat sich mit seinen Chips und mit der passenden Software als Chinas #1-Lieferant für KI-Lösungen positioniert, u.a. für den Finanzsektor und für die Telekommunikation.
Dennoch liegt bei den KI-Chips auch in China immer noch Nvidia vorne mit einem Marktanteil von 90%. Nach dem US-Exportverbot für die schnellsten KI-Chips von Nvidia hatte Nvidia extra einen Chip mit gedrosselter Leistung für den chinesischen Markt herausgebracht.
Dominiert China bei “reiferen” Chips?
Allianz für Auto-Chips
Während sich die Schlagzeilen meist auf die ultrafeinen Chips und KI konzentrieren und auf den Versuch der USA, China davon komplett abzuschneiden, machen aber sogenannte reifere Chips mit Leiterbahnen über 12nm Durchmesser sowie Leistungshalbleiter, Sensoren und Analogchips etc. die Masse des weltweiten Geschäfts im Umfang von über 600 Mrd Dollar aus.
Weil China das Weltzentrum der Elektronikindustrie, des Maschinenbaus und künftig wohl auch der Automobilindustrie ist, wurden schon vor 10 Jahren die meisten Halbleiter in Stückzahlen in China verbaut. Das von Ölimporten abhängige China hat viele Jahre wertmäßig mehr für Importe von Halbleitern als von Öl und Gas ausgegeben. Doch China hat massiv in die Chipindustrie investiert. Die Massenproduktion von billigen Chips bringt chinesischen Konzernen auch das Geld, um die kostspieligen Experimente mit der Produktion von ultrafeinen Chips zu finanzieren.
US-Experten warnen jetzt davor, dass die Welt künftig von “reiferen“ Halbleitern aus China abhängig ist, an denen ganze Industrien hängen, aber auch unser Alltagsleben.
Das gilt auch für Autos und für Anwendungen in Elektrofahrzeugen. China importiert heute immer noch rund 90 Prozent seiner Automobilchips. Produzenten sind etwa Infineon, NXP, Bosch oder japanische Unternehmen. Nach Ansicht des chinesischen Automobilverbands (CAAM) ist die Lokalisierung der Chip-Lieferkette entscheidend für die Entwicklung der chinesischen Automobilbranche. Dabei spielen technische Normen eine entscheidende Rolle.
Eine wesentliche Hürde für den Markteintritt chinesischer Anbieter von Automobilchips ist das fehlende Vertrauen in die Sicherheit und Zuverlässigkeit ihrer Chips. Da Automobilchips rauen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, müssen sie wesentlich höhere Standards erfüllen als kommerzielle Chips. Um die Zusammenarbeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Automobilchips zu fördern und Vertrauen zwischen Chip-Anbietern und Autoherstellern zu schaffen, hat das Ministerium für Industrie und Informationstechnologien die „China Automotive Industry Innovation Alliance“ gegründet. Das Bündnis soll Chinas Automobilindustrie unabhängig machen und Substitutionen im eigenen Land fördern.
Mitglieder der Allianz sind chinesische Autohersteller wie SAIC, BYD, FAW, Anbieter von Automobilelektronik und -software, Chip-Unternehmen und staatliche Forschungseinrichtungen. Während das Bündnis nach eigenen Angaben allen Branchenteilnehmern offen steht, besteht der technische Ausschuss ausschließlich aus chinesischen Unternehmen. (China.Table # 925 / 25. September 2024). Es besteht die Gefahr, dass auch diese bisherige Domäne vor allem der europäischen Chipindustrie verloren geht.
Warum die Zukunft der Halbleiterindustrie weiter in Ostasien liegt
Nach allen Prognosen wird die Zukunft der Chipindustrie weiter in Ostasien liegen.
Daran ändert der mit Steuermilliarden finanzierte Aufbau von Kapazitäten zur Chipfertigung in den USA und Europa vermutlich nichts.
Entsprechend äußert sich der Chef des niederländischen Maschinenbauers ASML, der die ganze Welt mit den teuersten Maschinen für die Chipindustrie beliefert (Nikkei Asia,9.10.24). Nach seinen Aussagen und nach allen verfügbaren Statistiken wachsen die Kapazitäten der Chipindustrie in Ostasien weiter schneller als im Rest der Welt.
Noch viele Jahre werde Ostasien das Weltzentrum der Chipproduktion bleiben.
Die Umsätze des Maschinenbauers ASML zeigen, wohin die Reise geht: 2023 machte der Konzern über 80% seines Umsatzes in Asien. Spitzenreiter war Taiwan, gefolgt von China, Korea und Japan. In den USA machte ASML 12% des Umsatzes, in Europa lediglich vier Prozent.
Nach Statistiken des US-Branchenverbandes SEMI hat China im ersten Halbjahr 2024 sogar mehr Anlagen für die Chipindustrie eingekauft als Taiwan, Südkorea und die USA zusammen. Die Investitionen in die Chipindustrie sind ein Barometer für die Entwicklung der künftigen Kapazitäten. Gleichzeitig hat China sicher vorausschauend eingekauft, in Erwartung weiterer US-Sanktionen.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es die Aufspaltung der Lieferketten in der Halbleiterindustrie, der technologisch fortgeschrittensten modernen Industrie, in eine US-basierte Lieferkette mit westlichen Anhängseln und in eine um China basierte Chipindustrie mit entsprechenden Clustern aber nicht geben.
Ostasien mit China bleibt Zentrum der weltweiten Chipproduktion und vermehrt auch des Chipdesigns und vielleicht künftig auch des Anlagenbaus. Alle Zahlen über jetzige und künftige Investitionen in dem Sektor deuten darauf hin.
Taiwan investiert
Eine Ergänzung: Die USA und der Westen machen zwar viel Getöse um einen künftigen Krieg um die Insel Taiwan, dem Weltzentrum der Chipindustrie.
Deswegen müsse man sich – wegen der Unterbrechung der Lieferketten – unabhängiger von Ostasien und speziell Taiwan machen. Die Politik der taiwanesischen Regierung und die Investitionen von TSMC, UMC, Globalfoundries, Foxconn etc. sprechen aber eine andere Sprache.
Nicht in den USA oder in Dresden wird aus Sorge um einen militärischen Konflikt vorrangig investiert, sondern gerade auf der Insel Taiwan.
Das ist nach der Logik des taiwanesischen Kapitals und der politischen Eliten der Insel der beste Schutz vor einem Krieg.
Die Investitionen von TSMC in Arizona oder in Dresden sind dagegen Peanuts.
Schließlich ist in der weltweiten Arbeitsteilung die industrielle Produktion immer mehr in Asien und speziell in China konzentriert. Diese Industrien sind jetzt und künftig vermutlich noch mehr der Hauptabnehmer der Chipindustrie. Es gibt deshalb wenig Grund, dass sich ausgerechnet die Halbleiterindustrie zusammen mit ihren komplexen Wertschöpfungsketten in den USA ansiedelt - abgesehen von einzelnen Clustern für Chipdesign etc. an der Ost- bzw. Westküste.
Die transatlantische Rivalität
Trump folgt einer veränderten Interessenlage der US-Industrie.
Mit der bevorstehenden zweiten US-Präsidentschaft von Donald Trump zeichnen sich gravierende ökonomische Machtkämpfe zwischen den Vereinigten Staaten und der EU bzw. Deutschland ab. Laut Berechnungen des unternehmernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln würden die Strafzölle, die der designierte US-Präsident Donald Trump im Wahlkampf angekündigt hat, allein die deutsche Wirtschaft im Vierjahreszeitraum von 2025 bis 2028 bis zu 180 Milliarden Euro kosten. Die deutsche Industrie würde dabei mittelfristig schwer geschädigt. So seien für die Jahre 2027 und 2028 Einbrüche der deutschen Wirtschaftsleistung um jeweils rund 1,5 Prozent zu erwarten, während die US-Konkurrenz sich deutlich schneller vom Schock einer Strafzollschlacht erholen würde.
Die EU hat bereits Gegenzölle gegen US-Strafzölle in Aussicht gestellt. Die Trump’sche Strafzollpolitik, das zeigt eine ausführliche Studie, folgt Verschiebungen in der US-Industrie: War diese lange in der Lage, offene Weltmärkte zu dominieren, so sind mittlerweile immer mehr US-Unternehmen internationaler Konkurrenz unterlegen. Ihren Interessen entspricht die Trump’sche Abschottungspolitik.
Glimpflich davongekommen
Mit Blick auf das deutsche US-Geschäft hatten Ökonomen gerade erst Entwarnung gegeben. So berichtete das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln, der Biden’sche Inflation Reduction Act (IRA), der mit dreistelligen Milliardenbeträgen die Industrien der Energiewende fördert, habe bisher nicht zu der befürchteten Abwanderung von Unternehmen aus Deutschland in die Vereinigten Staaten geführt.
Zumindest kurzfristig habe die deutsche Industrie sogar profitieren können: Der Export von Maschinen sowie von elektrischer Ausrüstung, von klassischen Vorprodukten beim Bau auch klimafreundlicher Fabriken also, aus der Bundesrepublik in die Vereinigten Staaten sei im vergangenen Jahr um zehn Prozent gestiegen. Dank einer eigens eingeführten Ausnahme für geleaste Fahrzeuge sei auch kein Nachteil für deutsche Kfz-Exporte in die USA zu beklagen.[1]
Denkbar sei es freilich, heißt es weiter beim IW, dass Donald Trump diese Ausnahmeregelung aufhebe, was zu Nachteilen für deutsche Autohersteller führen werde. Mit einem Ausstieg aus dem IRA durch die künftige Trump-Administration rechnen US-Beobachter nicht; sogar Konzerne der US-Erdöl- und Erdgasbranche setzen sich für die Beibehaltung des Programms ein, da sie von ihm erheblich profitieren.[2]
Trumps Strafzolldrohung
Führt der designierte US-Präsident Donald Trump allerdings wirklich die im Wahlkampf angedrohten Strafzölle ein, dann ist mit hohen Einbußen insbesondere auch für die deutsche Industrie zu rechnen. Das IW hat in einer unlängst publizierten Studie Schadensprognosen, die es allein für die Bundesrepublik im Sommer noch auf gut „123 bis 146 Milliarden Euro“ bezifferte [3], auf 127 bis 180 Milliarden Euro nach oben korrigiert [4]. Mit Einbußen in Höhe von 127 Milliarden Euro im Vierjahreszeitraum 2025 bis 2028 ist demnach zu rechnen, sollte Trump auf sämtliche US-Einfuhren Strafzölle von 10 Prozent und auf Importe aus der Volksrepublik China Strafzölle in Höhe von 60 Prozent erheben. Eingepreist ist in die Berechnungen, dass die EU Gegenzölle in gleicher Höhe verhängt.
Sollte freilich zusätzlich der transatlantische Handelskonflikt eskalieren und die Strafzölle beider Seiten auf 20 Prozent nach oben treiben, könnten die Schäden 180 Milliarden Euro erreichen, schreibt das IW.
Zwar müssten auch die USA je nach Szenario Einbußen von 686 bzw. 874 Milliarden US-Dollar für 2025 bis 2028 in Kauf nehmen. Allerdings werde sich die US-Wirtschaft spätestens 2028 wieder einigermaßen konsolidieren können.
„Für Deutschland eine Katastrophe“
Die EU und insbesondere Deutschland aber würden laut dem IW vor allem langfristig hart getroffen. Demnach ist für die EU von einem Anstieg des Wirtschaftseinbruchs von 0,29 bis 0.42 Prozent im Jahr 2025 auf 0,91 bis 1,34 Prozent im Jahr 2027 zu rechnen. Für 2028 sagt das IW einen Rückgang um 0,89 respektive 1,33 Prozent voraus.
Die Bundesrepublik steht vor einem noch größeren Minus, das von 0,34/0,48 Prozent im Jahr 2025 auf 1,08/1,53 Prozent im Jahr 2027 steigt; 2028 verharrt die deutsche Wirtschaft demzufolge bei einem Rückgang um 0,99/1,45 Prozent.[5] Weil die Exporte strafzollbedingt deutlich schrumpften, sei von einem erheblichen Einbruch bei den privaten Investitionen auszugehen, urteilt das IW, das von einem Investitionsminus von 4 Prozent gegenüber dem ohne die Strafzölle zu erwartenden Basisszenario ausgeht. Stark getroffen werden könnten, da sie besonders große Warenmengen in die USA exportierten, „der Maschinenbau, die Pharmaindustrie und die ... Autoindustrie“, urteilt IW-Direktor Michael Hüther.[6]
Der Maschinenbau und die Kfz-Branche leiden schon jetzt unter mutmaßlich bleibenden Einbrüchen im China-Geschäft.[7] Entsprechend erklärt Hüther zu den befürchteten Einbrüchen in den USA: „Für das exportstarke Deutschland wäre das eine Katastrophe.“
Interessen der US-Industrie
Die Trump’sche Strafzollpolitik folgt dabei nicht Launen eines exzentrischen Präsidenten, sondern grundlegenden Interessen der US-Industrie. Dies belegt eine Untersuchung, die von Wissenschaftlern der Vrije Universiteit Amsterdam und der Freien Universität Berlin vorgelegt worden ist.[8] Demnach gründete die weltweite Durchsetzung offener Märkte, der sich die Vereinigten Staaten traditionell verschrieben hatten, primär darauf, dass die US-Wirtschaft stark genug war, sich international durchzusetzen und die Weltmärkte zu erobern. Dies prägte die Politik der jüngeren US-Administrationen bis hin zu derjenigen von Barack Obama. Die Politik der Trump-Administration hingegen wurde, wie die Untersuchung zeigt, vor allem von zwei Fraktionen getragen, für die offene Märkte entweder nachrangig oder sogar schädlich waren. Zum einen handelte es sich dabei um Immobilienunternehmen – also um die Branche, der Trump selbst entstammt –, zum anderen um Konzerne, denen es nicht mehr gelang, sich gegen die internationale Konkurrenz durchzusetzen – etwa Stahlkonzerne. Dabei waren die übermächtigen Konkurrenten, denen US-Unternehmen nicht mehr recht gewachsen waren, oft solche aus China. Die Strafzollpolitik richtete sich daher zunächst vor allem gegen die Volksrepublik.
Handelsüberschüsse im Visier
Da es nicht gelungen ist, die chinesische Konkurrenz niederzuringen, hat Trump angekündigt, die Maßnahmen gegen die Volksrepublik zu verschärfen. In der rasant eskalierenden globalen Rivalität nimmt er nun aber auch die Konkurrenz aus Deutschland und der EU aggressiv ins Visier. Tatsächlich hat die Bundesrepublik zuletzt aus dem Handel mit keinem Land so hohen Profit gezogen wie aus dem Handel mit den USA; im vergangenen Jahr standen Importen aus den Vereinigten Staaten in Höhe von 94,4 Milliarden Euro Exporte in das Land im Wert von 157,9 Milliarden Euro gegenüber. Der Handelsüberschuss erreichte damit 63,5 Milliarden Euro – fast ein Drittel des gesamten deutschen Handelsüberschusses, der sich 2023 auf 209,6 Milliarden Euro belief. Die hohen Erträge aus dem deutschen US-Geschäft trugen stark zur engen außenpolitischen Kooperation Berlins mit Washington bei.
Dass die zweite Trump-Administration sie in Frage zu stellen droht, lässt eine neue Absetzbewegung Deutschlands gegenüber den Vereinigten Staaten erahnen.
Die EU hat bereits mitgeteilt, sie werde auf neue US-Strafzölle mit Gegenzöllen reagieren und habe konkrete Vorbereitungen dafür getroffen.
Damit zeichnet sich eine Phase neuer transatlantischer Konflikte ab.
[1] Jürgen Matthes, Samina Sultan, Thomas Obst: US Inflation Reduction Act: Überschaubare Auswirkungen auf Deutschland. IW-Kurzbericht Nr. 83. Köln, 05.11.2024.
[2] Collin Eaton, Benoit Morenne: Big Oil Urges Trump Not to Gut Biden’s Climate Law. wsj.com 06.10.2024.
[3] Hubertus Bardt: Trump oder Harris oder ...? Worauf sich Europa einstellen muss. IW-Policy Paper 5/2024. Köln, 23.07.2024. S. auch -Deutsche Firmen unterstützen Trump
[4], [5] Thomas Obst, Samina Sultan, Jürgen Matthes: Was droht den transatlantischen Handelsbeziehungen unter Trump 2.0? Von Zollerhöhungen und Vergeltungsmaßnahmen. IW-Report 42/2024. Köln, 24.10.2024.
[6] Michael Hüther: US-Präsidentschaftswahl: „Für die deutsche Wirtschaft wäre ein Präsident Trump eine teure Katastrophe“. iwkoeln.de 04.11.2024.
[7] S. dazu Das Ende des deutschen Exportmodells
[8] Bastiaan van Apeldoorn, Naná de Graaf, Jaša Veselinović: Trump and the Remaking of American Grand Strategy. The Shift from Open Door Globalism to Economic Nationalism. Cham 2023.
IWF und BRICS: keine Rückkehr nach Bretton Woods
Fast gleichzeitig traf sich die BRICS+-Gruppe in Kasan, Russland. [1]
Das Zusammentreffen dieser beiden Treffen fasst zusammen, wie es um die Weltwirtschaft im Jahr 2024 bestellt ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der IWF und die Weltbank zu den führenden Organisationen für internationale Zusammenarbeit und Maßnahmen in der Weltwirtschaft. Sie waren Institutionen, die aus dem Bretton-Woods-Abkommen von 1942 [2] hervorgingen, das die zukünftige Weltwirtschaftsordnung festlegte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet werden sollte. Damals sprach der damalige US-Präsident Franklin Roosevelt diese prophetischen Worte:
„Der Punkt in der Geschichte, an dem wir stehen, ist voller Versprechen und Gefahren. Die Welt wird sich entweder in Richtung Einheit und weit verbreiteten Wohlstand bewegen oder sie wird sich in notwendigerweise konkurrierende Wirtschaftsblöcke aufteilen.“
Roosevelt bezog sich auf die Spaltung zwischen den USA und ihren Verbündeten und der Sowjetunion. Dieser „Kalte Krieg“ endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990. Aber jetzt, 35 Jahre später, haben Roosevelts Worte einen neuen Kontext: zwischen den USA und ihren Verbündeten und einem aufstrebenden Block von Nationen des „globalen Südens“.
Die in Bretton Woods vereinbarte Weltwirtschaftsordnung etablierte die USA als hegemoniale Wirtschaftsmacht in der Welt.
1945 war das Land die größte Produktionsnation der Welt, verfügte über den wichtigsten Finanzsektor, die schlagkräftigsten Streitkräfte – und dominierte den Welthandel und die Investitionen durch die internationale Verwendung des Dollars.
John Maynard Keynes war maßgeblich an den Verhandlungen in Bretton Woods beteiligt. [3]
Er kommentierte, dass seine „vorausschauende Idee einer neuen Institution, die die Interessen von Gläubiger- und Schuldnerländern gerechter ausgleichen sollte, abgelehnt wurde“. Keynes' Biograf Robert Skidelsky fasste das Ergebnis zusammen. „Natürlich setzten sich die Amerikaner aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht durch. Großbritannien gab sein Recht auf, die Währungen seines ehemaligen Empires zu kontrollieren, dessen Volkswirtschaften nun unter die Kontrolle des Dollars und nicht des Pfunds gerieten.“ Im Gegenzug "bekamen die Briten Kredit, um zu überleben – aber mit Zinsen. Keynes erklärte dem britischen Parlament, dass der Deal nicht ‚eine Bestätigung der amerikanischen Macht, sondern ein vernünftiger Kompromiss zwischen zwei großen Nationen mit den gleichen Zielen sei, nämlich die Wiederherstellung einer liberalen Weltwirtschaft‘. “
Die anderen Nationen wurden natürlich ignoriert.
Die USA und ihre Verbündeten in Europa dominieren seither den IWF und die Weltbank, sowohl personell als auch in der Politik. Trotz einiger geringfügiger Reformen des Wahl- und Entscheidungsverfahrens in den letzten 80 Jahren wird der IWF weiterhin von den G7-Staaten geführt, sodass andere Länder kaum eine Stimme haben. Insgesamt gibt es 24 Sitze im IWF-Vorstand, wobei das Vereinigte Königreich, die USA, Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Japan und China jeweils über einzelne Sitze verfügen – und die USA bei wichtigen Entscheidungen ein Vetorecht haben.
Was die Wirtschaftspolitik betrifft, so ist der IWF vielleicht am bekanntesten für die Auferlegung von „Strukturanpassungsprogrammen“. IWF-Kredite wurden Ländern in wirtschaftlicher Notlage unter der Bedingung „gewährt“, dass sie sich bereit erklärten, ihre Defizite auszugleichen, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, ihre Märkte zu öffnen und Schlüsselsektoren der Wirtschaft zu privatisieren. [4]
Die am häufigsten empfohlene IWF-Politik besteht nach wie vor darin, die öffentlichen Lohnkosten zu kürzen oder einzufrieren.
Und der IWF weigert sich nach wie vor, progressive Steuern auf das Einkommen und Vermögen der reichsten Einzelpersonen und Unternehmen zu fordern.
Im Jahr 2024 befinden sich nun 54 Länder in einer Schuldenkrise[5] und viele geben mehr für den Schuldendienst aus als für die Finanzierung von Bildung oder Gesundheit. [6]
Die Kriterien der Weltbank für Kredite und Hilfen an die ärmsten Länder entsprechen auch weiterhin der vorherrschenden wirtschaftlichen Auffassung, dass öffentliche Investitionen lediglich dazu dienen, den Privatsektor zu ermutigen, die Aufgabe von Investitionen und Entwicklung zu übernehmen. Die Weltbank-Ökonomen ignorieren die Rolle staatlicher Investitionen und Planung. [7] Stattdessen möchte die Bank „global bestreitbare Märkte schaffen, die Regulierung der Faktor- und Produktmärkte verringern, unproduktive Unternehmen loslassen, den Wettbewerb stärken und die Kapitalmärkte vertiefen“.
Kristalina Georgieva wurde gerade für eine zweite Amtszeit als IWF-Chefin bestätigt. Und sie spricht jetzt von "integrativen" Wirtschaftspolitiken. [8] Sie sagt, sie wolle die „globale Zusammenarbeit verstärken und die wirtschaftliche Ungleichheit verringern“.
Der IWF behauptet, er kümmere sich nun um die negativen Folgen der fiskalischen Sparmaßnahmen und verweist dabei oft darauf, dass die Sozialausgaben durch Bedingungen, die eine Ausgabenuntergrenze vorschreiben, vor Kürzungen geschützt werden sollten.
Eine Oxfam-Analyse von siebzehn aktuellen IWF-Programmen[9] ergab jedoch, dass der IWF diese Länder dazu ermutigte, für jeden Dollar, den sie für den Sozialschutz ausgeben sollten, vier Dollar durch Sparmaßnahmen einzusparen. Die Analyse kam zu dem Schluss, dass die Untergrenzen für Sozialausgaben „völlig unzureichend, inkonsequent, undurchsichtig und letztlich gescheitert“ seien.
Bis vor kurzem ging der IWF davon aus, dass ein schnelleres Wachstum von einer höheren Produktivität, freiem Kapitalfluss, Globalisierung des internationalen Handels und „Liberalisierung“ der Märkte, einschließlich der Arbeitsmärkte (was eine Schwächung der Arbeitnehmerrechte und Gewerkschaften bedeutet), abhängt.
Ungleichheit spielte dabei keine Rolle. Dies war die neoliberale Formel für Wirtschaftswachstum. Doch die Erfahrungen mit der Großen Rezession 2008/2009 und dem pandemiebedingten Einbruch 2020 scheinen der Wirtschaftshierarchie des IWF eine ernüchternde Lektion erteilt zu haben. Jetzt leidet die Weltwirtschaft unter „anämischem Wachstum“.
Der IWF ist also besorgt. Georgieva sagte, der Grund für die Verlangsamung und das niedrige reale BIP-Wachstum in den großen Volkswirtschaften sei die zunehmende Ungleichheit von Vermögen und Einkommen:
„Wir haben die Pflicht, das zu korrigieren, was in den letzten 100 Jahren am schlimmsten falsch gelaufen ist – das Fortbestehen der hohen wirtschaftlichen Ungleichheit. Untersuchungen des IWF zeigen, dass eine geringere Einkommensungleichheit mit einem höheren und nachhaltigeren Wachstum verbunden sein kann.“ Klimawandel, zunehmende Ungleichheit und eine verstärkte geopolitische „Fragmentierung“ bedrohen auch die Weltwirtschaftsordnung und die Stabilität des sozialen Gefüges des Kapitalismus.[10]
Während der langen Depression der 2010er Jahre hat sich die Globalisierung entlang geopolitischer Linien fragmentiert – im Jahr 2023 wurden rund 3.000 handelsbeschränkende Maßnahmen verhängt, fast dreimal so viele wie 2019. Georgieva ist besorgt: „Die geoökonomische Fragmentierung verschärft sich, da die Länder Handels- und Kapitalströme verlagern. Die Klimarisiken nehmen zu und wirken sich bereits auf die Wirtschaftsleistung aus, von der landwirtschaftlichen Produktivität über die Zuverlässigkeit des Transports bis hin zur Verfügbarkeit und den Kosten von Versicherungen. Diese Risiken könnten Regionen mit dem größten demografischen Potenzial, wie z. B. Subsahara-Afrika, zurückwerfen.“
Unterdessen belasten höhere Zinssätze und Kosten für den Schuldendienst die Staatshaushalte, sodass den Ländern weniger Spielraum bleibt, um grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen und in Menschen und Infrastruktur zu investieren.
Deshalb strebt Georgieva für ihre neue fünfjährige Amtszeit einen neuen IWF- Ansatz an. [11]Das bisherige neoliberale Modell für Wachstum und Wohlstand muss durch ein „integratives Wachstum“ ersetzt werden, das darauf abzielt, Ungleichheiten abzubauen und nicht nur das reale BIP zu steigern. Die wichtigsten Themen sollten jetzt „Inklusion, Nachhaltigkeit und globale Governance sein, wobei der Schwerpunkt auf der Beseitigung von Armut und Hunger liegt.“
Aber können der IWF oder die Weltbank wirklich etwas ändern, selbst wenn Georgieva dies möchte, solange die USA und ihre Verbündeten diese Institutionen kontrollieren?
Die Bedingungen für IWF-Kredite haben sich kaum geändert. Es gibt vielleicht einen gewissen Schuldenerlass (d. h. eine gewisse Umstrukturierung bestehender Kredite), aber keine Streichung von belastenden Schulden. Was die Zinssätze für diese Kredite betrifft, so verhängt der IWF tatsächlich versteckte zusätzliche Strafzinsen für sehr arme Länder, die ihren Rückzahlungsverpflichtungen nicht nachkommen können! NAchdem es immer mehr Proteste gegen diese Strafen gab, wurden diese Sätze gesenkt (nicht abgeschaftt), wodurch die Kosten für die Schuldner um (nur) 1,2 Mird. US-Dollar pro Jahr gesenkt wurden.
Christine Lagarde, die Leiterin der Europäischen Zentralbank (EZB), war die vorherige IWF-Chefin. Sie hielt im vergangenen Frühjahr eine wichtige Grundsatzrede vor dem US-amerikanischen Council of Foreign Relations in New York. Lagarde sprach nostalgisch über die Zeit nach 1990 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die angeblich eine neue Blütezeit der globalen Dominanz der USA und ihrer „Allianz der Willigen“ einläutete.
"In der Zeit nach dem Kalten Krieg profitierte die Welt von einem bemerkenswert günstigen geopolitischen Umfeld. Unter der hegemonialen Führung der Vereinigten Staaten blühten regelbasierte internationale Institutionen auf und der Welthandel expandierte. Dies führte zu einer Vertiefung der globalen Wertschöpfungsketten und, als China der Weltwirtschaft beitrat, zu einer massiven Zunahme des globalen Arbeitskräfteangebots."
Dies waren die Tage der Globalisierungswelle mit steigenden Handels- und Kapitalströmen; der Vorherrschaft von Bretton-Woods-Institutionen wie dem IWF und der Weltbank, die die Kreditbedingungen diktierten; und vor allem der Erwartung, dass China nach seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 in den imperialistischen Block aufgenommen werden würde.
Doch es kam anders als erwartet. Die Globalisierungswelle fand nach der Großen Rezession ein jähes Ende und China spielte bei der Öffnung seiner Wirtschaft für die multinationalen Unternehmen des Westens nicht mit. [12]
Dies zwang die USA dazu, ihre China-Politik von „Engagement“ auf „Eindämmung“ umzustellen – und das mit zunhemneder Intensität in den letzten Jahren. Und dann kam die erneute Entschlossenheit der USA und ihrer europäischen Satelliten, ihre Kontrolle nach Osten auszuweiten und so sicherzustellen, dass Russland bei dem Versuch scheitert, die Kontrolle über seine Grenzländer auszuüben, und Russland als Gegenkraft zum imperialistischen Block dauerhaft zu schwächen. Dies führte zur russischen Invasion in der Ukraine.
Dies leitet über zum Aufstieg des BRICS-Länderblocks. BRICS ist die Abkürzung für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die ursprünglichen Mitglieder. Jetzt wird in Kasan das erste Treffen von BRICS-plus mit seinen neuen Mitgliedern stattfinden: Iran, Ägypten, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate (und vielleicht Saudi-Arabien).
Unter Linken wird viel optimistisch darüber gesprochen, dass das Entstehen der BRICS-Gruppe das Gleichgewicht der wirtschaftlichen und politischen Kräfte weltweit verändern wird. Es stimmt, dass das BIP der fünf BRICS-Staaten zusammen genommen 13] inzwischen größer ist als das der G7-Staaten, wenn man die Kaufkraftparität zugrunde legt (ein Maß dafür, was man mit dem BIP im Inland an Waren und Dienstleistungen kaufen kann).
Und wenn man die neuen Mitglieder hinzurechnet, wird der Abstand noch größer.
Aber es gibt auch Einschränkungen. Erstens ist es innerhalb der BRICS China, das den Großteil des BRICS-BIP erwirtschaftet (mit einem Anteil von 17,6 Prozent am globalen BIP), gefolgt von Indien mit großem Abstand (7 Prozent); während Russland (3,1 Prozent), Brasilien (2,4 Prozent) und Südafrika (0,6 Prozent) zusammen nur 6,1 Prozent des Welt-BIP ausmachen.
Die BRICS verfügen nicht über eine gleichmäßig verteilte Wirtschaftskraft. Und wenn wir das BIP pro Person messen, sind die BRICS-Staaten wenig auffällig.
Selbst bei Verwendung von KKP-bereinigten internationalen Dollar beträgt das Pro-Kopf-BIP der Vereinigten Staaten 80.035 US-Dollar, mehr als das Dreifache des BIP Chinas, das 23.382 US-Dollar beträgt.
Die BRICS+-Gruppe wird zunächst eine viel kleinere und schwächere Wirtschaftsmacht bleiben als der imperialistische G7-Block.
Darüber hinaus sind die BRICS-Staaten in Bezug auf Bevölkerung, Pro-Kopf-BIP, geografische Lage und Handelsstruktur sehr unterschiedlich.
Und die herrschenden Eliten in diesen Ländern liegen oft im Streit (Brasilien gegen Russland, Iran gegen Saudi-Arabien, China gegen Indien- wobei das aktuelle BRICS-Treffen Anlass zu einer Lösung des Grenzkonfliktes war).
Im Gegensatz zur G7, die zunehmend homogene wirtschaftliche Ziele unter der festen hegemonialen Kontrolle der USA verfolgt, ist die BRICS-Gruppe in Bezug auf Wohlstand und Einkommen uneinheitlich und hat keine einheitlichen wirtschaftlichen Ziele – außer vielleicht dem Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen.
Und selbst dieses Ziel wird schwer zu erreichen sein. Die wirtschaftliche Dominanz der USA ist weltweit zwar relativ zurückgegangen und auch der Dollar hat an Bedeutung verloren, doch ist der Dollar nach wie vor die mit Abstand wichtigste Währung für Handel, Investitionen und nationale Reserven. [14]
Etwa die Hälfte des gesamten Welthandels wird in Dollar abgerechnet, und dieser Anteil hat sich kaum verändert.
Der US-Dollar war an fast 90 % der weltweiten Devisentransaktionen beteiligt und ist damit die am meisten gehandelte Währung auf dem Devisenmarkt.
Etwa die Hälfte aller grenzüberschreitenden Kredite, internationalen Schuldverschreibungen und Handelsrechnungen lauten auf US-Dollar, während etwa 40 Prozent der SWIFT-Nachrichten und 60 Prozent der weltweiten Devisenreserven in Dollar angegeben sind.
Der chinesische Yuan gewinnt weiterhin allmählich an Wert und der Anteil des Renminbi am weltweiten Devisenumsatz ist von weniger als 1 % vor 20 Jahren auf jetzt mehr als 7 % gestiegen. Aber die chinesische Währung macht immer noch nur 3 Prozent der globalen Devisenreserven aus, gegenüber 1 Prozent im Jahr 2017. Und China scheint den Dollar-Anteil seiner Reserven in den letzten zehn Jahren nicht verändert zu haben.
"Kurz gesagt, Länder/Unternehmen/Institutionen, die sich für eine Ent-Dollarisierung einsetzen, tragen entweder erhebliche Kosten und Risiken oder laufen Gefahr, diese zu tragen. Im Gegensatz dazu gibt es keine entsprechenden unmittelbaren Vorteile durch die Abkehr vom Dollar. Daher wird die große Mehrheit der Länder/Unternehmen/Institutionen nicht auf den Dollar verzichten, es sei denn, sie werden dazu gezwungen. Der Dollar kann daher nicht als internationale Währungseinheit ersetzt werden, ohne dass sich die globale internationale Situation grundlegend ändert, wofür die objektiven internationalen Bedingungen noch nicht gegeben sind."[15]
Darüber hinaus sind multilaterale Institutionen, die eine Alternative zu den bestehenden (von den imperialistischen Volkswirtschaften kontrollierten) Institutionen IWF und Weltbank darstellen könnten, immer noch winzig und schwach. Zum Beispiel gibt es die 2015 in Shanghai gegründete Neue Entwicklungsbank der BRICS-Staaten. Die NDB wird von der ehemaligen linken Präsidentin Brasiliens, Dilma, geleitet. Es wird viel darüber geredet, dass die NDB den imperialistischen Institutionen IWF und Weltbank einen Gegenpol in Sachen Kredit bieten kann. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Ein ehemaliger Beamter der South African Reserve Bank (SARB) kommentierte: „Die Vorstellung, dass BRICS-Initiativen, von denen die NDB bisher die bekannteste ist, die vom Westen dominierten multilateralen Finanzinstitutionen ersetzen werden, ist ein Wunschtraum.“
Und wie Patrick Bond es kürzlich ausdrückte: "Die Rolle der BRICS in der globalen Finanzwelt, die sich verbal links und in der Praxis rechts positioniert, zeigt sich nicht nur in der energischen finanziellen Unterstützung des Internationalen Währungsfonds in den 2010er Jahren, sondern auch in der Entscheidung der BRICS New Development Bank – angeblich eine Alternative zur Weltbank – Anfang März ihr russisches Portfolio einzufrieren, da sie sonst ihr westliches Kreditrating von AA+ nicht beibehalten hätte. “ Und Russland ist zu 20 % Anteilseigner der NDB.
Die BRICS sind ein Sammelsurium von Nationen mit Regierungen, die keine internationalistische Perspektive haben, schon gar nicht eine, die auf dem Internationalismus der Arbeiterklasse basiert, und die von autokratischen Regimen geführt werden, in denen die arbeitende Bevölkerung wenig oder gar nichts zu sagen hat, oder von Regierungen, die immer noch stark an die Interessen des imperialistischen Blocks gebunden sind.
Kehren wir zu Bretton Woods und Roosevelts Prophezeiung zurück. Viele moderne Keynesianer halten das Bretton-Woods-Abkommen für einen der größten Erfolge der keynesianischen Politik, da es die Art von globaler Zusammenarbeit ermöglicht, die die Weltwirtschaft braucht, um aus der aktuellen Depression herauszukommen. Es ist nämlich erforderlich, dass sich alle großen Volkswirtschaften der Welt zusammensetzen, um ein neues Handels- und Währungsabkommen mit Regeln auszuarbeiten, die sicherstellen, dass alle Länder zum Wohle der Weltgemeinschaft handeln.
Zwei Keynsianer der Demokratischen Partei in den USA waren kürzlich der Meinung, dass „eine andere Art von Weltanschauung noch nie so klar war. Dies zeigt ein Blick auf eines der Probleme unserer Zeit, vom Klima über Ungleichheit bis hin zur sozialen Ausgrenzung ... Die Gestaltung eines neuen globalen Wirtschaftsrahmens erfordert ein globales Gespräch.“
Das ist in der Tat richtig, aber ist das in einer Welt, die von einem imperialistischen Block kontrolliert wird, der von einem zunehmend protektionistischen und militaristischen Regime (mit Trump am Horizont) angeführt wird, wirklich möglich? Kann ein loses Bündnis von Regierungen, die oft ihre eigenen Völker ausbeuten und unterdrücken, Widerstand leisten? In einer solchen Situation sind Hoffnungen auf eine neue koordinierte Weltordnung in den Bereichen globales Geld, Handel und Finanzen ausgeschlossen. Ein neues und faires „Bretton Woods“ wird es im 21. Jahrhundert nicht geben – im Gegenteil.
Zurück zu Lagarde: „Der wichtigste Faktor, der die internationale Währungsnutzung beeinflusst, ist die ‚Stärke der Fundamentaldaten‘.
Mit anderen Worten:
Einerseits der Trend zur Schwächung der Volkswirtschaften im imperialistischen Block, die im weiteren Verlauf des Jahrzehnts mit sehr langsamem Wachstum und Einbrüchen konfrontiert sind, [16] und andererseits die anhaltende Expansion Chinas und sogar Indiens.
Das bedeutet, dass die starke militärische und finanzielle Dominanz der USA und ihrer Verbündeten auf den Hühnerbeinen einer relativ schlechten Produktivität, Investition und Rentabilität steht. Das ist ein Rezept für globale Fragmentierung und Konflikte.
[1] https://brics-russia2024.ru/en/summit
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Bretton_Woods_Conference
[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2016/04/23/keynes-and-bretton-woods-70-years-later
[4] https://actionaid.org/publications/2021/public-versus-austerity-why-public-sector-wage-bill-constraints-must-end
[5] https://debtjustice.org.uk/countries-in-crisis
[6] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/08/14/bangladesh-the-global-south-debt-crisis-intensifies
[7] https://www.worldbank.org/en/publication/wdr2024
[8] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/30/inclusive-economics-and-the-imf
[9] https://oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/621495/bp-imf-social-spending-floors-130423-en.pdf?sequence=4&isAllowed
[10] https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2024/02/26/how-the-g20-can-build-on-the-world-economys-recent-resilience?s=09
[11] https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2024/02/26/how-the-g20-can-build-on-the-world-economys-recent-resilience?s=09
[12] https://thenextrecession.wordpress.com/2022/04/27/has-globalisation-ended
[13] https://theprint.in/economy/led-by-china-india-the-5-brics-nations-now-contribute-more-to-world-gdp-than-industrialised-g7/1490881
[14] https://thenextrecession.wordpress.com/2023/04/22/a-multipolar-world-and-the-dollar
[15] John Ross ist Senior Fellow am Chongyang Institute for Financial Studies der Renmin University of China
https://mronline.org/2024/06/18/what-is-the-realistic-strategy-for-de-dollarisation
[16] https://www.worldbank.org/en/research/publication/long-term-growth-prospects
De-Dollarisierung und BRICS-Gipfel (II/III)
Sie wollen die Dominanz des US-Dollars im Weltwirtschafts- und globalen Finanzsystem brechen, verstehen sich dabei aber nicht als ein antiwestliches, sondern als ein nichtwestliches Bündnis.
Die Experten spekulierten vor dem Treffen, ob es zu konkreten Maßnahmen führen würde. Wenige erwarteten einen Durchbruch. Ein solcher blieb dann auch aus.
Doch Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und die neuen Mitglieder des Bündnisses – Ägypten, Äthiopien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate – sowie 13 assoziierte Staaten (unter ihnen Kuba und Bolivien) wollen sich aus der Abhängigkeit von westlichen, insbesondere von US-amerikanischen Institutionen lösen und eine eigenständige Finanzarchitektur errichten.
Sie streben seit langem eine Entdollarisierung (De-Dollarisierung) der Weltwirtschaft an.
Daran halten sie fest. Die Bestrebungen stoßen auf die Sympathie vieler Staaten. Mehr als 30 wollen sich dem Diktat des Dollars entziehen und sind interessiert, mit dem BRICS-Bündnis zusammenzuarbeiten, Mitglieder oder Partner zu werden.
Dollarisierung bedeutet, dass der US-Dollar als die Leitwährung im internationalen Handel auftritt und sich andere Währungen unterordnet. Tatsächlich ist er die wichtigste Rechnungs- und Reservewährung der Welt, dominiert als Tauschmittel und Mittel der Wertaufbewahrung den Welthandel, hat in beiden Funktionen die nationalen Währungen weitgehend verdrängt.
Noch immer wird das Rohöl zum überwiegenden Teil in Dollar gehandelt. Will ein Land Öl importieren, muss es Dollar besitzen oder sich beschaffen. Zwar musste der Dollar einen merklichen Verlust seines Ansehens hinnehmen. Sein Anteil an den Weltwährungsreserven ging seit 1970 um 25 Prozent zurück, er beträgt aber immer noch 58 Prozent, der des Euro 20 Prozent. Der Anteil des chinesischen Renminbis (Yuan) hat erst gut 2 Prozent erreicht, obgleich China, gemessen am nominalen Bruttoinlandprodukt hinter den USA die zweite, gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt sogar die mächtigste Volkswirtschaft der Welt ist und von allen Ländern die größten Devisen – und Goldreserven besitzt. Der Name Renminbi bedeutet „Volkswährung“ oder „Volksgeld“, Er ist der Name für die chinesische Währung im Allgemeinen, nicht aber für die Geldeinheit. Die chinesische Geldeinheit ist der Yuan. Ein Euro entsprach im Herbst 2024 etwa acht Yuan. Die chinesische Zentralbank legt ihre riesigen Überschüsse überwiegend in auf Dollar lautende US-Staatsanleihen an.[1] Andererseits hat China im ersten Quartal 2024 US-Anleihen im Wert von 53,3 Milliarden US-Dollar verkauft, ein historischer Höchststand, der als ein Element der De-Dollarisierung gedeutet werden könnte.
Doch Vorsicht:
Trotz eines Bedeutungsverlustes wird der US-Dollar nach wie vor global als Welt- und Leitwährung akzeptiert.
Mit ihm wird die Hälfte aller internationalen Zahlungen verrechnet und beglichen. Daneben haben mehrere Länder ihre Währungen fest an den US-Dollar gebunden, wie die Bahamas, Barbados, Eritrea, Jordanien, Katar, Libanon, Grenada, Saudi-Arabien u.a. Die Ölförderländer Oman, Saudi-Arabien und Katar haben ihre Währungen mit dem US-Dollar verknüpft, weil die USA ihr wichtigster Handelspartner für Öl ist. Die Zentralbank von Oman hat z. B. den Wert des omanischen Rial auf 2,6008 US-Dollar festgelegt und ihn damit fest mit der US-Währung verbunden. Der Kurs des Rial schwankt wie der des Dollar. Auch die Währung der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong – der Hongkong-Dollar – ist an den US-Dollar gekoppelt, die Währungen von Singapur und Malaysia waren es gewesen. Es gibt sogar Staaten wie die lateinamerikanischen Länder Panama, Ecuador und El Salvador, die den US-Dollar als inländische Hauptwährung eingeführt haben.
Der Dollar zirkuliert in den nationalen Wirtschaftskreisläufen, wofür die Staaten über entsprechende Dollarreserven verfügen müssen. Länder, in den der US-Dollar die offizielle staatliche Inlandswährung ist, verzichten zwangsläufig auf eine eigene Währungspolitik. In vielen Ländern mit einer schwachen Währung ist eine gute Zweitwährung begehrt und im Umlauf. Inländer und Touristen bevorzugen sie. Als Zweitwährung fungiert meist der US-Dollar, zum Beispiel in Kambodscha, Simbabwe und Liberia, aber auch in Mexiko, in Chile oder in Brasilien und Argentinien, den immerhin achtgrößten Staat der Erde. In Argentinien ist es erlaubt, Verträge in Dollarwährungen abzuschließen und Rechnungen in US-Dollar auszustellen.
In Kuba konnte früher der für Touristen verfügbare konvertible Peso nur gegen Euro getauscht werden. Der US-Dollar wurde dort offiziell nicht akzeptiert. So war es nicht möglich, in den Geschäften und Restaurants in Kuba direkt mit US-Dollar zu bezahlen. Die kubanische Regierung hat die Restriktionen gelockert. Der US-Dollar kann nun offiziell in Kuba verwendet werden. Viele Geschäfte und Anbieter von Dienstleistungen akzeptieren ihn als Zahlungsmittel.
De-Dollarisierung bedeutet, die Dollar-Hegemonie zu beenden, die über Jahrzehnte anhaltende, unangefochtene Dominanz des US-Dollars in den Weltfinanzbeziehungen zu überwinden.
Die Gründe sind leicht einzusehen. Drastische finanzielle Sanktionen, zum Beispiel gegenüber dem Iran oder Russland, zeigen, dass die Weltmacht USA ihre Währung als Waffe gegen unliebsame Staaten einsetzt. Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) benutzen den US-Dollar als Druckmittel gegenüber Nationen, die den USA und ihren westlichen Verbündeten suspekt sind oder die sich in Not befinden.
Russische Banken wurden von internationalen Zahlungstransaktionen abgekoppelt, die Auslandsreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Der Westen verweigert den russischen Gläubigern den Zugriff auf ihre Euro- und Dollarguthaben, der Schuldner bricht sein Versprechen, dem ausländischen Inhaber dessen Geld zurückzuzahlen – „eine kalte Enteignung von gut 300 Milliarden Euro“ gegenüber der russischen Zentralbank, sagt Lucas Zeise.[2]
US-Dollar und Euro werden „militarisiert“. Von den USA und Westeuropa als Waffen missbraucht, untergraben sie das Vertrauen, das die Geld- und Währungssysteme benötigen, um zu funktionieren. Aaron Sahr spricht von einer „monetären Kriegführung“. Er nennt die Abkopplung russischer Banken vom westlichen Nachrichten- und Zahlungsverkehrssystem SWIFT, sich auf das „Handelsblatt“ beziehend, eine „finanzielle Atombombe“.[3] SWIFT ist die Abkürzung für „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“. Die 1973 gegründete und in Belgien ansässige Gesellschaft stellt die technischen Mittel zur Verfügung, damit die Geldinstitute über Landesgrenzen hinweg Banküberweisungen und andere Finanztransaktionen wie Wertpapier- und Edelmetallgeschäfte schnell und sicher abwickeln können.
Mehr als 11 000 Teilnehmer in 210 Ländern nutzen nach Angaben von SWIFT den Dienst. Rund die Hälfte des internationalen Zahlungsverkehrs wird in US-Dollar, gut ein Fünftel in Euro abgewickelt. Der Westen schloss Russland aus dem internationalen Finanzsystem aus und zwingt es, Alternativen zu suchen. Der Vorgang besitzt grundsätzliche Bedeutung, die über die geopolitischen Aspekte finanzieller Sanktionen hinausgehen. Welcher Staat sollte weiter Euro- und Dollarguthaben aufbauen, wenn diese von heute auf morgen für nichtig erklärt werden können? Was einigermaßen funktioniert, solange „die USA mehr oder weniger die unumstrittene Hegemonialmacht waren, wird sich in der multipolaren Welt der Gegenwart wahrscheinlich nicht mehr umsetzen lassen“, schreibt Sahr. „Ansprüche gegen das europäische oder US-amerikanische Bankensystem zu halten, könnte von anderen Ländern zunehmend als geostrategisches Sicherheitsrisiko eingeschätzt werden. Sie werden also womöglich, wie es Russland, Indien oder China bereits versuchen, nach alternativen Arrangements zur Abwicklung internationaler Zahlungen suchen.“[4]
In den BRICS-Staaten lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung, im erweiterten Bündnis sogar 70 Prozent. Sie produzieren 35 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts, die G7- Staaten 30 Prozent.
Die Teilnehmerstaaten bekräftigten auf dem 16. Gipfeltreffen in Kasan ihre Intentionen. In ihrer Abschlusserklärung – „Kazan Declaration“ – verurteilen sie die westlichen Sanktionen und sehen Maßnahmen vor, um die wirtschaftliche Kooperation im Bündnis zu fördern und zu stärken. Sie bekennen sich ein weiteres Mal zu der bekannten Absicht, sich vom westlichen, also vom US-Dollar und Euro-zentrierten Finanzsystem zu lösen.
So wollen sie im gegenseitigen Handel und für Kredite verstärkt nationale Währungen nutzen, dabei die Rolle der BRICS-eigenen NEW Development Bank (NDB) stärken sowie analog dem SWIFT-Modell ein grenzüberschreitendes BRICS-Zahlungssystem und einen Clearing-Mechanismus errichten, eine digitale Abwicklungs- und Zahlungsplattform im BRICS-Rahmen.
Die NDB soll Kredite zu günstigen Bedingungen in lokalen Währungen ausreichen, um die Infrastruktur zu modernisieren, den Wohnungsbau zu finanzieren und die nationale Produktion der Bündnisländer voranzubringen und zu stärken. Doch konkrete Fortschritte erreichten die Teilnehmer des Gipfeltreffens nicht. In Kasan verabredeten die Mitgliedsländer lediglich zu prüfen, inwieweit eine unabhängige Zahlungs- und Reserveplattform (BRICS-Clear) installiert werden kann. Über den bisherigen Stand kam man nicht hinaus. Es ist daher kaum damit zu rechnen, dass in Bälde ein unabhängiges BRICS-Zahlungssystem errichtet wird, obwohl sich 159 Länder bereiterklärt haben sollen, es zu übernehmen, Länder, die keine guten Beziehungen zu den USA haben und der Ansicht sind, dass die USA das SWIFT-System gegen sie einsetzen.[5] Die geld- und finanzpolitischen Absichtserklärungen waren erwartet worden. Doch Walentina Matwijenko, die Vorsitzende des Föderationsrates in Russland, dem Oberhaus des russischen Parlaments, hatte vor dem Gipfel gehofft und angekündigt, dass die Festlegungen einschlagen würden wie eine Bombe. Auch einige westliche Journalisten hatten Arges befürchtet. Sie spekulierten, die Teilnehmerstaaten könnten sich zu einer gemeinsamen Währung entschließen, über die sie schon viele Jahre diskutiert hatten. Aber die Teilnehmer des Kasaner Treffens ließen keine „Bombe“ platzen. Weitreichende, schnelle und konkrete Fortschritte blieben aus.
Das Interesse der mächtigen Mitgliedstaaten China und Indien ist zu groß, ihre globalen Geschäfte innerhalb des Dollarraums auszubauen. Ein radikaler Bruch mit dem westlich dominierten Weltfinanzsystem würde das sehr erschweren. Er steht für beide Länder nicht zur Debatte.
Wie könnte es weitergehen?
Sicher ist, dass die Zukunft ungewiss ist. Möglich erscheint Vieles.
Der brasilianische Präsident Luiz Inácio hatte 2023 vorgeschlagen, eine BRICS-eigene Währung als Alternative zum US-Dollar zu schaffen. Die Vorstellung über eine eigene Währung – das BRICS-Großprojekt – gibt es schon seit längerem. Sie gedieh, ist kein Hirngespinst, aber keineswegs ausgereift. Die denkbare und erwünschte Einheitswährung wurde zunächst unter dem Arbeitstitel R5 diskutiert. Die Landeswährungen der fünf BRICS-Staaten beginnen mit dem Buchstaben R. Brasilien hat den Real, Russland den Rubel, Indien die Rupie, China den Renminbi-Yuan und Südafrika den Rand. Es war vorgeschlagen worden, die Schwäche und Instabilität der fünf Währungen zu beheben, indem die Einheitswährung an das Gold gekoppelt wird. Gold gilt zwar als politisch neutral und als eine wertvolle, sichere Anlage, jedoch ist es unwahrscheinlich, dass es zu einer goldgedeckten BRICS-Währung kommt, auch wenn die Zentralbanken der BRICS-Länder seit Beginn des Jahres 2023 800 Tonnen Gold erworben haben, China allein 225 Tonnen.[6]
Das Projekt einer gemeinsamen Rechnungseinheit wurde auch unter dem Namen UNIT (United New International Trade) diskutiert. UNIT sollte vergleichbar sein mit dem transferablen Rubel des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die Überlegungen gingen davon aus, den Wert der gemeinsamen Rechnungseinheit zu 40 Prozent an den Wert des Goldes und zu 60 Prozent an einen Korb nationaler Währungen der BRICS-Länder zu binden. Der Vorteil wäre, dass die Rechnungseinheit, die in jede nationale Währung umgewandelt werden kann, liquider und praktikabler ist als jede von ihnen. Doch das Projekt der gemeinsamen Währung und Rechnungseinheit wurde auf dem Gipfel nicht weiter verfolgt. Offenbar setzen die Teilnehmer zunächst auf die stärkere Nutzung ihrer nationalen Währungen im gegenseitigen Handel und Kapitalverkehr, um den Dollar aus dem Zahlungsverkehr zwischen ihnen zu verbannen, ohne die Hoffnung auf eine gemeinsame Währung gänzlich aufzugeben.[7] „Banken, Zentralbanken und die Entwicklungsbanken sollen demnach enger zusammenrücken und den Zahlungsverkehr untereinander verstärkt in den Landungswährungen regeln. ‚Eine dringende Aufgabe besteht darin, die Verwendung nationaler Währungen zur Finanzierung von Handel und Investitionen zu fördern‘, fasste Putin auf der Gipfelsitzung im erweiterten Rahmen das Anliegen der Teilnehmer zusammen.“[8] Neue praktische Schritte, eine eigene Währung zu etablieren, unterblieben in Kasan. Lucas Zeise hat recht, dass es schwer ist, eine Währung per Dekret oder Beschluss aus dem Boden zu stampfen, die überall akzeptiert wird.[9] Statt sich auf eine gemeinsame Währung zu einigen, ist zu erwarten, dass die BRICS-Staaten vorerst ein Netzwerk bilateraler und minilateraler Institutionen wie etwa Swap-Linien, Clearing-Banken und Zahlungsinfrastrukturen schaffen, die Transaktionen in lokaler Währung erleichtern und die „Ent-Dollarisierung“ auf andere Weise voranbringen.[10]
Es ist davon auszugehen, dass die aktuelle Dollar-Dominanz für eine absehbare Zeit erhalten bleibt, sich aber weiter abschwächen könnte.
Der Dollar wird die internationale Leitwährung bleiben, muss aber weiter verstärkt um seine unangefochtene Position bangen.
Der Euro und der chinesische Renminbi werden wie bereits heute ihren Einfluss in der Nachbarschaft der Eurozone behaupten, aber auf globaler Ebene die Rolle des US-Dollar als internationale Währung erst einmal nicht ernsthaft gefährden.
China wickelt beispielsweise mit dem von westlichen Finanzsanktionen betroffenen Iran Ölexporte in seiner Landeswährung Renminbi ab. Auch mit anderen Staaten ist das denkbar. Erleichtert würde die stärkere internationale Verwendung der chinesischen Währung, wäre sie vollständig konvertibel. Weshalb aber sollte Saudi-Arabien z. B. einen nichtkonvertiblen Renminbi akzeptieren, wenn der Bedarf an chinesischen Gütern überschaubar ist, und warum sollte das Indien tun, das sein Öl aus dem Ausland mit Rupien bezahlen darf?
Solange die BRICS-Staaten starke Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit den Ländern des Dollar-Raums unterhalten, erscheint es realistisch, dass der US-Dollar für viele Länder auch weiterhin das geeignete Mittel zum Tausch und zur Wertaufbewahrung bleiben wird, solange er uneingeschränkt international konvertibel ist und jederzeit gewinnbringend angelegt werden kann, sei es als Direktinvestitionen, Aktien oder Kredite.
Mittel- und langfristig kann nicht ausgeschlossen werden, dass mehrere gegeneinander konkurrierende Währungsblöcke entstehen und sich festigen. Ein Renminbi-Block könnte sich als Gegengewicht zum Dollarblock bilden. Das Szenario stimmt überein mit den Bekundungen der BRICS-Staaten, den Einfluss des US-Dollars in den weltwirtschaftlichen Beziehungen zurückzudrängen.
Dagegen spricht momentan noch, dass China fest in das globale Dollarsystem eingebunden ist. Sein exportgetriebenes Wachstum baut auf die Nachfrage aus den USA. Ein Ausbrechen aus dem Dollarraum hätte negative Folgen für die chinesische Wirtschaft. Insgesamt führen die unterschiedlichen Interessen der BRICS-Mitgliedsländer, insbesondere die speziellen Chinas, des wirtschaftlich mächtigsten Landes unter ihnen, dazu, dass eine finale De-Dollarisierung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.
Doch langfristig ist es möglich, dass sich ein eigenes BRICS-Währungssystem mit einer elektronischen Währung durchsetzen kann und den US-Dollar als Transaktionseinheit des internationalen Handels weiter zurückdrängt.[11]
Trotz magerer Ergebnisse in Kasan, ist die Brics-Gruppe „eine ernstzunehmende Herausforderung für den Westen“, sagt Fredy Gsteiger, diplomatischer Korrespondent des Schweizer Radio und Fernsehen (SRF).
„Der muss erst lernen, wie er damit umgehen will. Eine Totalkonfrontation ist kein taugliches Rezept. Aber will man nicht einfach zusehen, wie der eigene weltweite Einfluss schwindet […], bräuchte es erheblich mehr westliche Einigkeit und Entschlossenheit. Und eine verlässliche Führungsmacht, welche die politisch volatilen USA nicht mehr vollumfänglich sind.“[12]
[1] Lucas Zeise, Kampf um den US-Dollar, in: junge Welt, Beilage „Welt im Umbruch“, 23. 10. 2024, S. 5.
[2] ebenda
[3] Aaron Sahr, Waffenfähige Ansprüche. Zur Militarisierung des Geldes im Ukrainekrieg, in: Aaron Sahr (Hrsg.), Geldpolitik im Umbruch, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Band 11064, Bonn 2024, S. 197 f., 201.
[4] Ebenda, S. 112.
[5] https://krypto-guru.de/news/brics-zahlungssystem-de-dollarisierung/, 30.10.2024.
[6] https://www.kettner-edelmetalle.de/news/brics-staaten-setzen-auf-gold-us-dollar-reserven-auf-historischem-tiefstand-04-10-2024, 03.11.2024.
[7] „Wir werden uns trotzdem einer Lösung nähern“, hatte Putin noch auf dem vorangegangen Gipfel 2023 per Videoschalte in Johannesburg trotzig-forsch erklärt. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/brics-waehrung-dollar-alternative-1.6171793, 31.10.2024. In Kasan war von einer gemeinsamen BRICS-Währung als Alternative zum US-Dollar keine Rede mehr.
[8] https://finanzmarktwelt.de/brics-gemeinsame-waehrung-bleibt-fata-morgana-327579/, 03.11.2024.
[9] Lucas Zeise, a.a.O.
[10] https://www.faz.net/pro/weltwirtschaft/finanzwelt/globales-finanzsystem-die-brics-schleichen-sich-vom-dollar-davon-110074298.html, 03.11.2024.
[11] Wolfgang Elsner, Gefährlicher Machtverlust, in: junge Welt, Beilage „Welt im Umbruch“, 23.10.2014, S.8.
[12] https://www.srf.ch/news/international/gipfel-in-russland-brics-staaten-einig-ueber-wenig-aber-geeint-gegen-den-westen, 31.10.2024.
XVI. BRICS-Gipfel vom 22. bis 24. Oktober 2024 in Kasan/Russland. Welcher Stellenwert ist ihm zuzumessen?
Der XVI. BRICS-Gipfel in Kasan war eine reine inszenierte Putin-Show.
Folgt man einer derartigen Bewertung, so liegt der Eindruck nahe, dass es bei der Einschätzung des Treffens auch darum gehen sollte, BRICS als seit 2009[1] bestehender nicht-westlicher Staatenverbund insgesamt zu diskreditieren. Und schlimmstenfalls bot sich der Gipfel sogar noch an, ein zusätzliches Feindbild für den Westen zu konstruieren.
Dies alles erfolgte entweder aus Arroganz oder Ignoranz gegenüber den sich global - geoökonomisch wie geopolitisch - vollziehenden grundlegenden Wandlungen staatlicher Kooperation in Richtung auf eine eher multipolar verfasste Weltordnung.
Indessen kommt aber gerade diesem XVI., turnusmäßig in Russland durchgeführten Staaten-Gipfel zumindest in dreierlei Hinsicht eine besondere Bedeutung in der bisherigen, erst jungen Geschichte des BRICS-Staatenverbundes zu:
Zum einen repräsentiert er dessen eigenes, quantitativ gewachsenes Gewicht,
zum zweiten stellt er wichtige Weichen für Ausmaß und Tempo seines weiteren Wirkens für eine sich an der Multipolarität ausrichtende internationale Ordnung und
zum dritten sucht er sich qualitativ neu heranreifenden Inner-BRICS-Entwicklungserfordernissen zu stellen.
Bevor aber auf diesen Gipfel näher eingegangen wird, sollen erst einmal noch die objektiven Grundlagen für das Entstehen und erklärte Streben des BRICS-Staatenverbundes nach einer multipolaren Weltordnung kurz in Erinnerung gerufen werden.
Eine Antwort auf sich verfestigende transatlantische Unipolaritätsbestrebungen
Dass sich BRICS überhaupt formiert hat, steht zweifellos im Zusammenhang mit dem von den USA – berauscht vom Triumpf über den zusammengebrochenen Ostblock - seit Ende der 1990er Jahre eingeschlagenen Kurs zur rigorosen Durchsetzung ihres alleinigen Hegemonieanspruchs in der Welt.
Gemeint sind dabei in erster Linie folgende Ereignisse: 1998 der NATO-Ost-Erweiterungsbeschluss; 1999 der völkerrechtswidrige Krieg gegen Serbien, dem danach noch eine Reihe weiterer derartiger Kriege gefolgt sind sowie im Jahr 2000 die Verabschiedung der Militärdoktrin „Full Spectrum Dominance“.
Währenddessen begannen sich mit dem etwa zeitgleich erfolgenden wirtschaftlichen Aufschwung von Schwellenländern, insbesondere dem Aufstieg Chinas von einem Entwicklungsland zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht in der Welt, die internationalen Koordinaten in Richtung Multipolarität zu verschieben. Das beschreibt einen Trend, der sich seither sukzessive immer weiter verstärkt hat. Und mittlerweile sieht sich eine wachsende Zahl von Staaten, insbesondere des globalen Südens, ermutigt, ihre nationalen Interessen stärker in den internationalen Beziehungen einzubringen und wirken zu lassen. Das geschieht, Indem sie gegenüber den USA undanderen westlichen Ländern selbstbewusster auftreten und ihre außenwirtschaftlichen wie außenpolitischen Beziehungen deutlich multi-vektoraler zu gestalten suchen.
Wenn man so will, hat der Westen mit seinem Beharren auf die alleinige Hegemonie selbst dazu beigetragen, das allmähliche Ende des Zeitalters globaler euroatlantischer Vorherrschaft über die südliche Hemisphäre einzuläuten.
Umso mehr sollten USA- und andere westliche Politiker doch eigentlich auch daran interessiert sein, „ein echtes multipolares System zu schaffen, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Kerninteressen jeder Nation beruht“[2], anstatt sich mit allen verfügbaren Mitteln einer weiteren Multipolarisierung der internationalen Ordnung entgegenzustellen. Der BRICS-Staatenverbund versteht sich weder als ausdrücklich anti-amerikanisch oder anti-westlich. Ebenso strebt er nicht danach, sich als nichtwestliches Pendant in der Art einer elitären Steuerungsgruppe fungierenden westlichen G-7 profilieren zu wollen.
Zudem lassen sich noch gewichtige Fakten und Zahlen benennen, die auch im Vergleich zu der G-7 durchaus zugunsten von BRICS zu Buche schlagen. So entfielen auf die G-7 zum Zeitpunkt ihrer Formierung Mitte der 1970er Jahre noch 70 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, während sich dieser Anteil inzwischen nahezu halbiert hat.
BRICS steht inzwischen für 39 Prozent der weltweiten Industrieproduktion, im Vergleich zum Anteil der G-7, der noch 31 Prozent beträgt. Bei der Weltweizenproduktion zeigt sich ein s Verhältnis von 44 Prozent zu 19 Prozent zugunsten Von BRICS.[3]
Überdies repräsentiert BRICS mittlerweile bereits fast die Hälfte der Weltbevölkerung, die G-7 hingegen lediglich etwa ein Zehntel. In der Rangfolge der weltstärksten Wirtschaftsmächte belegen die BRICS-Mitglieder China den zweiten und Indien den fünften Platz und zudem übertrifft Brasiliens Wirtschaft die von Italien und Kanada zusammengenommen.
Dies alles ignorieren zu wollen und stattdessen jene Staaten, die ihre eigenen Entwicklungsinteressen befolgen, der westlichen Hegemonie unterzuordnen versuchen, widerspricht zunächst Buchstaben und Geist der UN-Charta. Darüber hinaus sieht sich BRICS dadurch in seinem Ansinnen gestärkt, auf ein demokratischeres und gerechteres internationales System hinzuwirken.
Der BRICS-Verbund kann sich zunehmender Unterstützung erfreuen, wovon allein das große Interesse eines immer breiteren Kreises von Ländern zeugt, die an einer Mitwirkung in dessen Reihen Interesse bekunden. Da die USA, so die Feststellung in einem Artikel der US-amerikanischen Foreign Affairs vom 24. September 2024 immer weniger in der Lage seien, die globale Ordnung einseitig zu gestalten, versuchten viele Länder, ihre eigene Autonomie zu stärken, indem sie sich alternativen Machtzentren zuwendeten. Und dabei würden die BRICS - Länder als die bedeutendsten, relevantesten und potenziell einflussreichsten hervorstechen.[4]
Die Erweiterung um neue Mitglieder
Mit der auf dem XV. Gipfel 2023 in Johannesburg/Südafrika beschlossenen Aufnahme von Ägypten, Äthiopien, Iran, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) als neue Mitglieder[5] fungiert BRICS nunmehr als BRICS Plus, als ein Verbund von neun Staaten.
Saudi-Arabien, welchem gleichfalls eine Mitgliedschaft angeboten worden war, beteiligte sich bislang als eingeladenes, aber nicht formell beigetretenes Mitglied an den verschiedensten Aktivitäten und Programmen. Gemäß der Aussage seines Außenministers wolle es „seine Partnerschaft mit der BRICS-Gruppe weiterhin stärken und die Horizonte der Kooperation in allen Feldern ausbauen, in einer Weise, um Entwicklung und Prosperität auf der internationalen Ebene zu erreichen“[6].
Zwischen quantitativem Wachstum und qualitativ neuen Erfordernissen
Was den jüngsten, den XVI. Gipfel, betrifft, so war er unter das Motto gestellt
„Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit“.
Am hervorstechendsten war zweifellos, daß es sich bei diesem um den ersten Gipfel in der quantitativ erweiterten BRICS-Struktur handelte und damit in Kasan erstmalig die Vertreter des nunmehr neun Staaten umfassenden Verbundes auf höchster Ebene persönlich versammelt waren und gemeinsam debattierten.
Beim Gipfel waren insgesamt Delegationen aus 35 Staaten anwesend, 22 davon vertreten durch die Staats- bzw. Regierungschefs, zudem Spitzenvertreter von sechs internationalen Organisationen, darunter die UNO mit ihrem Generalsekretär Antonio Guterres.
Den organisatorischen Rahmen bildeten zwei Formate, die von einer Vielzahl bilateraler Gespräche begleitet wurden. Das eine Format betraf die Beratung im Kreis der neun Vollmitglieder, das andere, „BRICS Plus/Outreach“ war ein Treffen zum Thema „BRICS und der Globale Süden – gemeinsam eine bessere Welt errichten“.
Die Veranstaltungen um BRICS
Dem Gipfeltreffen vorausgegangen waren rund 200 vielfältigste Veranstaltungen, die sich auf 13 russische Städte unter dem BRICS-Logo verteilten. So erfolgte etwa ein Treffen der BRICS-Außenminister am 10. Juni d.J. in Nishni Nowgorod mit dem Ergebnis einer verabschiedeten 54 Punkte umfassenden „Gemeinsamen Erklärung“; unter den Teilnehmern Saudi-Arabien. Im gleichen Monat fanden in Kasan die 27 Sportarten umfassenden „BRICS-Sportspiele“ statt, ebenso der BRICS-Politische Parteien Dialog in Wladiwostok, im Juli der BRICS-Jugend-Gipfel in Uljanowsk sowie das BRICS-Parlamentarische Forum in St. Petersburg.
Beim Treffen der Vollmitglieder standen als Fortsetzung vorausgegangener Gipfel insbesondere zwei Problemkomplexe im Mittelpunkt der Debatte:
Zum einen ging es um eine tiefere finanzielle Kooperation innerhalb des BRICS Plus-Verbundes. Sich zu einer vertieften Partnerschaft im finanziellen Bereich bekennend, sollen zum einen die Kommunikationen zwischen den jeweiligen Banken verstärkt sowie ein Mechanismus für ein gegenüber äußeren Risiken immunes Bezahlsystem auf der Basis nationaler Währungen entwickelt werden.
Zu einem weiteren erfolgte die Beratung zur weiteren quantitativen Erweiterung der Gemeinschaft. Es ging vor alle darum, wie damit umzugehen sei, dass über 30 Länder in der einen oder anderen Form ihr Interesse an einer Mitwirkung in BRICS anmeldeten, gleichzeitig aber sicherzustellen sei, dass die Effektivität des BRICS-Mechanismus beibehalten wird. würde. Bereits in Johannesburg hatten sich die damaligen fünf Mitglieder darauf geeinigt, Modalitäten für eine neue Kategorie – und zwar die von Partnerstaaten – auszuarbeiten.[7]
Zum damaligen Zeitpunkt waren noch explizit Einladungen zu unmittelbarer Vollmitgliedschaft ausgesprochen worden, während es nun um einen möglichen Status einer BRICS-Partnerschaft ging. Manche sprechen deshalb auch von einer Art Kandidatenstatus. Laut einer bislang nicht autorisierten Liste ist zunächst von 13 Staaten[8] auszugehen, die nahezu über den gesamten Globus, einschließlich Europa, verteilt sind. Jedoch ist dabei eine deutliche Präferenz des zentralasiatisch-/südostasiatischen Raumes zu erkennen sowie das bekundete Interesse weiterer Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit.
Und das geschieht ganz offensichtlich in Übereinstimmung mit dem von BRICS postulierten Prinzip des Respekts gegenüber der religiös-kulturellen und traditionellen Vielfalt.
Außer den drei neueren Vollmitgliedern – Ägypten, Iran, VAE – kämen nun noch weitere partnerschaftlich assoziierte Staaten hinzu, wie beispielsweise Algerien, Indonesien, Malaysia, Usbekistan sowie die Türkei. Deren Assoziierung scheint allerdings wegen ihrer NATO-Mitgliedschaft durchaus nicht unumstritten zu sein.
BRICS präsentiert sich aber nunmehr in Gestalt seiner neun Vollmitglieder plus der 13 partnerschaftlich Assoziierten, eingedenk der noch ausstehenden Entscheidung von Saudi-Arabien, wie es endgültig weiter verfahren will – auf dem XVI. Gipfel in Kasan als quantitativ gestärkter transkontinentaler Staatenverbund.
Und damit erhöht sich natürlich auch seine Autorität als eine gewichtige Stimme der globalen Mehrheit in der Welt und insbesondere des globalen Südens.
Gleichwohl lässt sich dies durchaus auch als ein Indikator für eine sich global in Richtung Multipolarität vollziehende Machtverschiebung begreifen.
Hinzu kommt noch ein unbestreitbar zu beobachtendes Faktum, dass sich verschiedene BRICS-Staaten – und dies in bemerkenswertem Gegensatz zu westlichen Zusammenschlüssen wie beispielsweise der G-7 – im Herangehen an bestehende Konflikte und andere Krisen betont bemühen, um Ausgewogenheit und fairen Interessenausgleich durch Dialog und Verhandlungen zu erzielen.
So haben im Ukraine-Konflikt Brasilien und China konkrete Schritte zur Beendigung der Kampfhandlungen und zur Aufnahme von Friedensgesprächen unterbreitet.
Die beiden BRICS-Gründungsmitglieder China und Indien sind erklärtermaßen nun dabei, ihre Grenzstreitigkeiten in der Himalaja-Region am Verhandlungstisch beizulegen; dafür spricht auch, dass sich bei diesem Gipfel nun nach längerer Zeit der chinesische Präsident Xi Jinping und der indische Ministerpräsident Narendra Modi wieder zu einem direkten Gespräch zusammengefunden haben.
Dank chinesischer Vermittlung nähern sich seit Anfang 2023 auch die beiden als Erzfeinde geltenden Golfstaaten Iran und Saudi-Arabien schrittweise weiter an und ein Normalisierungsprozeß scheint sich abzuzeichnen – ungeachtet der weiterhin bestehenden und zu überwindenden Hindernisse; im Ergebnis ein insgesamt positiv auf die gesamte Golfregion auszustrahlender Effekt.
Hinsichtlich der Kriege und Konflikte in der Nah- und Mittelostregion treten die BRICS-Staaten entschieden für eine sofortige Beendigung der Kampfhandlungen und die Überwindung der humanitären Notlage sowie die Freilassung aller Geiseln ein.
Während sich die USA und die meisten ihrer westlichen Verbündeten uneingeschränkt an die Seite Israels stellen, treten die Forums-Teilnehmer nachdrücklich für das legitime Recht des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung ein. Dementsprechend suchen sie nach gangbaren Wegen für eine dauerhafte Friedenslösung, einschließlich der Überwindung der Spaltung innerhalb der palästinensischen Nationalbewegung.
Wie schon auf dem vorangegangenen Gipfel stand auch in Kasan die ungelöste Palästina-Frage in einem besonderen Fokus, einschließlich einer dezidierten Lagebeschreibung bisheriger Kriegsfolgen in der einstimmig verabschiedeten Abschlusserklärung.
Kazan Declaration
Diese, zugleich mit dem Gipfel-Motto betitelte „Kazan Declaration“[9], ist eine nachdrückliche Bekräftigung des BRICS-Bekenntnisses zu einer, auf dem Völkerrecht und den Prinzipien der UN-Charta basierenden demokratischen, inklusiven, multipolaren Welt.
Manche Analysten bezeichnen die Declaration auch als das „Manifest einer neuen Weltordnung“.[10]
32 Seiten und 134 Einzelpunkte umfassend, ist sie – in der Einleitung speziell das Bekenntnis zur weiteren, auf der Basis gegenseitigen Respekts und Konsenses beruhenden Stärkung des BRICS-Verbundes bekräftigend - in vier inhaltliche Abschnitte gegliedert:
a) Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte und demokratische Weltordnung,
b) Stärkung der Kooperation für globale und regionale Stabilität und Sicherheit,
c) Förderung der wirtschaftlichen und finanziellen Kooperation für gerechte globale Entwicklung und
d) Stärkung des Austausches zwischen den Menschen für soziale und ökonomische Entwicklung.
Mit den darin enthaltenen Positionen stellt diese Deklaration ein realistisches, mit einem optimistischen Blick in die Zukunft gewandtes Grundsatzdokument dar.
Oder anders ausgedrückt: Es ist eine Art Kompendium für eine schrittweise Veränderung der gegebenen internationalen Verhältnisse zugunsten einer gleichberechtigteren Teilhabe auch der Länder der nichtwestlichen Welt, insbesondere jenen des globalen Südens an der globalen Governance.
Dies spiegelt sich in einer auffälligen Balance wider zwischen einer Orientierung auf eine Reformierung bestehender, in der Regel westlich dominierter Institutionen, wie z.B. dem IWF auf der einen Seite und auf der anderen einer Etablierung eigener Körperschaften, so in Gestalt der BRICS-eigenen National Development Bank (NDB).
Dies zeigt sich beispielsweise auch darin, dass der WTO die volle Unterstützung zugesagt wird und gleichzeitig die Ankurbelung des Inner-BRICS-Handels wie etwa die Süd-Süd-Kooperation erfolgen soll.
Als eine Zusammenfassung der unter den vier Abschnitten der Declaration subsummierten und vom Bekenntnis zum Multilateralismus geleiteten Grundsätzen bieten sich insbesondere die folgenden Erkenntnisse an:
- Anerkennung der zentralen Rolle der UNO im internationalen System auf der Grundlage der in ihrer Charta verankerten Grundprinzipien bei gleichzeitigem Eintreten für eine umfassende Reform der UNO, einschließlich des Sicherheitsrates durch Gewährleistung einer dortigen ständigen Präsenz aus dem Entwicklungsländerbereich; Ablehnung ungesetzlicher unilateraler Maßnahmen, einschließlich Sanktionen, in der Weltwirtschaft, im Handel und bei der Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele; Forderung nach Reform der Bretton-Woods-Institutionen, einschließlich einer stärkeren Präsenz der Entwicklungs- und Schwellenländer in Führungspositionen; Anerkennung des G-20-Formats als wichtigstes globales Forum für multilaterale Wirtschafts- und Finanzkooperation sowie als Plattform für Dialog zwischen entwickelten und Schwellenländern; Forderung nach einer Menschenrechtspolitik jenseits selektiven und politisierten Herangehens sowie ohne Doppelstandards.
- Eintreten für friedliche Beilegung von Streitigkeiten durch Diplomatie, Mediation, inklusiven Dialog und Konsultationen in koordinierter und kooperativer Weise; Anerkennung des Prinzips der gegenseitigen Sicherheit sowie von Toleranz und friedlicher Koexistenz als bedeutendste Werte und Prinzipien zwischen Nationen und Gesellschaften; Unterstreichung der Notwendigkeit des Engagements für Konfliktpräventionen insbesondere durch Adressierung der Konfliktursachen; Verurteilung von Terrorismus in allen seinen Formen bei gleichzeitiger Forderung nach dessen Bekämpfung ohne doppelte Standards.
- Unterstreichung der Schlüsselrolle der NDB bei der Beförderung der Infrastruktur und nachhaltigen Entwicklung der BRICS-Mitgliedsländer. Unterstützung der NDB bei der kontinuierlichen Ausdehnung lokaler Währungsfinanzierungen sowie bei der stärkeren Innovation bezüglich Investments und Finanzierungsinstrumenten; Eintreten für ein faires landwirtschaftliches Handelssystem nach dem Muster der von Russland initiierten Plattform für den Getreidehandel und Implementierung einer resilienten und nachhaltigen Landwirtschaft zur Gewährleistung der Nahrungssicherheit vor allem in den schwach entwickelten Ländern des globalen Südens.
Mag man zu BRICS stehen, wie man will. Aber niemand wird bestreiten können, dass sich dieser erst vor 15 Jahren offiziell formierte Staatenverbund inzwischen zu einem ernst zu nehmenden Machtblock für die westlicherseits beanspruchte alleinige Hegemonierolle in der Welt entwickelt hat. Dem Staatenverbund ist in erster Linie daran gelegen, eine globale Governance zu etablieren, die den heutigen kräftemäßigen Gegebenheiten in der Welt Rechnung trägt und sich nicht allein auf frühere Zeiten, schon gar nicht auf die zu Ende des zweiten Weltkrieges festlegt, als viele der heute aufstrebenden Staaten erst noch dabei waren, sich vom jahrhundertealten Kolonialjoch zu befreien.
Die BRICS „Mission“ ist in erster Linie darin zu sehen, die Inner-BRICS-Wirtschaftsbeziehungen wie überdies die Süd-Süd-Kooperation zu befördern und zu deren sozio-ökonomischen Entwicklung beizutragen; als eine Interessenvertretung für die ehemals kolonial abhängigen Länder des globalen Südens zu fungieren bei deren Streben nach gleichberechtigter Stellung im internationalen Geschehen; den Dialog zwischen den Kulturen und Zivilisationen zu befördern sowie vor allem statt der westlicherseits ausgegebenen konfrontativen Orientierung „Demokratien versus Autokratien“ den Geist von Diplomatie und fairen Interessenausgleichen, von gegenseitig nützlicher Kooperation zu befördern helfen.
So gesehen handelt es sich bei BRICS um ein durchaus unikales Herangehen, welches schon deshalb großen Respekt verdient und das möglicherweise auch als Beispiel für die sich im internationalen Geschehen auszugestaltende Multipolarität dienen könnte.
Mit anderen Worten ausgedrückt: BRICS ist quasi als eine Art „Weltexperiment“ anzusehen, als ein Spiegelbild dessen, was auf internationaler Ebene anzustreben ist, in vielfältiger Weise plural zu sein und daraus resultierende unterschiedliche Interessenlagen im gegenseitigen Einvernehmen auszubalancieren.
So verkörpert BRICS eine Gruppe souveräner Staaten, die auf verschiedenen Kontinenten beheimatet sind, unterschiedliche Entwicklungsmodelle verfolgen und sich überdies auch in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Verfasstheiten, wirtschaftlichen Potentiale und Naturressourcen, den allgemeinen Lebensstandards, Bevölkerungszahlen und nicht zuletzt durch die sozio-kulturellen Traditionen teilweise erheblich voneinander unterscheiden. Gleich mehrere dieser Staaten unterhalten zeitgleich strategische Partnerschaften sowohl zu ihren BRICS-Partnern als auch zu den USA. Zudem befinden sich einige von ihnen (Russland, Iran) in direkter Konfrontation mit dem Westen, während andere (Ägypten, Indien, VAE) eine enge Zusammenarbeit mit den USA pflegen. Einen derartig heterogenen Mechanismus am Funktionieren zu halten, ist per se schon mit hohen Anforderungen verbunden.
Hinzu kommt, dass dieser strikt auf dem Konsens-Prinzip basiert und keiner der Partner, die Richtung allein zu bestimmen vermag. Im Unterschied beispielsweise zur Gruppe der G-7, in der die USA die uneingeschränkte Führungsrolle beanspruchen und offensichtlich auch in der Lage sind, den übrigen Staaten ihren Kurs vorzugeben.
Schon allein deshalb erweisen sich notwendige Klärungsprozesse innerhalb von BRICS schwieriger und langwieriger, was kaum als Schwäche auszulegen ist; wenngleich sich dadurch auch mancherlei Ansatzpunkte für Störmanöver und abweichende Orientierungen bieten.
Zweifellos sieht sich BRICS seit diesem XVI. Gipfel in der nun neuen Konfiguration von genau genommen 22 Partnern, plus das noch unentschiedene Saudi-Arabien, vor zusätzliche neue Herausforderungen gestellt.
Es geht mit dieser erfolgten zahlenmäßigen Erweiterung zugleich auch um sich verändernde Strukturen und Charakteristika des Staatenverbundes.
So wandelt sich BRICS von einer anfänglichen reinen Schwellenländer-Plattform zu einem Verbund großer, mittlerer und kleiner Länder und mithin auch zu einer immer expliziteren Plattform für den globalen Süden.
Aus alledem erwachsen qualitativ neue Anforderungen an die bisherigen innerstrukturellen-BRICS-Mechanismen. Insbesondere geht es auch um die Frage, inwieweit es jetzt unumgänglich sein wird, eine ständige Niederlassung für den BRICS-Staatenverbund zu etablieren. Ebenso geht es um die Verständigung über einige gravierende inhaltliche Fragen; darunter ist zuallererst der dringende Bedarf nach einem Konzept für ein vom Dollar unbeeinflusstes Inner-BRICS-Handels- und Finanzsystem zu nennen. Es geht um eine De-Dollarisierung https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5321-de-dollarisierung, ohne BRICS in eine Anti-westliche Allianz umzuwandeln.
Diese Aufgabe stellt sich insofern als besonders zwingend dar, weil davon wesentlich die weiteren Spielräume des BRICS-Staatenverbundes im internationalen Geschehen beeinflusst werden. Und das ergibt sich umso mehr, nachdem nach bisherigen Erfahrungen in Rechnung zu stellen ist, dass die USA und ihre engsten Verbündeten ihre Vormachtstellung nicht aufzugeben bereit sind. Und hierbei ist auf verschiedenste Versuche in der Vergangenheit hinzuweisen, die darauf ausgerichtet waren, an bestehende Differenzen zwischen einzelnen Staaten anzuknüpfen und Druck auszuüben, um den BRICS-Verbund nicht noch weiter erstarken zu lassen,– wie dies anscheinend auch hinsichtlich Saudi-Arabiens der Fall ist. Das könnte auch Bezug auf Brasilien zutreffend sein, welches turnusmäßig 2025 die Rolle als Gastgeber für den XVII. BRICS-Gipfel übernimmt.
Als ein Zwischen-Fazit bleibt festzuhalten, dass die Erreichung einer multipolaren Weltordnung wohl ein dorniger Weg sein wird und sich über eine ganze historische Ära erstrecken kann. Und dennoch hat zumindest der XVI. BRICS- Gipfel in Kasan die Entschlossenheit des BRICS-Staatenverbundes demonstriert, sich weiter dafür zu engagieren.
[1] Offiziell mit dem I. Gipfeltreffen im russischen Jekaterinburg formiert – allerdings zu diesem Zeitpunkt noch ohne Südafrika, welches erst ein Jahr später dazu gekommen ist -, nachdem es zuvor schon, insbesondere seit 2006 mehrere informelle Treffen zwischen den vier Gründungsmitgliedern (Russland, China, Brasilien, Indien) gegeben hatte
[2] Dmitri Trenin, US-Weltherrschaft oder multipolare Welt: Europa wird sich entscheiden müssen, Globalbridge vom 10. Juni 2024
[3] Siehe dazu Peter Hänseler, Blog eines Schweizers in Moskau, vom 20.10.2024, abzurufen unter https://www.voicefromrussia.ch/brics-fakten-und-zahlen/
[4] Alexander Gabuev, Oliver Stuenkel, Der Kampf um die BRICS-Staaten. Warum die Zukunft des Blocks die globale Ordnung prägen wird, abzurufen unter https://www.foreignaffairs.com/print/node/1132187
[5] Das ebenfalls zur Mitgliedschaft eingeladene Argentinien hatte infolge eines kurz danach stattgefundenen Machtwechsels darauf verzichtet
[6] Siehe dazu https://www.arabnews.com/node/2576648/saudi-arabia
[7] Vgl. dazu die Ausführungen von Putin in dessen Eröffnungsrede vor den BRICS Plus-Mitgliedern, abzurufen unter https://brics-russia2024.ru/en/news/zasedanie-sammita-briks-v-uzkom-sostave/
[8] Konkret handelt es sich dabei – in alphabetischer Reihenfolge – jedoch rund um den Globus verteilt, um Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, Türkei, Uganda, Usbekistan, Vietnam
[9] Abzurufen unter https://cdn.brics-russia2024.ru/upload/docs/Kazan_Declaration_Final.pdf?1729693488349783
[10] Zhao Huasheng/Andrey Kortunow, The Kazan BRICS Declaration – a New World Order Manifesto, abzurufen unter https://russiancouncil.ru/en/analytics-and-comments/analytics/the-kazan-brics-declaration-a-new-world-order-manifesto/