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Aktualisiert: vor 2 Stunden 38 Minuten

Warum die westlichen Sanktionen im Chipkrieg gegen China scheitern. Zwischenbilanz im US-Chipkrieg gegen China

vor 7 Stunden 23 Minuten

Seit einigen Jahren hat der US-Wirtschaftskrieg gegen China, in dessen Zentrum die Halbleiter stehen, Fahrt aufgenommen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die USA spätestens nach den US-Präsidentschaftswahlen – egal, wer gewinnt - nochmals „eine Schippe drauflegen“. Zeit also für eine Zwischenbilanz.

 

Vor knapp fünf Jahren begann der damalige US-Präsident Donald Trump den Wirtschaftskrieg gegen China. Damals konzentrierten die USA ihren Hauptangriff im Wirtschaftskrieg zunächst auf den in der Kommunikationstechnik weltweit führenden chinesischen Konzern Huawei. Mit weitem Abstand vor Nokia und Ericsson, den verbliebenen europäischen Anbietern von Kommunikationstechnologie, dominiert der chinesische Konzern den Weltmarkt und ist technologisch führend z.B. bei 5G- und 6G-Mobilfunksystemen. Die Trump-Regierung entschied, dass US-Halbleiterkonzerne wie Qualcomm ab sofort ihre Mobilfunk-Chips nicht mehr an Huawei liefern durften. Auch das Smartphone-Betriebssystem Android von Google war für Huawei künftig tabu. Alle Produkte des chinesischen Konzerns - von Tablets und Smartphones bis zu Mobilfunk-Basisstationen - wurden vom US-Markt und von den Märkten besonders williger US-Verbündeter ausgesperrt.[1]

Bis heute muss eine imaginierte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA und ihrer westlichen Verbündeten als Begründung für den damals begonnenen Chipkrieg

herhalten. Niemals wurden irgendwelche Beweise für Spionage oder auch nur für die technischen Möglichkeiten von Spionage durch den chinesischen Staat vorgelegt. Auch intensive Überprüfungen durch den britischen Geheimdienst und durch das BSI, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, konnten in der Huawei-Hardware und Software keine Hintertüren für die KPC identifizieren. Aber längst sind auch andere chinesische Produkte im Fokus der nur in der Einbildung des Westens existierenden, aber von der politischen Propaganda fabrizierten und von den westlichen Leitmedien kräftig verstärkten Bedrohungsszenarien. Dazu gehören Hafenkräne, Gepäckscanner für Flughäfen und jetzt auch Elektroautos. Mit den chinesischen Hafenkränen hat sich inzwischen sogar der US-Kongress befasst. Weil die Digitalisierung der realen Welt und des Produktkosmos rasant voranschreitet und weil sehr viele unserer Alltagsprodukte aus China kommen, wird sich die politisch fabrizierte Anti-China-Hysterie auf weitere Produkte ausdehnen.

 

Warum Chiptechnologien?

Natürlich ist die nationale Sicherheit der USA nicht direkt von China bedroht. Im Kern geht es um die wirtschaftliche, politische und militärische Vormachtstellung der USA. Die Absicherung der weiteren US-Vormachtstellung entscheidet sich vor allem bei den Zukunftstechnologien. Hier wiederum spielen die Halbleiter eine entscheidende Rolle mit Auswirkungen auf alle Wirtschaftszweige. Die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für die Bedürfnisse der US-Militärs entwickelten Halbleiter sind heute als Winzig-Computer und Steuereinheiten in nahezu allen industriellen Produkten zu finden. Die Chiptechnologie ist eine Basistechnologie der kapitalistischen Industriegesellschaften geworden. Gleichzeitig ist die Chiptechnologie aber äußerst kapitalintensiv. Nur wenige große Volkswirtschaften sind in der Lage, die nötigen Investitionen dafür zu tätigen. Aber bis vor wenigen Jahren konnte jede/r die Produkte dieser Spitzentechnologie in der globalisierten Weltwirtschaft unter US-Dominanz käuflich erwerben.[2] Das ist jetzt in Zeiten der geopolitischen Konfrontation vorbei.

Speziell die neuesten Logik-Chips mit ultrafeinen Leiterbahnen mit einer Breite von 5 oder sogar nur 2nm sind sehr gefragt für Anwendungen der Künstlichen Intelligenz und für die vielen tausend Server, die in den Serverfarmen und Cloud-Rechenzentren auf der ganzen Welt ihre Dienste tun.
Es geht um Rechenoperationen, die mit den neuesten Generationen von Chips schnell durchgeführt werden, während Rechner mit älteren Chips dafür Wochen oder Monate brauchten. Natürlich können die neuesten Logik-Chips auch für militärische Projekte und Operationen eingesetzt werden ebenso wie für medizinische Projekte oder für die Entwicklung neuer Wirkstoffe in der Pharmaindustrie. Zur Erläuterung: Logik-Chips rechnen, Memory-Chips speichern Daten. Außerdem gibt es eine Vielzahl Chips für spezielle Anwendungen wie Sensoren, analoge Halbleiter etc.

 

Pateiübergreifende Allianz im US-Chipkrieg gegen China

Anders, als zunächst vermutet, kassierte US-Präsident Biden nicht die von der vorherigen Trump-Administration verhängten Zölle gegen China. Biden verschärfte sogar den Chipkrieg. Denn die Biden-Administration generalisierte und systematisierte die zunächst nur auf den Huawei-Konzern fokussierten Sanktionen. Heute dürfen schnelle Chips mit Leiterbahnen von unter 12 nm ohne ausdrückliche Erlaubnis der US-Behörden überhaupt nicht mehr nach China geliefert werden. Gleiches gilt für die  EUV-Belichtungsmaschinen, die für einen einzigen Chip Milliarden Transistoren auf die Wafer aufbringen, und für die Software zur Entwicklung und Produktion von Halbleitern mit ultrafeinen Leiterbahnen. Drei US-Hersteller, darunter eine Siemens-Tochter, dominieren den Markt für den Chipdesign.

Nach den erratischen US-Alleingängen unter Trump setzte die Biden-Administration im Chipkrieg zudem auf die Einbeziehung der US-Partner. Denn die Chipindustrie - oder besser: der Prozess vom Design eines Chips über die eigentliche Fertigung und das Testen und die Verpackung - ist hoch globalisiert: Die Chipentwicklung ist vor allem in den USA und in Taiwan und Südkorea konzentriert, die Fertigung von Halbleitern dagegen in Ostasien und zunehmend in China. Europa hat eine starke Position in der Entwicklung und Fertigung von Halbleitern für die Automobilindustrie, bei Sensoren und bei Leistungshalbleitern, die für die Energiewende unerlässlich sind. Aus Europa kommen zudem wichtige Materialien für die Chipfertigung und die modernsten und teuersten Maschinen für den komplexen Prozess der Chipfertigung.[3]

Mit massivem Druck hat die Biden-Administration die US-Verbündeten in Ostasien und Europa inzwischen dazu gebracht, China nicht mehr mit High End-Chips und mit den dafür benötigten Fertigungsanlagen zu beliefern. Weil diese Ausdehnung der US-Sanktionen absehbar war, orderten chinesische Kunden aus der Chipindustrie beim niederländischen Maschinenbauer ASML 2023 so viele Anlagen, dass der halbe Jahresumsatz auf China entfiel. Jetzt versuchen die USA nach Medienberichten, ihre Verbündeten dazu zu bringen, auch keine Ingenieure und Techniker für die Wartung der älteren Anlagen mehr nach China zu schicken.[4]

 

Die Wirkung der Sanktionen: China holt auf!

Nach fast fünf Jahren US-Sanktionen im Chipkrieg gegen China lässt sich feststellen: Die Sanktionen haben den Preis für China, sich mit Chips zu versorgen, hochgetrieben. Das Angebot ist verknappt, die Preise steigen. Gleichzeitig hat der US-Chipkrieg aber dazu geführt, dass sich Chinas Anstrengungen vervielfacht haben, sich mit Chips aller Kategorien selbst zu versorgen und besonders bei der Entwicklung und Produktion von Chips mit ultrafeinen Leiterbahnen aufzuholen. Hier lag China bislang weit zurück hinter Taiwan, Südkorea und den USA.

Jetzt boomen die Chipindustrie und die Zulieferindustrien in China. Absehbar ist, dass sich der Abstand im Produktions- und Entwicklungs-Know-how zwischen China und den Weltmarktführern weiter verringern wird. Als Ergebnis wird China innerhalb der nächsten 10 Jahre auch in der Halbleitertechnologie mit an der Weltspitze stehen. Der US-Autor Chris Miller rechnet für 2030 mit einem technologischen Gleichstand zwischen den USA und China.

Ein Beispiel ist Huawei. Der Konzern hat es inzwischen geschafft, auf Basis einer schon in die Jahre gekommenen Produktionstechnologie (die modernsten EUV-Maschinen mit Lasern von Trumpf und Optik von Zeiss darf der niederländische ASML-Konzern nicht nach China liefern) den neuen, selbst entwickelten Kirin 90-Mobilfunkchip in großen Stückzahlen vom Staatskonzern SMIC produzieren zu lassen. Damit kann Huawei wieder auf dem Markt für Smartphones etc. mitmischen - auch ohne in den USA designte Chips und ohne das Android-Betriebssystem. Nach den Trump-Sanktionen hatte Huawei 2020 vor einer existenziellen Krise gestanden: Das Geschäft mit Smartphones, Tablets etc, das damals die Hälfte des Weltumsatzes ausmachte, war wegen des Fehlens von Chips eingebrochen und zunächst fast auf Null gefallen.

 

Ultraschnelle Chips: nicht entscheidend im Chipkrieg

 Außerdem mussten die Anti-China-Strategen in Washington feststellen, dass der einseitige Fokus der US-Sanktionen auf High End-Chips etwa für KI und für militärische Anwendungen kontraproduktiv ist. Denn zur Zeit und wahrscheinlich auch in Zukunft entfallen ca. 90% des gesamten Weltmarktes für Halbleiter auf Produkte mit höheren Strukturgrößen und für besondere Anwendungen im Maschinenbau oder in der Autoindustrie, in Solaranlagen etc. In diesem Bereich hat China seinen Weltmarktanteil in den letzten Jahren aber noch ausgebaut. Das bedeutet, dass die Welt aber noch abhängiger geworden ist von chinesischer Technologie.

Zudem hat sich herausgestellt, dass etwa für KI-Anwendungen oder Cloud-Computing nicht immer der ultraschnelle neueste Chip des Weltmarktführers Nvidia gebraucht wird, der unter die US-Sanktionen fällt. Viele zusammengeschaltete, langsamere Chips tun das auch, wie chinesische Experten demonstriert haben. Außerdem nutzen chinesische IT-Konzerne und Chip-Entwickler für ihre Aufgaben die weltweit verfügbare superschnelle Rechenleistung, die Cloud-Anbieter wie Amazon oder Microsoft zur Verfügung stellen.

 

Chinas Stärken im Chipkrieg: Skalenfaktor und viele, gut ausgebildete Arbeitskräfte

China kann im Chipkrieg zudem Faktoren ausspielen, die US-Strategen wohl nicht zur Gänze in ihrem Kalkül hatten:  China hat  selbst Heerscharen von gut ausgebildeten Arbeitskräften, speziell in den sogenannten MINT-Fächern. Die westliche Erzählung, dass das chinesische System Innovation und Kreativität behindert und damit technologische Durchbrüche erschwert, ist schon länger fragwürdig. Zudem kann China auf Fachleute aus Taiwan, Südkorea und Japan zurückgreifen, die aktuell von den guten Gehältern in Chinas Chipbranche angelockt werden. Hinzu kommt das aktuelle Gewicht der Chipbranche in Chinas Wirtschaftspolitik, was inzwischen jeder ambitionierte Bürgermeister im Land verstanden hat. Die Wirtschaftspolitik und damit die massive Förderung konzentrieren sich mehr denn je auf die Zukunftsbranchen und die Chipindustrie. Es ist also der Skalenfaktor, der dafür sorgt, dass Chinas Gewicht in der Chipbranche weiter steigt.
Für China ist das zudem eine Frage der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der nationalen Sicherheit.
Damit hätten die US-Sanktionen wohl das Gegenteil erreicht von dem, was sie eigentlich bezweckten.

Zudem bereitet der riesige und immer größer werdende chinesische Markt den US-Chipkonzernen große Sorgen: Sie wollen weiter Geschäfte machen, müssen sich aber mit den Sanktionen aus Washington arrangieren, die immer massiver werden.

 

Taiwan als Hotspot der Chipindustrie und die Taiwan-Frage

 Die Insel Taiwan, vor der Küste der chinesischen Provinz Fujian gelegen und von der Volksrepublik und ebenso von einem relevanten Teil der Bevölkerung und der Eliten Taiwans als ein Teil Chinas betrachtet, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Weltzentrum und zum technologischen Vorreiter der Chipindustrie entwickelt. Das Cluster der Chipindustrie von Chipdesign und -fertigung in Taiwan ist weltweit bislang einmalig. Der taiwanesische Konzern TSMC z.B. dominiert die hochkomplexe Fertigung von ultrafeinen Logik-Chips, noch vor Samsung und dem Intel-Konzern, der technologisch in den letzten Jahren abgehängt war. Die Kunden der taiwanesischen Chipindustrie und vor allem der Auftragsfertiger sitzen auf der ganzen Welt, vor allem aber in der Volksrepublik China, wohin zuletzt 40% der Chipexporte gingen – vor allem in Chinas boomende Elektronikindustrie.

Aufgrund dieser engen wirtschaftlichen und technologischen Verflechtungen zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland – und natürlich auch aus vielen anderen Gründen – ist ein militärischer Schlag Chinas gegen Taiwan unwahrscheinlich. In der öffentlichen Meinung Taiwans gilt die Chipindustrie deshalb als das wichtigste Faustpfand zur Bewahrung des Status Quo.

Daran ändern die – zum Großteil steuerfinanzierten – Milliardenprojekte z.B. von TSMC für neue Fertigungen in den USA oder in Deutschland (Dresden) nichts. Es findet keine Verschiebung der Chip-Lieferketten weg von Taiwan statt. Im Gegenteil: TSMC investiert nach Berichten derzeit in Taiwan etwa das Vierfache der Investitionssumme in den USA. Auch künftig werden in Taiwan, nicht in den USA die modernsten Chipfertigungen stehen. Der TSMC-Gründer und frühere Aufsichtsratschef Morris Chang hat deshalb den Chip Act der Biden-Regierung einmal als „exercise in futility“ bezeichnet.     

 

Quellen:

[1] Eine ausführliche Darstellung des US-Chipkriegs gegen Huawei findet sich in meiner Analyse: „Europa muss in der Chipindustrie aufholen – aber wie?“, Online-Publikation der Rosa Luxemburg Stiftung, April 2023. Abrufbar unter: https://www.rosalux.de/publikation/id/50322/europa-muss-in-der-chipindustrie-aufholen-aber-wie

[2] Der amerikanische Autor Chris Miller beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Der Chip Krieg. Wie die USA und China um die technologische Vorherrschaft in der Welt kämpfen“ die Entwicklung der Halbleiterindustrie bis zum Konflikt USA - China

[3]

[4] Das berichtet die Financial Times, 26.4.2024

Europa auf dem Weg nach rechts (II)

vor 15 Stunden 33 Minuten

Eine internationale Konferenz in Ungarn versammelt Politiker konservativer mit extrem rechten Parteien und stützt Bestrebungen im Europaparlament, den antifaschistischen cordon sanitaire endgültig zu durchbrechen.




Eine internationale Konferenz in Ungarn treibt aktuell die Zusammenarbeit konservativer mit extrem rechten Parteien in der EU voran. Die CPAC Hungary, die am gestrigen Donnerstag in Budapest von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán eröffnet wurde und am heutigen Freitag zu Ende geht, versammelt Politiker sowohl von Parteien, die gemeinsam mit CDU und CSU in der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) organisiert sind, als auch solche, die wie der belgische Vlaams Belang oder auch der französische Rassemblement National der extremen Rechten zugeordnet werden. Dies geschieht, während im Europaparlament Bestrebungen erkennbar werden, den cordon sanitaire zwischen der EVP und der extremen Rechten, der in der EU ohnehin längst bröckelt, endgültig niederzureißen und einen breiten Rechtsblock zu schmieden. Am Mittwoch haben die EVP und die zwei Rechtsaußenfraktionen ECR und ID einen Antrag im Europaparlament gemeinsam abgeschmettert – möglicherweise ein Testlauf für weitere gemeinsame Aktivitäten. Die CPAC Hungary ist ein Ableger der Trump-nahen CPAC in den USA; an ihr nehmen nicht zuletzt US-Republikaner sowie Rechtsaußen aus Lateinamerika und Israel teil.

Die CPAC

Die Conservative Political Action Conference (CPAC) wird seit 1974 regelmäßig abgehalten, um rechte Kräfte innerhalb der US-Republikaner zu vernetzen und für rechte Wahlkandidaten zu werben. Seit den 2000er Jahren hat sie sich von einer Eliten- zu einer Massenveranstaltung entwickelt, an der regelmäßig viele Tausend rechte Aktivisten teilnehmen. Im Jahr 2011 trat erstmals Donald Trump auf der CPAC auf, behauptete, die Vereinigten Staaten würden im großen Stil von fremden Ländern ausgeplündert, und kündigte darüber hinaus an, falls er sich in Zukunft entscheiden sollte, Präsident zu werden, werde „unser Land wieder großartig sein“.[1] Mit Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2017 ist die CPAC dann vollständig auf seine Linie eingeschwenkt; neben Trump treten regelmäßig ultrarechte Hardliner wie Trumps früherer Chefstratege Steve Bannon oder die Abgeordnete im Repräsentantenhaus Marjorie Taylor Greene auf ihr auf. Ebenso regelmäßig berichten US-Journalisten, dass sie auf der CPAC die Präsenz rassistischer Befürworter einer angeblichen „Überlegenheit der Weißen“ und von Anhängern antisemitischer Verschwörungstheorien hätten dokumentieren können. In diesem Jahr wurde auf der CPAC laut einem Bericht des US-Senders NBC aufgerufen, der Demokratie ein Ende zu setzen und eine streng christliche Regierung zu installieren.[2]

Globale CPAC-Ableger

Im ersten Amtsjahr von US-Präsident Donald Trump haben die Organisatoren der CPAC begonnen, Ableger im Ausland zu gründen, insbesondere auch auf anderen Kontinenten. Im Dezember 2017 etwa wurde erstmals die CPAC Japan abgehalten. Sie versammelt ebenfalls Personen und Organisationen der äußersten Rechten, bezieht allerdings auch Rechte aus anderen Ländern ein, insbesondere aus den USA, aber etwa auch aus Taiwan. Sie ist ebenso klar antichinesisch geprägt wie die CPAC South Korea, die 2019 zum ersten Mal stattfand. 2019 kamen erstmals die CPAC Australia sowie die CPAC Brazil zusammen, letztere im ersten Amtsjahr des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro, dessen Mitarbeiter und Anhänger die Veranstaltung seitdem regelmäßig zur Vernetzung mit der trumpistischen US-Rechten nutzen. 2022 wurden zudem eine CPAC Mexico und eine CPAC Israel umgesetzt [3], daneben eine CPAC Hungary, diese als bisher einziger Ableger der US-Organisation in Europa. Die CPAC Hungary wurde 2023 wiederholt; Ministerpräsident Viktor Orbán begrüßte auf ihr neben konservativen Politikern aus Europa und US-Republikanern auch Politiker der extremen Rechten wie die Parteivorsitzenden der FPÖ, Herbert Kickl, und des französischen Rassemblement National, Jordan Bardella.

Die CPAC Hungary

Dies ist auch auf der dritten CPAC Hungary der Fall, die am gestrigen Donnerstag in Budapest begonnen hat und dort am heutigen Freitag zu Ende geht. Orbán bezeichnete in seiner Eröffnungsrede vor rund 800 Gästen Ungarn als „Labor“, in dem man sich „gegen die Ideologie der woken Linken“ in Stellung bringe.[4] Als weitere Redner angekündigt waren unter anderem Polens einstiger Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Sloweniens früherer Ministerpräsident Janez Janša und Australiens Ex-Premierminister Tony Abbott. Auftritte hatten oder haben die Vorsitzenden mehrerer Parteien der extremen Rechten – Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid, Niederlande), Tom van Grieken (Vlaams Belang, Belgien), Santiago Abascal (Vox, Spanien) und André Ventura (Chega, Portugal) sowie ein Europaabgeordneter der FPÖ, Harald Vilimsky. Zum Thema „Grenzschutz“ gab es am gestrigen Donnerstag Beiträge des vormaligen deutschen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen und von Fabrice Leggeri, von 2015 bis 2022 Leiter der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex, seit Jahresbeginn für den Rassemblement National (RN) aus Frankreich aktiv. Neben US-Republikanern sind in Budapest auch Vertreter der extremen Rechten Lateinamerikas (Eduardo Bolsonaro, José Antonio Kast) sowie zwei israelische Likud-Minister (Amichai Chikli, Gila Gamliel) präsent.[5]

Dialog mit der extremen Rechten

Die CPAC Hungary ist unter anderem deshalb von Bedeutung, weil sie dazu beiträgt, den cordon sanitaire einzureißen, der in Europa jahrzehntelang die Zusammenarbeit konservativer Parteien mit Parteien der extremen Rechten tabuisierte. Er ist ohnehin nur noch punktuell vorhanden: In diversen EU-Mitgliedstaaten sind Parteien der extremen Rechten bereits an der Regierung beteiligt bzw. beteiligt gewesen (Österreich, Finnland), stellen sogar die Ministerpräsidentin (Italien mit Giorgia Meloni/Fratelli d’Italia) oder haben die Regierung zumindest per Duldung unterstützt (Dänemark, Schweden). Seit geraumer Zeit sind derartige Bestrebungen auch im Europaparlament zu beobachten. So führt die konservative EVP schon seit Jahren einen „Dialog“ mit der ECR (European Conservatives and Reformists), der neben Polens ehemaliger Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) auch als extrem rechts eingestufte Parteien wie Die Finnen sowie die französische Partei Reconquête des rechts von Marine Le Pens RN stehenden Journalisten Éric Zemmour angehören. ECR-Mitglied sind zudem die Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, mit der EU-Kommissonspräsidentin Ursula von der Leyen vor allem in der Flüchtlingsabwehr äußerst eng kooperiert (german-foreign-policy.com berichtete [6]).

Ein breiter Rechtsblock

Vor dem Hintergrund offenkundiger Annäherungsbestrebungen zwischen Konservativen und Teilen der extremen Rechten hat eine Abstimmung im Europaparlament vom Mittwoch dieser Woche für Aufmerksamkeit gesorgt: Ein Antrag, der Maßnahmen gegen die Belästigung von Mitarbeitern durch Abgeordnete durchsetzen sollte, wurde durch ein gemeinsames Votum von EVP, ECR und der ultrarechten ID-Fraktion (Identity and Democracy) zu Fall gebracht.[7] Damit ist ein breiter Rechtsblock zutage getreten, wie er – freilich informell – auch auf der CPAC Hungary zu beobachten ist; dort sind neben Politikern aus EVP- und aus ECR-Parteien auch Vertreter von ID-Parteien – Vlaams Belang, FPÖ, Lega, Rassemblement National – präsent. Darüber hinaus arbeitet laut Berichten Melonis Partei Fratelli d’Italia daran, das in Italien praktizierte Regierungsmodell – dort regieren die Fratelli d’Italia (ECR) mit der Forza Italia (EVP) und der Lega (ID) – auf die EU-Ebene zu übertragen.[8]

 

Quellen:

[1] Eliza Relman: In his first CPAC speech, Trump previewed the themes that would take him all the way to the White House. businessinsider.com 24.02.2017.

[2] Ben Goggin: Nazis mingle openly at CPAC, spreading antisemitic conspiracy theories and finding allies. nbcnews.com 24.02.2024.

[3] Zack Beauchamp: CPAC goes to Israel. vox.com 23.07.2022.

[4] CPAC in Ungarn: Orbán beschwört den Geist der europäischen Völker. jungefreiheit.de 25.04.2024.

[5] CPAC Hungary 2024 Program. cpachungary.com.

[6] S. dazu https://www.isw-muenchen.de/online-publikationen/texte-artikel/5220-europa-auf-dem-weg-nach-rechts

[7] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.

[8] Max Griera: Morawiecki, Orbán plot reshuffle in EU Parliament with Le Pen. euractiv.com 23.04.2024.

 

Stationen der Waldgeschichte Naturferner Wald – Naturbeherrschung – Ausbeutung der Ware Arbeitskraft - naturgemäßer Dauerwald

Do, 25/04/2024 - 15:19

Gewalt ist konstituierender Bestandteil der Menschheitsgeschichte über alle Gesellschaftsformationen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinweg und in all ihren Formen gegen seinesgleichen und die Natur.
[*]

 

Wachsender Holzeinschlag und Holzverbrauch im Frühkapitalismus (Merkantilismus) für die Gewinnung und Verhüttung von Eisenerz im sächsischen Bergbaurevier führte durch den Niedergang der Wälder zur Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedankens (Hans Carl von Carlowitz). Es sollte fortan nur so viel Holz verbraucht werden, als nachwächst. Das war die Geburtsstunde des Begriffs der „Nachhaltigkeit“ und entsprechenden Wirtschaftens im Forstbereich mit neuen Formen des Umgangs mit der Natur.

Denken und Handeln von Herrscherhäusern, Adel und des entscheidenden Teils der Forstleute in Verwaltung und Wissenschaft war bestimmt von dem mechanistischen Leitbild der Naturbeherrschung in Wissenschaft und Technik. In technischen und natur-wissenschaftlichen Berufen herrscht weltweit bis heute ein Weltbild vor, nach dem die Natur dem Menschen untertan zu sein hat. Die Komplexität der Abläufe in der belebten und unbelebten Natur wird nur zu häufig – um ein Bild zu gebrauchen - mehr oder weniger als ein schlichtes mechanisches System miteinander kommunizierender Röhren begriffen, wo sich schon alles mit Grenzwerten, technischen Lösungen und wachsendem Erkenntnisfortschritt regeln lässt. Die Wurzeln für dieses mechanistische Weltbild wurden bereits im Mittelalter mit Kopernikus, Kepler und Galilei gelegt und speisten sich aus ihrer Entdeckung, dass sich die Erde um die Sonne dreht.

Grundlage für die Realisierung der Naturbeherrschung im Wald waren Nadelholz-Reinbestände. Damit entstanden naturferne Altersklassenforste, deren Bestände in voneinander getrennten Altersstufen bis heute angebaut werden. Nadelholz hat technologische Eigenschaften, die es unverzichtbar machten für Bergbau, Hausbau, Schiffsbau etc. Bis heute noch ist Nadelholz bis auf weiteres unverzichtbar, braucht dafür aber keinen naturfernen Nadelholzanbau, sondern einen naturnah angelegten Waldbau.

Mit dem Übergang vom Merkantilismus zum Industriekapitalismus nahm der Staatswerdungsprozess Preußens Gestalt an. Mit den Stein-Hardenbergschen Reformen wurde in den Jahren 1807–1815 die Grundlage für den Wandel Preußens vom absolutistischen Stände- und Agrarstaat zum National- und Industriestaat gelegt, der 1866 im Westen eine bedeutende Erweiterung nahm und 1871 zum Deutschen Reich führte.

Mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus und seiner Entfaltung wurden immer größere Holzmengen gebraucht. Damit wuchs der Umfang naturferner Altersklassenforste und mit ihnen entstand eine große, mit Herrschaft, Macht- und fiskalischen Interessen des Staates verbundene Forstverwaltung und Forstwissenschaft.

Im Zuge des Staatswerdungsprozesses von Preußen gewann das „Landeskulturedikt“ von 1811 besondere Bedeutung für die Wälder des Landes, dessen Grundlagen von Albrecht Thaer (Begründer der „rationellen Landwirtschaft“) entwickelt wurden. Die Trennung von Staats- und Privatwald wurde eingeleitet. Forstgesetzliche Regelungen für die zumeist adligen Privatwaldbesitzer beschränkten sich erst später auf allgemeine Rahmensetzungen.

Im Staatswald wurde analog der rationellen Landwirtschaft konsequent der Ausbau naturferner Altersklassenforste betrieben und das Kahlschlagprinzip für die Holzernte eingeführt. Es entstand der „Holzackerbau“. Da in den Privatwäldern anfangs keine Festlegungen für die Bewirtschaftung getroffen wurden, kam es vielerorts zu ungeregeltem Holzeinschlag im Wald. Allerdings folgten die Privatwaldbesitzer zum Erhalt ihrer Einkommen bald der staatlichen Waldbaupraxis.

Mit der Umwandlung der Wälder in naturferne Nadelholz-Reinbestände wuchsen die Probleme durch Schädlingskalamitäten, Windbruch, Schneebruch etc. mit strecken- und gebietsweise sehr großen Schäden. In der Praxis tätige Forstleute und einzelne Wissenschaftler wiesen spätestens ab 1850 daraufhin. Der Münchener Waldbauprofessor Karl Gayer plädierte bereits 1880 für einen gemischten Wald mit ausreichend Laubholz und gegen einförmige Reinbestände. In Sachsen erhoben sich vor dem I. Weltkrieg Stimmen gegen die weit verbreitete Kahlschlag- und Nadelholz-Reinbestandswirtschaft.

Alfred Möllers revolutionäre Dauerwaldidee löste in den Jahren 1920 bis 1922 im Forstbereich eine noch bis heute beispiellose Debatte pro und kontra naturferne Forsten aus. Es offenbarte den Gegensatz zwischen beharrenden und reformorientierten Forstleuten. Die Dauerwaldidee ist Waldwirtschaft mit der Natur, nicht gegen sie, umschließt ungleichaltrige Wälder, ist Waldbau mit standortheimischen Baumarten, bedeutet einzelstammbezogene Holzernte und keinen Kahlschlag. Die Befürworter des naturfernen Altersklassenforstes setzten sich zwar durch, aber die Diskussionen zum Dauerwald und für eine naturgemäße Waldwirtschaft verstummten ebenso nicht wie praktische Ansätze zur Umsetzung. Eine kleine Schar von Befürwortern des Dauerwaldes arbeitete weiter in der Praxis anhand dieses Konzepts. Sie konnten auf Erfolge einzelner Privatwaldbesitzer verweisen, die bereits vor oder in der Zeit der Erarbeitung der Dauerwaldidee und danach (so Waldgut Sauen) in diesem Sinne praktisch tätig geworden waren. Besonders umstritten beim pro und kontra Dauerwald war das Revier Bärenthoren im Fläming, dessen ertragskundliche Ergebnisse konnten damals nichts schlüssig beweisen, später vergleichend wiederholt auch nichts schlüssig widerlegen.

Im Nationalsozialismus wurde die Dauerwaldidee ideologisch und propagandistisch missbraucht. Die Waldarbeit in diesem Sinne war nur begrenzt erfolgreich, auch weil sie fundamental den Zielen der Kriegsvorbereitung (hoher Holzeinschlag im Rahmen der NS-Autarkiepolitik zur Rohstoffbeschaffung) und der Jagdpolitik Görings widersprach. Sie wurde bereits 1937 beendet zugunsten naturferner Waldbewirtschaftung mit Dauerwald nur in der Verpackung. Mit neuer Begriffsdefinition wurde Möllers Grundanliegen völlig verwässert. Dauerwaldvertreter konnten aber die begonnene Arbeit in einer Reihe von Versuchsrevieren in den sächsischen Staatsforsten fortsetzen. Vier von ihnen wurden im Jahre 1943 ihrer Ämter enthoben, weil sie sich nicht den Jagdinteressen des NS-Gauleiters beugen wollten. Willy Wobst wurde des Landes Sachsen verwiesen und Hermann Krutzsch musste bis zum Kriegsende in der Rüstungsindustrie arbeiten.

Nach dem II. Weltkrieg wurde in ganz Deutschland die Linie der Naturbeherrschung in der Forstwirtschaft weiterverfolgt. Allerdings gelang es in Ostdeutschland dem Dauerwaldvertreter Krutzsch, insbes. unterstützt von Blanckmeister und Heger - zwischen 1951 und 1961 den Weg einer „vorratspfleglichen Waldwirtschaft“ auf politischer Ebene durchzusetzen. Dieser Weg wurde dann wieder zugunsten naturferner Altersklassenbewirtschaftung verlassen. Der Waldbau wurde über Jahre sogar industriemäßig intensiviert betrieben. Die damit einhergehenden Probleme wurden bis zum Beginn der achtziger Jahre immer sichtbarer. Kurskorrekturen begannen.
In Westdeutschland setzte sich von Beginn an die naturferne Altersklassenforstwirtschaft durch.

Nach dem Ende der Teilung Deutschlands ist gemeinsam der Weg der naturfernen Altersklassenforste weiter beschritten worden. Bereits seit den achtziger Jahren sind deren Probleme angesichts Schadstoffeinträgen, Sturmwürfen, Schädlingskalamitäten, zunehmender Hitze und Trockenheit etc. unübersehbar geworden. Sie drohen die Produktionsgrundlage Wald zu untergraben. Deshalb ist damit begonnen worden, einen naturnäheren Umbau der Wälder in Angriff zu nehmen, die Reinbaumbestände mit Laubbäumen beispielsweise anzureichern. Allerdings geschieht im Verhältnis zur Größenordnung der Probleme viel zu wenig und damit werden sie auch nicht hinreichend gelöst. Ein konsequenter Neubeginn auf Grundlage der Dauerwaldidee wird nicht in Erwägung gezogen. Es wird aber durchaus gesehen, dass der kleine Kreis der Dauerwaldvertreter mit ihrer Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW) in der Praxis die Probleme besser meistert. Ungefähr 200 Betriebe wirtschaften auf Grundlage des Dauerwaldkonzepts. Es sind zumeist Privatwaldbetriebe, viele davon mit adligem Hintergrund.

Von einst bis heute geht mit der Naturbeherrschung die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft einher. Elende Löhne und harte Arbeits- und Lebensbedingungen waren das Los der Holzfäller und Waldarbeiter. Egal, ob sie in Staats- oder Privatwäldern arbeiteten. Erst im Zuge der erstarkenden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung konnten gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwas bessere Löhne und Versicherungsschutz errungen werden.
 

Nach dem II. Weltkrieg gingen Ost- und Westdeutschland getrennte Wege. In der DDR entstand eine staatlich gelenkte Planwirtschaft, in der der Staat in die Rolle des Produzenten trat und die Produktionsbedingungen diktierte und regelte. Sie war ineffektiv und scheiterte letztlich, besaß aber weitreichende soziale und materielle Absicherungen für die arbeitende Bevölkerung. In der BRD wurde der kapitalistische Entwicklungsweg fortgesetzt und wohlfahrtsstaatlich ausgebaut, nicht zuletzt auch Ausdruck der Systemkonkurrenz. Nach dem Ende der Teilung und dem Abriss des Sozialstaates ist die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft auch für die im Wald Arbeitenden wieder in verschärften Formen zurückgekehrt.

Das mechanistische Weltbild ist durch ein neues Weltbild abzulösen. Es geht weniger um Naturbeherrschung als vielmehr darum, ein partnerschaftliches Zusammenspiel von Selbsttätigkeit der Natur und menschlicher Nutzung zu ermöglichen. So sollte künftig beispielsweise Fehlerfreundlichkeit als evolutionäres Prinzip den Maßstab für Forschung, Entwicklung und Einsatz von Technologien, technischen Verfahren und Stoffen bilden.

Der Kapitalismus ist durch eine demokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung abzulösen. Ohne sie wird der Neubau einer regional orientierten, solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht gelingen, die Arbeit, Soziales und Natur zusammenführt und die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft aufhebt.

Die bisher rein ökonomisch geprägten Beziehungen zwischen Mensch und Natur müssen durch eine umfassend reproduktive Orientierung abgelöst werden, in der Erhalt und Verbesserung des Naturhaushalts und der Naturressourcen sowie der menschlichen Gesundheit und Arbeitskraft die gleiche Bedeutung wie der Ökonomie zukommt. Die naturgemäße Waldwirtschaft mit Mischwald anhand des Dauerwaldkonzepts von Alfred Möller bildet eine wesentliche Grundlage auf diesem Weg.


                                                                                                               

Literatur:  

(*) Bimboes, Tjaden, 1992; Scheidler, 2018
 

  1. Bimboes, Detlef; Tjaden, Karl Hermann: Stoff- und Energieflüsse und ihre Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften, in: Industrialismus und Große Industrie, Hrsg. Lars Lambrecht und Karl Hermann Tjaden (Dialektik; 1992,2), Meiner Verlag, Hamburg 1992;

  2. Scheidler, Fabian: Das Ende der Megamaschine – Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Promedia Verlag, 10. Auflage, Wien 2018;

  3. Thomasius, Harald: Geschichte, Theorie und Praxis des Dauerwaldes, Veröffentlichung des Vortrags aus dem Jahre 1996 durch den Landesforstverein Sachsen-Anhalt e. V.

  4. Bode, Wilhelm (Hrsg.): Alfred Möllers Dauerwaldidee, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.


    Zum Autor: Dr. Detlef Bimboes ist Diplombiologe, Mitglied der NaturFreunde Berlin


Weitere Überlegungen zur Ökonomie des Imperialismus

Mi, 24/04/2024 - 08:10

Im Jahr 2021 veröffentlichten Guglielmo Carchedi und Michael Roberts in Historical Materialism einen Aufsatz mit dem Titel "The Economics of Modern Imperialism". [1]
Der Aufsatz konzentrierte sich ausschließlich auf die wirtschaftlichen Aspekte des Imperialismus.






Sie definierten ihn als die anhaltende und langfristige Netto-Aneignung des Mehrwerts durch die hochtechnologischen, fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, der von den technologiearmen, dominierten Ländern übertragen wird.  

"Wir haben vier Kanäle identifiziert, über die der Mehrwert in die imperialistischen Länder fließt: Seigniorage [2] in der Währung, Einkommensströme aus Kapitalinvestitionen, ungleicher Austausch (UE) durch Handel und Veränderungen der Wechselkurse.

Wir haben andere Aspekte der imperialistischen Beherrschung der Mehrheit der Welt nicht geleugnet, d.h. insbesondere die militärische Macht und die politische Kontrolle über internationale Institutionen (UN, IWF, Weltbank usw.) und die Macht der "internationalen Diplomatie".  In dem Papier konzentrierten wir uns jedoch auf die wirtschaftlichen Aspekte, die unserer Ansicht nach der entscheidende Faktor für diese anderen äußerst wichtigen, aber determinierten Merkmale wie militärische und politische Vorherrschaft sowie kulturelle und ideologische Vorherrschaft sind.

In diesem Papier haben wir der Quantifizierung des ungleichen Austauschs (UE), d. h. dem Transfer von Mehrwert durch den internationalen Exporthandel, besondere Aufmerksamkeit gewidmet.  Bei unserer Analyse von UE haben wir zwei Variablen verwendet: die organische Zusammensetzung des Kapitals und die Ausbeutungsrate, und wir haben gemessen, welche dieser beiden Variablen mehr zu den UE-Transfers beiträgt.
 
Wir fanden heraus, dass der imperialistische Block (IC) seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jährlich etwa 1 % seines BIP durch den Transfer von Mehrwert im internationalen Handel von den übrigen großen "Entwicklungsländern" (DC) in der G20 erhielt, während letztere etwa 1 % ihres BIP durch den Transfer von Mehrwert an den imperialistischen Block verloren. Und diese Quoten stiegen.

Der andere große Bereich der Einkommensübertragungen ergab sich aus dem internationalen Strom von Gewinnen, Zinsen und Mieten, die sich der imperialistische Block aus seinen Investitionen in Sach- und Finanzanlagen in der Peripherie angeeignet hat. 
Wir haben dies anhand der Nettoströme von Gewinnen, Zinsen und Mieten an den imperialistischen Block - was der IWF als Nettoprimärkrediteinkommen bezeichnet - im Vergleich zu denen des Rests der G20 gemessen.

Für diesen Beitrag habe ich beschlossen, diesen Aspekt der wirtschaftlichen Vorherrschaft zu aktualisieren, indem ich zunächst die Bruttoprimärkrediteinkommensströme für die G7- und BRICS-Volkswirtschaften verglichen habe.  Ich habe nur die Jahre des 21. Jahrhunderts betrachtet.  Die Bruttoeinkommensströme in die G7 sind nun siebenmal größer als die in die BRICS.


Außerdem habe ich festgestellt, dass die Nettoposition nach Abzug der Belastungen, d. h. der abfließenden Einkommen, noch krasser ist. 
Der jährliche Netto-Einkommensstrom in die G7-Volkswirtschaften betrug etwa 0,5 % des BIP der G7.
Die fünf größten imperialistischen Volkswirtschaften (G5) erzielten mit diesen Nettozuflüssen sogar 1,7 % ihres jährlichen BIP.  Im Gegensatz dazu verloren die BRICS-Volkswirtschaften 1,2 % ihres BIP pro Jahr durch Nettoabflüsse.


Betrachtet man die Nettoeinkommensströme der einzelnen G7- und BRICS-Länder, so waren die größten Gewinner in den letzten zwei Jahrzehnten Japan mit seinen riesigen Auslandsvermögensbeständen und das Vereinigte Königreich, das Rentier-Zentrum des Finanzkreislaufs.  Die BRICS-Länder, die am meisten verloren haben (im Verhältnis zu ihrem BIP), waren Südafrika und Russland.


Rechnet man nun die oben beschriebenen Einkommensgewinne/-verluste aus dem internationalen Handel in Höhe von 1 % des BIP hinzu, so profitiert der imperialistische Block jedes Jahr um etwa 2 bis 3 % des BIP von der Ausbeutung der BRICS-Länder, der wichtigsten Volkswirtschaften des "globalen Südens" - dies entspricht in der Tat dem durchschnittlichen jährlichen Wachstum ihres realen BIP im 21. Jahrhundert.

Die World Inequality Database (WID), eine in Paris ansässige Gruppe von "Ungleichheits"-Ökonomen, zu denen auch Thomas Piketty und Daniel Zucman gehören, hat soeben eine eingehende Analyse dessen veröffentlicht, was sie als "Überschussrendite" bezeichnet, die der reiche imperialistische Block aus im Ausland gehaltenen Vermögenswerten erzielt. 
Der WID stellt fest, dass die Bruttoauslandsvermögen und -verbindlichkeiten fast überall, vor allem aber in den reichen Ländern, größer geworden sind und das Auslandsvermögen etwa das Doppelte des weltweiten BIP oder ein Fünftel des weltweiten Vermögens erreicht hat. Der imperialistische Block kontrolliert den größten Teil dieses Auslandsvermögens, wobei die 20 % reichsten Länder mehr als 90 % des gesamten Auslandsvermögens auf sich vereinen. 

Die WID umfasst auch den in Steuerparadiesen versteckten Reichtum und die daraus erwirtschafteten Kapitalerträge.  

Die Überschussrendite ist definiert als "die Differenz zwischen den Erträgen aus ausländischen Vermögenswerten und den Erträgen aus ausländischen Verbindlichkeiten".  Der WID stellt fest, dass sich dieser Wert für die 20 % reichsten Länder seit 2000 deutlich erhöht hat.  Die Netto-Einkommensübertragungen von den ärmsten zu den reichsten Ländern entsprechen jetzt 1 % des BIP der 20 % reichsten Länder (und 2 % des BIP der 10 % reichsten Länder), während sie das BIP der 80 % ärmsten Länder um etwa 2 bis 3 % ihres BIP verschlechtern.  Diese Ergebnisse ähneln ziemlich stark den Ergebnissen, die ich oben für die Nettokrediteinkommensströme erhalten habe.

Was uns in unserem ursprünglichen Papier auffiel, war, dass der imperialistische Block von Ländern, wie wir ihn 2021 definierten, praktisch derselbe war wie die fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften, die Lenin 1915 als imperialistische Gruppierung identifizierte - etwa 13 Länder.  Der Club war kaum erweitert worden - er war für neue Mitglieder geschlossen.  Die aufstrebenden kapitalistischen Volkswirtschaften waren im letzten Jahrhundert zur Vorherrschaft des imperialistischen Blocks „verurteilt“.  Diese neue Studie des WID bestätigt diese Schlussfolgerung. 

In den letzten 50 Jahren hat sich der imperialistische Block nicht verändert, sondern er entzieht den übrigen Ländern - darunter China, Indien, Brasilien und Russland - immer mehr Vermögenseinkommen.  In diesem Sinne können diese BRIC-Länder nicht einmal als subimperialistisch, geschweige denn als imperialistisch betrachtet werden.



Dies bringt mich zu einigen Überlegungen zu der Frage der Superausbeutung. 
Von Superausbeutung spricht man, wenn die Löhne so niedrig sind, dass sie unter dem Wert der Arbeitskraft liegen, d. h. unter dem Wert, der notwendig ist, damit die Arbeitnehmer weiterarbeiten und sich ausreichend reproduzieren können. 
Arbeitnehmer, deren Löhne und Sozialleistungen unter diesem Wert liegen, sind de facto Arme.  Es wurde argumentiert, dass dies das Hauptmerkmal der imperialistischen Ausbeutung des globalen Südens ist. Die Löhne sind dort so niedrig, dass sie unter dem Wert der Arbeitskraft liegen.  Es ist die Superausbeutung, die es den imperialistischen multinationalen Konzernen ermöglicht, ihre Superprofite im Handel, bei der Rechnungsstellung und bei den Kapitalerträgen zu erzielen.


In unserem ursprünglichen Papier stellten wir in Frage, ob die "Superausbeutung", die es zweifellos gibt, notwendigerweise die Hauptursache für den Transfer von Mehrwert aus den armen Ländern in die reichen Länder ist.  Wir waren der Ansicht, dass der Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung und des Mehrwerttransfers seine Aufgabe erfüllte, ohne dass die Superausbeutung als Hauptursache herangezogen werden musste.

Außerdem setzte die internationale Superausbeutung voraus, dass es ein durchschnittliches internationales Lohnniveau gab, das als Maßstab für den Wert der Arbeitskraft weltweit dienen konnte. Doch während es internationale Marktpreise für Exportgüter und -dienstleistungen gibt, gibt es keinen internationalen Lohn.  Die Löhne werden sehr stark von den Machtverhältnissen zwischen Kapitalisten und Arbeitnehmern in jedem Land bestimmt.  Sicher, es gibt internationalen Druck, und einheimische kapitalistische Unternehmen im Globalen Süden, die auf den Weltmärkten mit technologisch weitaus fortschrittlicheren Unternehmen des imperialistischen Blocks konkurrieren, können oft nur überleben, indem sie die Löhne für ihre Arbeiter drücken. 
Das bedeutet aber, dass die Mehrwert- oder Ausbeutungsrate steigt, um den Verlust an Mehrwert im internationalen Handel mit den imperialistischen Unternehmen angesichts ihrer produktiveren Technologien auszugleichen. 

In unserem ursprünglichen Papier fanden wir heraus, dass es eine Kombination der beiden Faktoren war: bessere Technologie, die die Kosten pro Einheit für die reichen Volkswirtschaften senkt, und eine höhere Ausbeutungsrate in den ärmeren Ländern, die zu dem jährlichen Gewinntransfer von 1 % des BIP von den BRICS an den imperialistischen Club beitrug.  Wir fanden heraus, dass das Verhältnis zwischen dem Beitrag produktiverer Technologie und höherer Ausbeutungsrate beim Transfer von Mehrwert von den armen zu den reichen Ländern etwa 60:40 betrug.

Könnte man messen, ob der Werttransfer auf "Superausbeutung" zurückzuführen ist oder nicht?  Eine Möglichkeit wäre, die nationalen Armutslohnniveaus zu betrachten.  Sie variieren stark zwischen den Ländern und zwischen reichen und armen Ländern.  Wenn diese Niveaus als Schwellenwert für Löhne oberhalb oder unterhalb des Wertes der Arbeitskraft angesehen werden können, dann könnte der Prozentsatz der Arbeitnehmer sowohl in reichen als auch in armen Ländern, die weniger als diese nationalen Niveaus verdienen, als "Superausbeutung" betrachtet werden.

Der Punkt ist, dass es auch Arbeiter in den imperialistischen "reichen" Volkswirtschaften gibt, die nach diesem Kriterium "super-ausgebeutet" sind.  Und im Gegenzug gibt es viele Arbeitnehmer in den armen Ländern, die über dem nationalen Armutslohnniveau verdienen. 

Sehen Sie sich die Armutslohnniveaus für die G7- und BRIC-Länder an, die ich anhand von Quellen der Weltbank berechnet habe.  Auf der Grundlage des Anteils der Arbeitnehmer, die weniger als den Armutslohn in den jeweiligen Ländern verdienen (wie von der Weltbank angegeben), schätze ich, dass etwa 5-10 % der G7-Arbeitnehmer "super-ausgebeutet" werden, während es in den BRICS-Ländern etwa 25-30 % sind.  Das bedeutet aber immer noch, dass 70 % der Arbeitnehmer in den BRICS-Staaten zwar weit weniger pro Stunde verdienen als die G7-Arbeitnehmer, aber nicht unter dem Wert ihrer Arbeitskraft auf nationaler Basis.  Die Ausbeutung der Arbeitnehmer im globalen Süden ist enorm, aber die Superausbeutung als solche ist nicht die Hauptursache.


Zusammenfassend bestätigen diese neuen Studien, dass der Imperialismus in wirtschaftlichen Begriffen quantifiziert werden kann:
Es handelt sich um den anhaltenden Transfer von Mehrwert von den ärmsten Ländern der Welt in die reichen Länder durch ungleichen Austausch im internationalen Handel und durch Nettoströme von Profiten, Zinsen und Mieten aus Investitionen und Vermögen der reichen Länder in den armen Ländern. 
Dieser Prozess hat sich vor etwa 150 Jahren entwickelt und hält an."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] https://www.researchgate.net/publication/357210363_The_Economics_of_Modern_Imperialism

[2] Seigniorage: Vom Staat bzw. von der Notenbank aus der Differenz zwischen dem auf einem Geldschein aufgedruckten Wert und den entstehenden tatsächlichen Herstellungskosten erzielter Gewinn, der in der Regel der Regierung zufließt. Die Seigniorage wächst, wenn auch die Zentralbank-Geldmenge zunimmt. Langfristig kann dies zu Inflation und somit zu einem Verlust an realer Kaufkraft führen.

 

Militärstaaten

Di, 23/04/2024 - 07:42

Die westlichen Staaten und ihre Verbündeten – ein Siebtel der Weltbevölkerung – tätigen rund zwei Drittel der globalen Militärausgaben. Rüstungsindustrie gewinnt in Deutschland an Gewicht;
Ökonomen sagen „Kanonen ohne Butter“ voraus.


Der Anteil der westlichen Staaten und ihrer Verbündeten an den globalen Militärausgaben liegt mit rund zwei Dritteln doppelt so hoch wie der Anteil der nichtwestlichen Welt und wächst weiter. Dies geht aus einer neuen Studie hervor, die das Stockholmer Forschungsinstitut SIPRI am gestrigen Montag öffentlich präsentiert hat. Demnach sind die globalen Militärausgaben im vergangenen Jahr auf einen Rekordwert von rund 2,443 Billionen US-Dollar angestiegen. 37 Prozent davon wurden von den USA getätigt, 24 Prozent von den Ländern Europas; hinzu kamen die Ausgaben enger Verbündeter, darunter Japans. Deutschland liegt auf der SIPRI-Rangliste der Staaten mit den größten Militärausgaben weltweit auf Platz sieben; es könnte in diesem Jahr wegen seiner massiven Aufrüstung auf Platz fünf aufsteigen. Die forcierte Militarisierung im Westen geschieht in einer Zeit, in der der ökonomische und mittlerweile auch der politische Einfluss der transatlantischen Mächte schrumpft – eine Entwicklung, die womöglich nur mit Gewalt aufgehalten werden kann. Zugleich wachsen in Deutschland die politische Bedeutung der Rüstungsindustrie und der Wehretat – auf Kosten ziviler Haushaltsposten.

Kosten der Militarisierung

Die große Mehrheit der immer mehr anschwellenden weltweiten Militärausgaben wird von den westlichen Staaten getätigt. Dies geht aus einer am gestrigen Montag publizierten Studie des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor. Demnach gingen im Jahr 2023 rund 37 Prozent der globalen Militärausgaben von 2,443 Billionen US-Dollar – 916 Milliarden US-Dollar – allein auf die USA zurück. Die NATO-Mitglieder kamen zusammengenommen laut SIPRI-Berechnungen auf 1,341 Billionen US-Dollar – gut 55 Prozent aller Militärausgaben weltweit.[1] Europa wiederum wendete 24 Prozent aller Mittel auf, die im vergangenen Jahr auf dem gesamten Globus in die jeweiligen nationalen Streitkräfte investiert wurden. Allein West- und Mitteleuropa steckten 407 Milliarden US-Dollar ins Militär – ein gutes Drittel mehr als etwa die Volksrepublik China, deren Militärausgaben SIPRI unter Einschluss von Mitteln abseits des offiziellen Streitkräfteetats für 2023 auf gut 296 Milliarden US-Dollar beziffert. Hinzu kommen eng mit dem Westen verbündete Länder: Japan und Südkorea, die mit Militärausgaben in Höhe von 50,2 respektive 47,9 Milliarden US-Dollar die Plätze 10 und 11 auf der Weltrangliste einnehmen, oder Australien, das mit 32,3 Milliarden US-Dollar auf Platz 13 rangiert.

Im Aufstieg

Deutschland steht in der aktuellen SIPRI-Rangliste auf Platz sieben – hinter den USA, China, Russland (109 Milliarden US-Dollar), Indien (83,6 Milliarden US-Dollar), Saudi-Arabien (75,8 Milliarden US-Dollar) und Großbritannien (74,9 Milliarden US-Dollar). Die deutschen Militärausgaben beziffert SIPRI auf rund 66,8 Milliarden US-Dollar – mehr als diejenigen Frankreichs (61,3 Milliarden US-Dollar). Dabei steigen sie künftig weiter. Laut Angaben des Bundesverteidigungsministeriums kommen in diesem Jahr zum offiziellen Militärhaushalt von 51,9 Milliarden Euro noch 19,8 Milliarden Euro aus dem sogenannten Sondervermögen hinzu, das nach Auffassung des Bundesrechnungshofs „Sonderschulden“ genannt werden muss.[2] Damit erreichen die deutschen Militärausgaben dieses Jahr offiziell 71,7 Milliarden Euro, wobei dies noch nicht den tatsächlichen Militärausgaben entspricht: Der Betrag, den Berlin jedes Jahr an die NATO meldet, bezieht Ausgaben jenseits des Militärbudgets ein und liegt deshalb regelmäßig über dem offiziellen Militärhaushalt. Allein dieser beläuft sich in diesem Jahr laut derzeitigem Wechselkurs auf 76,4 Milliarden US-Dollar; damit käme Deutschland auf der aktuellen Weltrangliste vor Saudi-Arabien auf Platz fünf.

Rüstungstreiber Europa

Die treibende Rolle des Westens und insbesondere Europas bei der globalen Aufrüstung ist seit geraumer Zeit deutlich erkennbar. So nahmen die Militärausgaben der USA von 2014 bis 2023 um 9,9 Prozent zu, diejenigen Deutschlands im selben Zeitraum um rund 48 Prozent, diejenigen Europas SIPRI zufolge sogar um 62 Prozent. Auch im globalen Waffenhandel nehmen die europäischen Staaten eine bedeutende Stellung ein. Frankreich war in den fünf Jahren von 2019 bis 2023 zweitgrößter Waffenexporteur weltweit; Deutschland, Italien, Großbritannien sowie Spanien folgten auf den Plätzen fünf bis acht. Europa war zudem im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 die einzige Großregion, deren Waffenimporte stiegen, und dies massiv – um bemerkenswerte 94 Prozent gegenüber dem Fünfjahreszeitraum von 2014 bis 2018.[3] Darüber hinaus stockten in den Jahren von 2019 bis 2023 vor allem wichtige Verbündete des Westens die Einfuhr von Kriegsgerät deutlich auf – Südkorea (plus 6,5 Prozent), die Philippinen (plus 105 Prozent) und Japan (plus 155 Prozent). SIPRI-Angaben zufolge liegen US-amerikanische und europäische Waffenschmieden zudem beim Auftragsbestand, der faktisch die Aufrüstung der nächsten Jahre beziffert, klar vorn.[4]

Der Abstieg des Westens

Die westlichen Staaten forcieren ihre Aufrüstung in einer Zeit, in der ihr wirtschaftlicher Einfluss längst schrumpft und in politischen Einflussverlust zu münden beginnt. Hielten sie im Jahr 2000 noch einen Anteil von 56,36 Prozent an der globalen Wirtschaftsleistung – berechnet nach Kaufkraftparität –, so ist dieser auf aktuell nur noch 40,62 Prozent gesunken und wird nach Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) kontinuierlich weiter zurückgehen, während der Anteil des Globalen Südens mittlerweile schon bei 59,38 Prozent liegt und weiter steigt. Die G7, die sich als „Lenkungsausschuss der Weltpolitik“ begreifen, erarbeiteten 2021 erstmals eine schwächereWirtschaftsleistung – ebenfalls berechnet nach Kaufkraftparität – als die BRICS (30,7 Prozent vs. 31,5 Prozent) und fallen seitdem mit großer Kontinuität immer weiter zurück, zumal die BRICS sich am 1. Januar 2024 erweitert haben. Die Banque de France sieht die BRICS+ im Jahr 2027 bei rund 37,6 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, die G7 bei nur noch 28,2 Prozent.[5] Der Verlust des Westens an politischem Einfluss wiederum zeigt sich etwa darin, dass es ihm bis heute nicht gelingt, die Länder des Globalen Südens zur Beteiligung an den Russland-Sanktionen zu nötigen. Den Einflussverlust stoppen könnte womöglich nur der Rückgriff auf das Militär.

Das Gewicht der Waffenindustrie

Die massive Aufrüstung, die dazu erforderlich ist und ausweislich der SIPRI-Zahlen auch entschlossen vorangetrieben wird, hat freilich Auswirkungen auch im Innern der westlichen Staaten. In der Bundesrepublik etwa gehörte die Rüstungsindustrie jahrzehntelang nicht zu den Sektoren mit einer herausragenden Stellung in der nationalen Wirtschaft. Das beginnt sich mittlerweile zu ändern. Im März vergangenen Jahres zog mit Rheinmetall ein erster Rüstungskonzern in den Leitindex DAX ein – ein Symbol für den wachsenden Einfluss der deutschen Waffenhersteller.[6] Rheinmetall konnte seinen Umsatz im Jahr 2023 auf 7,2 Milliarden Euro steigern und geht davon aus, bis 2026 einen Umsatz von bereits 13 bis 14 Milliarden Euro erreichen zu können. Das ist immer noch Lichtjahre von Spitzenkonzernen wie Volkswagen mit einem Jahresumsatz von zuletzt 322 Milliarden Euro entfernt, nähert sich aber perspektivisch der ersten Liga der deutschen Industrie an. Schrittweise wächst mit dem ökonomischen auch das politische Gewicht der deutschen Rüstungsindustrie.

Kanonen ohne Butter

Parallel drängen die Militärausgaben andere Posten im deutschen Staatshaushalt zurück. So ist der Wehretat mit einem Anteil von 10,9 Prozent am gesamten Bundeshaushalt zur Zeit der zweitgrößte Etatposten nach dem Budget für Arbeit und Soziales.[7] Dabei sind jedoch die Ausgaben nicht eingerechnet, die aus dem „Sondervermögen“ getätigt werden sollen. Bezieht man sie ein, liegt der Militäranteil bereits bei rund 15 Prozent. Dies wird auf Dauer auf Kosten ziviler Etatposten gehen. Kürzlich konstatierte der Präsident des Ifo-Instituts, Clement Fuest: „Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht.“ Fuest sagte „Kanonen ohne Butter“ voraus.[8], [9]

 

Anmerkungen:

[1] Angaben hier und im Folgenden: Nan Tian, Diego Lopes da Silva, Xiao Liang, Lorenzo Scarazzato: Trends in World Military Expenditure, 2023. SIPRI Fact Sheet. Solna, April 2024.

[2] Pistorius im Bundestag: „Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif“. bmvg.de 01.02.2024. S. auch „Deutschland kriegstauglich machen“.

[3], [4] S. dazu Rüstungstreiber Europa.

[5] Expansion of BRICS: what are the potential consequences for the global economy? banque-france.fr 13.02.2024.

[6] Rheinmetall steigt in den DAX auf. tagesschau.de 04.03.2023. S. auch Kampfpanzer statt Dialyse.

[7] Bundeshaushalt digital. bundeshaushalt.de.

[8] Raphaël Schmeller: Ampel zerlegt Sozialstaat. junge Welt 24.02.2024. S. auch Der Wille zum Weltkrieg.

[9] Fred Schmid: Kanonen und Butter: Das ist Schraraffenland

 

Vom "ewigen Frieden" und dem "radikalen Universalismus". Aktuelle Anmerkungen zu Immanuel Kants 300. Geburtstag

Di, 23/04/2024 - 06:09

Die Ampel-Regierung und der Militär-Industrie-Komplex sind dabei, Deutschland "kriegsfähig" zu machen – angefangen von der Bundeswehr über Medien, Krankenhäuser, Unis bis zu Schulen.
Dabei wäre es angesichts von weltweiten Kriegen, wachsender Armut und Hunger-, Klima- und Umweltkatastrophen angebracht, sich auf Kants "Zum ewigen Frieden" zu besinnen.
Emanuel Kants 300. Geburtstag (22. April 1724 - 12. Februar 1804) wäre eine Gelegenheit, sich seinen vor dreihundert Jahren gemachten friedensfördernden Vorschlägen anzunähern.

Mitte März spielte Immanuel Kants Blick auf die Welt jedenfalls in Leipzig eine Rolle.
Auf der dortigen Buchmesse wurde dem israelischen Philosophen Omri Boehm, einem "Kantianer", der Buchpreis für Europäische Verständigung für sein Werk "Radikaler Universalismus" verliehen.

https://youtu.be/MECdCLreMi8

Darin plädiert er für eine Rückbesinnung auf Kants praktischer Vernunftsphilosophie, die Boehm als "radikalen Universalismus" bezeichnet, und verteidigt den Universalismus gegen Identitätspolitik und selbstgerechte liberale Demokraten. Kant erhob das Selbstdenken zum Maßstab der Aufklärung: Zu seiner Ethik gehört der zentrale Gedanke, dass man Menschen stets als "Zweck an sich" und nie bloß als "Mittel" behandeln sollte, dass man sie, grob gesagt, nicht  instrumentalisieren darf.

"Radikaler Universalismus" mit Blick auf Israel-Palästina

In seiner Rede auf der Leipziger Buchmesse sagte Boehm:
"Kants Begriff der Menschheit gilt es als moralische und nicht als biologische Kategorie zu bewahren und damit die Flut des dunklen Posthumanismus einzudämmen, der die identitäre Linke, die identitäre Rechte und - nicht weniger wichtig - die identitäre Mitte infiziert hat, deren vermeintlicher Gegensatz zur Identität allzu oft auf die Brüderlichkeit der Privilegierten hinausläuft.

Wir schauen auf die Kibbuzim an der Grenze zu Gaza am 7. Oktober – als ganze Familien abgeschlachtet, Kinder vor den Augen ihrer Eltern ermordet, Frauen systematisch vergewaltigt wurden - und erleben dann den moralischen Bankrott jener angeblichen Radikalen, die dies 'bewaffneten Widerstand' nennen. Wir schauen auf die Zerstörung des Gazastreifens, die Tötung Tausender Frauen und Kinder, das Verhungern - und erleben dann, wie angebliche liberale Theoretiker eine humanitäre Waffenruhe im Namen der 'Selbstverteidigung' monatelang delegitimieren. In der Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der Doktrin des 'bewaffneten Widerstands' und der Theorie der 'Selbstverteidigung' sehen wir die Öffentlichkeit verdunkelt."[1]

Boehm vertritt die Idee eines jüdisch-palästinensischen binationalen Bundesstaates mit gleichen Rechten für Alle als Alternative zum 1948 gegründeten jüdischen Staat Israel.
Philosoph Omri Boehm über einen Staat für Juden & Palästinenser - Jung & Naiv: Folge 468: "Die Zweistaatenlösung zu unterstützen ist ähnlich, wie den Klimawandel zu leugnen."

"Zum ewigen Frieden", Weltbürgerrecht und allgemeine Hospitalität

Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" (erste Auflage 1795) ist über zwei Jahrhunderte alt. Die in ihr entwickelte Idee des Friedens ist auch heute von beeindruckender Aktualität: vor allem in ihrem nüchternen politischen Realismus und ihrer Skepsis gegenüber schnell wirkenden Heilmitteln.
Kant sagt, immerwährender Friede müsse dann keine bloße Idee bleiben, wenn wir es als unsere Pflicht und als berechtigte Hoffnung ansehen, schrittweise und kontinuierlich den Weg in eine friedliche Weltgesellschaft zu gehen.

Wichtigste Voraussetzungen dafür sind: Das Prinzip der Nichteinmischung und die Begründung eines Völkerrechts, fußend auf einem Föderalismus freier Staaten und eines "Weltbürgerrechts und allgemeiner Hospitalität[2]". Mit diesen Forderungen machte er sich auch zu einem Kritiker des Kolonialismus. "Die moralisch-praktische Vernunft in uns spricht ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein. Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein."

Im Einzelnen fordert Kant in seiner Schrift:

  • "Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen Staate durch Erhebung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können. Das gilt auch für die Verdingung der Truppen eines Staates an einen anderen."
  • "Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen."
  • "Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen."
  • "Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen Staat solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen. Denn irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrigbleiben."

Kant und die Begründung des bürgerlichen Denkens

"Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben, Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben in einem stillen, abgelegenen Gäßchen zu Königsberg (…) Sonderbarer Kontrast zwischen dem äußeren Leben des Mannes und seinen zerstörenden, weltzermalenden Gedanken."[3]

"Es war ein Kant, der mit einer beispiellosen Scheidekunst alles zerlegte und auflöste, ein radikaler Revolutionär, dämonischer Nihilist und unbarmherziger Zerstörer des bisherigen Weltbilds. Da war aber auch ein Kant, der nichts anderes war als der kleine Bürger, altpreußisch, protestantisch, pedantisch, konservativ, vor der Staatsallmacht, dem Kirchendogma und der öffentlichen Meinung kapitulierend."[4]

Er war aber auch einer der wenigen von der anfänglich großen Zahl der Anhänger der Französischen Revolution, die dieser zeit seines Lebens treu blieb. "Zu einer Zeit, wo in Königsberg jeder, der die Französische Revolution nicht schlechthin ablehnte, unter dem Namen eines Jakobiners ins schwarze Register kam, ließ sich Kant dadurch nicht abschrecken, an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden."[5]

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Immanuel Kant (22. April 1724 - 12. Februar 1804) hat seine Heimatstadt Königsberg (das heutige Kaliningrad) sein Leben lang nicht verlassen. Seine "Karriere" ist schnell erzählt: Nach dem Studium der Philosophie, Mathematik und Physik an der Universität Königsberg lehrt er ab 1755 als Privatdozent an der Uni. Erst fünfzehn später – da ist er bereits 46 Jahre alt – wird er zum Professor für Metaphysik und Logik an der Universität ernannt. 1781 veröffentlicht er sein Hauptwerk, die "Kritik der reinen Vernunft", sieben Jahre darauf die "Kritik der praktischen Vernunft“. "Zum ewigen Frieden. Ein Philosophischer Entwurf" veröffentlichte er 1795.

Die Titel dieser Schriften sind Programm: Es geht Grunde um die Frage, wie der Mensch Natur und Gesellschaft rational beherrschen kann. Seine Antwort lautet: Allein durch die tätige Vernunft. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Das Individuum wird von Kant als Subjekt gesehen, das aktiv zu selbständigen Handlungen und Entscheidungen fähig ist. Das bedeutet einerseits: Erkenntnisoptimismus auf der Grundlage vernünftigen Denkens und Handelns. Andererseits ist damit die Zurückweisung feudal-absolutistischer Autoritäten (Könige, Kirche) verbunden. Es galt nun, einen Weg zu finden, das der Selbständigkeit der Persönlichkeit voll gerecht wird, ohne dass der Blick auf die Mitmenschen verloren geht. Um dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, formuliert er seinen "kategorische Imperativ": "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

Das Verdienst Kants besteht – zusammengefasst - nicht nur in der wissenschaftlich-fundierten Zerstörung des theologisch-obrigkeitmäßigen Weltbildes sondern auch in der Zusammenführung des bürgerlichen Denkens zu einem Ganzen. Er fasst dies in den Begriff der "reinen Vernunft". Damit kann das Individuum durch Wahrnehmung seiner persönlichen Interessen und Nutzung seines Verstandes seine persönliche Zukunft und gleichermaßen den Fortschritt der Gesellschaft auf den Weg bringen.

Diese idealistische Sichtweise allgemein-menschlicher Werte wird später Gegenstand der materialistisch-dialektischen Kritik von Marx und Engels sein. Die von Kant postulierten Werte als „allgemeinmenschliche“ gesetzt, sind letzten Endes die "bürgerliche Vernunft und Freiheit" und sind im Kapitalismus für die Ausgebeuteten und Subalternen höchst "unvernünftig" und halten sie in ökonomischer Abhängigkeit und Unfreiheit.

Kant - Rassist oder Anti-Rassist?

Vor vier Jahren, als weltweit Denkmäler von Rassisten und Sklavenhändlern gestürzt wurden, gerieten auch unsere Vorzeige-Denker Hegel und Kant auf die Anklagebank. "Kant war ein Rassist", titelte z.B. die Frankfurter Allgemeine am 23.6.20.

In der folgenden Debatte in den bürgerliche Feuilletons ließen sich folgende "Frontverläufe" ausmachen: Auf der einen Seite die an postkolonialer Theorie geschulten Attacken, munitioniert mit für sich selbst sprechenden Zitaten Kants. Auf der anderen Seite die Versuche, den moralischen Universalismus zu verteidigen, auch mit dem Hinweis, Kants Bemerkungen über Menschenrassen seien in seinem Werk nur randständig, Wem soll man bei dieser widersprüchlichen Ausgangslage also Glauben schenken?

Pauline Kleingeld, Professorin für Philosophie der Universität Groningen und Mitglied der Kant-Kommission der Berlinisch-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stellt dazu fest: Noch 1788, in "Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie", beruft sich Kant auf eine Hierarchie der "Rassen", um die europäische Kolonialherrschaft zu rechtfertigen. Dann aber passiert etwas, das Kleingeld als "Kants innere Revolution" bezeichnet. Unter dem Eindruck der Französischen und Haitianischen Revolution habe Kant in den 1790er Jahren ernsthaft an einer Revision seiner bisherigen Rechts- und politischen Philosophie zu arbeiten begonnen. Freiheit und Gleichheit waren seine neuen Ideale. Er verzichtete fortan auf jegliche Rassenhierarchie und entsprechende Äußerungen. Doch nicht nur das: "Er hat auch eingesehen, dass die wirkliche Überwindung des Rassismus in seiner Philosophie mehr erforderte als nur die Streichung der Hierarchie: Zum Beispiel hat er die neue Kategorie des Weltbürgerrechts eingeführt und den Kolonialismus aktiv und explizit verurteilt", so Kleingeld. Das Weltbürgerrecht garantiert nach Kant jedem "Erdbürger" die gleichen Rechte. Den Kolonialismus erklärte er für mit dem Weltbürgerrecht unvereinbar - also zum Verbrechen.[6]

 

Kant und der "ethische Sozialismus"

"Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, dass wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel," schreibt Friedrich Engels.[7]

Vierzig Jahre später, anlässlich des hundertsten Todestages von Kant, beklagte der marxistische Journalist Franz Mehring allerdings, "dass der heutigen Arbeiterklasse geraten wird, von Marx,‘dem Gefangenen der Doktrin‘, auf den unbestechlichen und unerschütterlichen Wahrheitsforscher Kant zurückzugehen."[8]

Unter der Losung "Zurück zu Kant" bildete der sog. "Neukantianismus" eine einflussreiche Strömung innerhalb der II. Internationale. Der Kapitalismus sei ungerecht und unmoralisch, weil der Arbeiter nicht für sich selbst handeln könne, sondern nur als Mittel gebraucht werde. Der von Kant vertretene kategorische Imperativ sei ein zeitloses Prinzip, in dem auch der Sozialismus gründe. Eduard Bernstein begründete seine theoretische Neuausrichtung der Sozialdemokratie an der Wende zum 20.Jahrhundert wesentlich auf einer neukantianischen Revision des Marxismus.

Unter dem Transparent "Geh mit der Zeit, geh mit der SPD" debattierte ein Parteitag der SPD vom 13. bis zum 15. November 1959 in Bad Godesberg über ein neues Grundsatzprogramm. Darin heißt es über die "Grundwerte des Sozialismus: "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens. Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden."[9]

Die Verheißung, diese drei Grundwerte ohne eine grundlegende Veränderung der Produktions- und Machtverhältnisse erreichen zu können, hat sich – mit Blick auf die heutige Realität – als immer größer werdende Illusion erwiesen.

Als vor zwanzig Jahren Der Spiegel anlässlich seines 200. Todestages Immanuel Kant die Titelgeschichte widmete (Das reine Gold des Denkens), hieß es daraufhin in einem Leserbrief, man solle Kant lieber nicht feiern – habe er doch zu Hegel und Marx geführt. Eben darum sollten wir ihn feiern.

 

 

Fußnoten

[1] https://www.leipzig.de/news/news/reden-zur-verleihung-des-leipziger-buchpreises-zur-europaeischen-verstaendigung
[2] Hospitalität: freundliches, entgegenkommendes Verhalten gegenüber einem Gast
[3] Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835). In: Heines Werke in fünf Bänden, Berlin/Weimar 1974, Bd 5, S.99/100
[4] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit (1928),.München o.J. , S. 763
[5] Zit. nach: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein Philosophischer Entwurf. Reclam, Stuttgart 1983, S. 6 (Einführung)
[6] Zitiert nach ND 22.5.21
[7] Engels am 21.9.1882, MEW 19, S. 188
[8] Franz Mehring, Kant und Marx (1904). In: Aufsätze zur Geschichte der Philosophie, Leipzig 1975, S. 72
[9] Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 187

1. Mai und die Risiken der modernen Arbeitswelt

Mo, 22/04/2024 - 09:30

Am 1. Mai 2024 rufen DGB und Gewerkschaften zu bundesweiten Kundgebungen auf. Motto in diesem Jahr: "Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit". „Unsere Aufgabe ist es, den Wandel sozial gerecht zu gestalten“, betont der DGB. „Transformation gelingt nicht ohne die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften“.


Eine besondere Bedeutung hat dabei KI, die „künstliche Intelligenz“: „Die öffentliche Diskussion dreht sich oft nur um die Frage, wie viele Arbeitsplätze durch KI ersetzt werden. Viel spannender ist die Frage, wie sich Angestelltenarbeit qualitativ verändert. Diese Veränderungen sind vielfältig und zum Teil widersprüchlich. Das bietet Ansatzpunkte für Betriebsräte, die digitale Transformation im Sinne der Beschäftigten zu gestalten“, so Stefan Lücking von der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-roboter-am-schreibtisch-59534.htm) 
„KI ist in den Betrieben schon lange angekommen. Wichtig ist, dass wir die Potentiale anschauen und die Chancen nutzen“, sagt die Vorsitzende der IG Metall  Christiane Brenner

Das Bundesministerium für Arbeit hat eine Arbeitsgruppe „Algorithmisches Management in der Arbeitswelt“ ins Leben gerufen (www.denkfabrik-bmas.de/schwerpunkte/plattformoekonomie/arbeitsgruppe-algorithmisches-management). Vertreter von Unternehmen, Gewerkschaften, und Wissenschaft und Behörden legen Ergebnisse der gemeinsamen Diskussionen in einem Arbeitspapier vor. Um die Gefahren des „algorithmischen Managements“ in den Griff zu bekommen, empfiehlt die Arbeitsgruppe, diese Systeme vor der Einführung unter Arbeitsschutzgesichtspunkten zu analysieren.  

Mit People Analytics zum gläsernen Beschäftigten

Die Unternehmen setzen aber Fakten und führen neue Technologien in den Betrieben ein. Mit Chatbots sparen sich Unternehmen die Bereitstellung von menschlichen Ansprechpartnern für Kundenfragen. KI im Chatbot simuliert Kundennähe und antwortet in meist normal klingenden Sätzen. Die Gespräche können ausgewertet und dem Kunden weitere Angebote unterbreitet werden. In der Arbeitswelt sind für ChatGPT viele Anwendungsbereiche denkbar, etwa im Kundenservice, bei Erstellung von Werbetexten oder beim Schreiben von Softwarecode.

Ein weiterer Vorteil: Mithilfe der KI können große Datenmengen ausgewertet werden.
Nach der BWL-Logik muss alles in Zahlen ausgedrückt werden. Das sind klassischerweise

1.Ergebnisziffern wie Gewinn oder Umsatz.

2. Eine Betriebsdatenerfassung zur Maschinennutzung, die Auswertungen über Produktionsarbeit beinhaltet.

3. „People Analytics“ als neuer Trend auf dem Weg zur gläsernen Belegschaft, egal ob in Produktion oder Verwaltung tätig, werden Daten über Arbeiter und Angestellte erfasst. Die systematische, auf Algorithmen basierende Analyse von Personaldaten wird unter dem Schlagwort People Analytics zusammengefasst. „Durch People Analytics können Sie bestimmte Zusammenhänge aufdecken“ und „Optimierungspotenziale“ erkennen, wirbt der Softwareanbieter Personio bei Personalverantwortlichen (www.personio.de/hr-lexikon/people-analytics). Dabei „werden Personaldaten im Ist-Zustand, aber auch Entwicklungen über einen Zeitraum hinweg, erfasst. Diese Daten nutzen Sie im People Analytics und verknüpfen Sie mit anderen Unternehmensdaten, um Zukunftsprognosen für die Entwicklung des Unternehmens zu erstellen.“

Der Arbeitsablauf beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten oder Antwortzeiten. Auf dieser Basis werden die Arbeitsergebnisse und Abläufe ständig gemessen, standardisiert und die Beschäftigten durch Zeitvorgaben kontrolliert. Per Software soll der Arbeitsanfall und das Kundenverhalten prognostiziert und stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Personalkapazitäten und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen vorschreiben zu können. Ausgehend von Vergangenheitsdaten wie Aufträge, zu produzierende Stückzahlen, Kassentransaktionen, prognostizierte Planumsätze, Telefonate oder Kundenfrequenz-Messungen entsteht ein Ausblick für die Personaleinsatzplanung, heute „Forecast“ genannt. Die Folge sind standardisierte Prozesse, d.h. die konkrete Vorgabe von Arbeitsschritten für Bildschirmarbeitsplätze.

Aus der Sicht des Managements soll „People Analytics“  dabei helfen, die Arbeitsabläufe zu verbessern, die Produktion zu steigern oder die Kosten zu senken.
Für die Belegschaft bedeutet dies permanente Kontrolle.

People Analytics nutzt teilweise anonymisierte, teilweise jedoch auch personenbezogene Daten – zum Beispiel, um vorherzusagen, welcher Bewerber oder welche Bewerberin für eine Stelle besonders geeignet ist. Auch Gehaltsdaten können ausgewertet werden, um festzustellen, um die Bezahlung im Unternehmen zu prüfen.

„Zukünftige Ereignisse und Entwicklungen können prognostiziert werden“, bedeutet in der Praxis: Die Schichtplanung soll über KI und Algorithmen erfolgen und so Einwände von Beschäftigten erschweren, da diese Daten „objektiv“ ermittelt wurden. „People Analytics ist im Gegensatz zum Personalcontrolling in die Zukunft gerichtet.
Das bedeutet: Sind Einflussfaktoren bekannt, können negative Entwicklungen schneller erkannt und Gegenmaßnahmen getroffen werden. Es kann aber auch vorausgesagt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis in Zukunft eintreffen wird (Predictive Analytics).“, so der der Haufe-Verlag, der auch mit „datenbasierten Entscheidungen“ argumentiert: „Statt Bauchgefühl liefern Zahlen und faktenbasierte Hypothesen die Grundlage für Entscheidungen“. www.haufe.de/hr/magazin/people-analytics)

Auswirkungen auf die Arbeitsinhalte

KI wirkt sich auch auf die Arbeitsinhalte aus. Dieser Automatisierungsschub betrifft vor allem Angestellte, macht eine aktuelle Untersuchung deutlich, von der die gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung berichtet (www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-roboter-am-schreibtisch-59534.htm). Wie die Automatisierung zu einer Abwärtsspirale führen kann zeigt ein Beispiel aus der Finanzbranche. Sachbearbeiter mussten bis vor Kurzem zum Beispiel Zahlungsverkehr für verschiedene Geldinstitute abwickeln und bei Fehlern Geldautomaten-Transaktionen korrigieren. Diese Arbeiten werden inzwischen von einer KI erledigt. Die verbliebenen Beschäftigten überprüfen lediglich, ob die Software fehlerfrei agiert. Sie „bilden faktisch nur noch das Back-up für den Fall, dass die Maschine einmal ausfallen sollte“, urteilen Thomas Lühr vom Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung und Tobias Kämpf von der University of Labour in Frankfurt (www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-roboter-am-schreibtisch-59534.htm). Wurden durch Betriebsdatenerfassung und Ansätze einer Industrie 4.0-Maschinen-Vernetzung Arbeitsplätze in der Produktion reduziert oder verändert, sind nun Verwaltungseinheiten betroffen. Die Konsequenz ist ein Dequaifizierung, die sich auch auf die Bezahlung auswirken wird, da Entgeltgruppen in Tarifverträgen abhängig von den Anforderungen an die Stelle ist

 

Probleme beim Arbeiten zuhause

Wie sich Arbeitsbedingungen in der modernen Arbeitswelt verschlechtern, zeigt auch eine aktuelle Untersuchung zum mobilen Arbeiten, die der Industrieverbands Büro und Arbeitswelt e. V. (IBA) in Zusammenarbeit mit Forsa durchführte. Die Problematik zeigt sich allein bei der Ausstattung im Homeoffice. Immerhin 56 Prozent aller Beschäftigten arbeiten zeitweise von zu Hause aus. Bei den Beschäftigten in Unternehmen mit mindestens 250 Beschäftigten trifft das sogar auf 66 Prozent aller Mitarbeitenden zu.

Fast die Hälfte der Arbeitenden (48 Prozent) berichten, dass ihr Homeoffice in Sachen Ergonomie weniger gut ausgestattet ist als der Arbeitsplatz im Büro. Jeder Dritte (33 Prozent) sagt das von der technischen Ausstattung und 43 Prozent von der Funktionalität der Arbeitsplätze. Im Vergleich zur Befragung im Jahr 2020 zeigen sich kaum Verbesserungen. „Es gibt noch einiges nachzuholen, um Büros und Homeoffices fit für die Anforderungen der neuen Arbeitswelt zu machen. Aber der Wandel hat begonnen“, fasst Helmut Link, Vorsitzender des IBA zusammen. Letztendlich sei aber mehr Tempo gefragt www.haufe.de/arbeitsschutz/gesundheit-umwelt/hybrides-arbeiten-unsicherheit-bremst-die-transformation_94_618944.html).

Auch zum Wegfall von Arbeit gibt es zunehmend Meldungen in den Medien: Eine firmeneigene KI spart jede Woche 30 Minuten Arbeit ein – so berichten es Beschäftigte der Otto Group nach der Einführung ihres KI-basierten Chatbots „ogGPT“, meldet das Handelsblatt und kommentiert: „Das ist ein Durchschnittswert, den KI-Profis vielleicht sogar mehrmals am Tag reinholen.“ www.handelsblatt.com/technik/ki/ki-briefing-40-stunden-minus-x-wie-viel-arbeit-erledigt-ki-fuer-sie/100031691.html)

Für den Tag der Arbeit ist also klar: Arbeitsverkürzung mit Lohnausgleich ist also aktueller denn je!

 

 

Die Lage der Weltwirtschaft. Tagung des IWF und der Weltbank

Di, 16/04/2024 - 12:30

Derzeit beginnt die halbjährliche Tagung des IWF und der Weltbank.  Die Organisationen und ihre geladenen Gäste werden die Lage der Weltwirtschaft und die anstehenden Herausforderungen erörtern und politische Lösungen vorstellen. 
Zumindest ist das die vorgesehene Idee.

 

 

Kristalina Georgieva, die geschäftsführende Direktorin des IWF, wurde gerade ohne Gegenkandidaten für eine weitere fünfjährige Amtszeit wiedergewählt.  In einer Vorschau auf die Tagung erläuterte sie, wie der IWF die Weltwirtschaft im Jahr 2024 und für den Rest des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts sieht. Sie legte eine düstere Analyse vor.  Es stehe ein "träges und enttäuschendes Jahrzehnt" bevor.  In der Tat, "ohne eine Kurskorrektur steuern wir ... auf die Lahmen Zwanziger zu".  Ihre Bemerkungen erfolgten vor der Veröffentlichung des jüngsten Weltwirtschaftsausblicks des IWF, der auch eine langfristige Prognose für die Weltwirtschaft
enthält.

Das ist eine nüchterne Lektüre.  Ich zitiere:

"Angesichts verschiedener Gegenwinde haben sich auch die künftigen Wachstumsaussichten eingetrübt. Den Fünfjahresprognosen zufolge wird sich das globale Wachstum bis 2029 auf knapp über 3 Prozent abschwächen. Unsere Analyse zeigt, dass das Wachstum bis zum Ende des Jahrzehnts um etwa einen Prozentpunkt unter den Durchschnitt vor der Pandemie (2000-19) fallen könnte. Dies droht, Verbesserungen des Lebensstandards rückgängig zu machen, und die Ungleichheit der Verlangsamung zwischen reicheren und ärmeren Ländern könnte die Aussichten auf eine globale Einkommenskonvergenz einschränken.“

"Ein anhaltend niedriges Wachstumsszenario in Verbindung mit hohen Zinssätzen könnte die Tragfähigkeit der Schulden gefährden und die Fähigkeit der Regierung einschränken, Konjunkturabschwächungen entgegenzuwirken und in soziale Wohlfahrt oder Umweltinitiativen zu investieren. Darüber hinaus könnte die Erwartung eines schwachen Wachstums Investitionen in Kapital und Technologien verhindern, was den Abschwung noch verstärken könnte. All dies wird durch den starken Gegenwind aufgrund der geoökonomischen Fragmentierung und der schädlichen unilateralen Handels- und Industriepolitik noch verschärft.

Die wichtigste Triebkraft für das Wachstum der Weltproduktion ist die erhöhte Arbeitsproduktivität, und diese hat sich verlangsamt.  Und diese "wird wahrscheinlich weiter abnehmen, angetrieben von Herausforderungen wie der zunehmenden Schwierigkeit, technologische Durchbrüche zu erzielen, der Stagnation des Bildungsniveaus und einem langsameren Prozess, durch den weniger entwickelte Volkswirtschaften zu ihren höher entwickelten Kollegen aufschließen können."

Der IWF macht unmissverständlich klar, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht in der Lage ist, die Produktivität zu steigern, die für die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse von 8 Mrd. Menschen unerlässlich ist.  Und warum?  Erstens, weil die Innovation nachlässt.  In den Mainstream-Wirtschaftswissenschaften wird dies an der so genannten totalen Faktorproduktivität (TFP) gemessen, d. h. an dem Produktivitätsanteil, der nicht durch Investitionen in Produktionsmittel oder in die Beschäftigung von Arbeitskräften erklärt werden kann - es handelt sich um einen Restwert, der das Gesamtniveau der Produktivität vervollständigt.  In diesem Jahrzehnt hat sich das weltweite TFP-Wachstum auf die niedrigste Rate seit den 1980er Jahren verlangsamt.

Der IWF sagt auch, dass das Versäumnis, ausreichend in das zu investieren, was kapitalistische Ökonomen gerne als "Humankapital" bezeichnen, zu keiner Verbesserung der Qualifikationen der weltweiten Arbeitskräfte geführt hat.  Und interessanterweise gibt der IWF zu, dass sich die Kluft zwischen den reichen, technisch fortgeschritteneren kapitalistischen Volkswirtschaften (dem imperialistischen Block) und der armen, weniger fortgeschrittenen Peripherie, in der 80 % der Menschheit leben, überhaupt nicht verringert - im Gegensatz zu den ständigen Behauptungen vieler Mainstream-Wirtschaftsstudien.

Die Expansion der Weltwirtschaft hat sich vor allem seit dem Ende der Großen Rezession von 2008-9 verlangsamt, so der IWF, was meine eigene Analyse dessen, was ich eine Lange Depression in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften genannt habe, widerspiegelt.

Insbesondere die Unternehmensinvestitionen, die wichtigste Triebkraft des Wirtschaftswachstums in den kapitalistischen Volkswirtschaften, sind nach 2008 eingebrochen und lagen 2021 bei etwa 40 Prozent ihres Trends vor der globalen Finanzkrise".  Und was ist der Grund für diesen Rückgang?  Der IWF sagt: "Seit 2008 ist Tobins q, ein Indikator für die zukünftigen Produktivitäts- und Rentabilitätserwartungen der Unternehmen, im Durchschnitt um 10 bis 30 Prozent gesunken, was zum Großteil des erklärten Rückgangs der Investitionen sowohl in den fortgeschrittenen als auch in den aufstrebenden Volkswirtschaften beiträgt."  Dies ist ein Umweg, um zu sagen, dass sich das Investitionswachstum der kapitalistischen Unternehmen verlangsamt hat, weil sie nicht das erwartete Rentabilitätsniveau erreicht haben, wie die nachstehende Grafik zeigt.

 

Die Verlangsamung des weltweiten realen BIP-Wachstums ist dem IWF zufolge also auf Folgendes zurückzuführen 1) das verlangsamte Wachstum der weltweit verfügbaren Arbeitskräfte, das voraussichtlich auf nur 0,3 % pro Jahr sinken wird; 2) die stagnierenden Unternehmensinvestitionen; und 3) die nachlassende Innovationskraft.  Bis zum Ende dieses Jahrzehnts (und dies setzt voraus, dass es nicht zu einem größeren globalen Einbruch wie 2008 und 2020 kommt) wird das globale Wachstum zum ersten Mal seit 1945 auf 2,8 % pro Jahr sinken.

Was sind die Komponenten dieses zweiten Jahrzehnts der depressiven Verlangsamung, so der IWF?  Der Hauptfaktor war bisher, dass die "Ressourcen" "falsch verteilt" worden sind.  Damit meint der IWF, dass das System der freien Marktwirtschaft die Produktionsmittel, die technologische Innovation und das Arbeitskräfteangebot nicht auf die produktivsten Sektoren verteilt.  Durch diese Fehlallokation gehen nach Schätzungen des IWF jährlich 1,3 Prozentpunkte des weltweiten Wachstums verloren.  Der IWF sagt dies zwar nicht, aber wenn kapitalistische Investitionen zunehmend in Finanz- und Immobilienspekulationen, Militärausgaben, Werbung und Marketing usw. fließen, ist es nicht verwunderlich, dass es zu einer solchen "Fehlallokation" von Ressourcen kommt, die das Produktivitätswachstum bremst.

Als weiteren schädlichen Faktor für das künftige Wachstum nennt der IWF die "Zersplitterung" des Welthandels und der Investitionen, da die großen Wirtschaftsmächte zu Protektionismus, Zöllen, Export- und Geschäftsverboten übergehen und die imperialistischen Mächte unter Führung der USA versuchen, https://thenextrecession.wordpress.com/2024/01/26/china-versus-the-us/ die Länder zu schwächen und zu strangulieren, die nicht "mitziehen", wie Russland und China.  Die Aufspaltung des ehemals globalisierten "Freihandels" in konkurrierende Blöcke wird nach Schätzungen des IWF das jährliche globale Wachstum um bis zu 0,7 Prozentpunkte verringern.

Was ist zu tun? Nach seiner düsteren Zukunftsanalyse schlägt der IWF vor, die Probleme durch eine höhere Erwerbsbeteiligung (Frauen, die arbeiten gehen) und mehr Einwanderung (siehe meinen jüngsten Beitrag) https://thenextrecession.wordpress.com/2024/03/13/us-economy-saved-by-immigrants/

 zu lösen, vor allem aber durch das übliche Paket von Mainstream-Wirtschaftsmaßnahmen: "Wettbewerb auf dem Markt, Öffnung des Handels, Zugang zu den Finanzmärkten und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt", d.h. mit anderen Worten: mehr freier Kapitalverkehr (weniger Regulierung) und Abbau von Arbeitsrechten (genannt "Flexibilität").  Der IWF will damit sagen, dass die Antwort darin besteht, die Rentabilität zu steigern, indem man die Arbeitskräfte stärker ausbeutet und dem Großkapital erlaubt, sich frei über den Globus zu bewegen.  Der IWF hat solche Maßnahmen fast jedes Jahr vorgeschlagen, ohne dass sie etwas gebracht hätten.

Was die KI betrifft, so sagt der IWF: "Das Potenzial der KI, die Arbeitsproduktivität zu steigern, ist ungewiss, aber möglicherweise ebenfalls beträchtlich und könnte das globale Wachstum um bis zu 0,8 Prozentpunkte erhöhen, je nach ihrer Einführung und ihren Auswirkungen auf die Arbeitskräfte." Es hängt also von vielem ab.

Die Prognosen für das reale BIP-Wachstum geben keinen Aufschluss darüber, was mit der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen innerhalb des durchschnittlichen Aggregats geschieht.  Aber in seiner neuen 'inklusiven Wirtschaft' kommentiert der IWF: "Die mittelfristige Wachstumsverlangsamung könnte die globale Einkommensungleichheit und die Konvergenz zwischen den Ländern beeinträchtigen. Ein langsameres Wachstum erschwert es den ärmeren Ländern, mit den reicheren Ländern gleichzuziehen. Ein langsameres BIP-Wachstum kann auch zu größerer Ungleichheit führen, was den durchschnittlichen Wohlstand verringert."  In der Tat.

Wird die Ungleichheit in den verbleibenden Jahren dieses Jahrzehnts zunehmen oder abnehmen?  Der IWF antwortet: "Je nach dem analysierten Maßstab ist mittelfristig kein oder nur ein bescheidener Ausgleich zu erwarten. Geringe Verbesserungen der Ungleichheit innerhalb eines Landes reichen nicht aus, um die erwartete Verlangsamung der Konvergenz der Ungleichheit zwischen den Ländern auszugleichen".  Der IWF kommt also zu dem Schluss: "Die Wachstumsverlangsamung hat düstere Auswirkungen auf die Einkommensverteilung zwischen den Ländern, auf das globale Einkommen oder auf ein allgemeineres Wohlfahrtsmaß."  Der IWF geht davon aus, dass die künstliche Intelligenz die Ungleichheit verschlimmern wird, und "insofern als andere Faktoren, wie die geoökonomische Fragmentierung, die Einkommensverteilung zwischen den Ländern verschlechtern, werden sie wahrscheinlich auch die globale Ungleichheit und die Verteilung der Wohlfahrt verschlechtern, es sei denn, sie verbessern die Einkommensverteilung innerhalb der Länder und andere Dimensionen der Wohlfahrt, wie die Lebenserwartung, erheblich."

Zu Beginn dieses Jahrzehnts, kurz nachdem die Pandemie die Welt heimgesucht hatte, wurde optimistisch von einer Wiederholung der "Roaring Twenties" des 20. Jahrhunderts gesprochen, die die US-Wirtschaft angeblich nach der Spanischen Grippe-Epidemie von 1918-19 erlebt hatte.  Diese Bezeichnung für die 1920er Jahre war immer eine Übertreibung, selbst in den USA; in Europa herrschte eine schwere Depression.
Und die so genannten Roaring Twenties wichen der Großen Depression der 1930er Jahre. 
Aber jetzt wird nicht mehr optimistisch von einem langen Boom gesprochen, selbst wenn man einen möglichen Produktivitätsschub durch die KI einbezieht.  Jetzt spricht man bestenfalls von den "lauen Zwanzigern".

Die Vereinigte Front gegen China

Di, 16/04/2024 - 08:22

Berlin entsendet mehr als 30 Militärflugzeuge und zwei Kriegsschiffe zu Manövern in die Asien-Pazifik-Region, verstärkt parallel zum Aufmarsch gegen Russland seine Beteiligung am Aufmarsch gegen China.

 

Die Bundeswehr weitet ihr „Indo-Pacific Deployment“ aus und entsendet dieses Jahr fast drei Dutzend Militärflugzeuge sowie zwei Kriegsschiffe zu Kriegsübungen in die Asien-Pazifik-Region. Demnach sind unter anderem Beteiligungen an einem Großmanöver der USA nahe Hawaii, an einem Luftwaffenmanöver in Australien, an weiteren Militärtrainings etwa in Japan sowie an der US-geführten Überwachung von Embargomaßnahmen gegen Nordkorea geplant. Bislang hatte Berlin nur Einheiten jeweils einer Teilstreitkraft in die Asien-Pazifik-Region geschickt – die Fregatte Bayern 2021/22, ein Geschwader der Luftwaffe 2022 und Truppen des Heeres 2023.
Wie der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, bestätigt, soll die Ausweitung des „Indo-Pacific Deployment“ bestätigen, dass Berlin sich parallel zum militärischen Aufmarsch gegen Russland auch an den Militäraktivitäten gegen China beteiligen will.
Zugleich sind die USA dabei, ihre Militärbündnisse in Ostasien zu festigen und vor allem die erste Inselkette unter Kontrolle zu nehmen, der Strategen spezielle Bedeutung im Kampf gegen die Volksrepublik beimessen. US-Medien sprechen von einer „vereinigten Front gegen China“.

Pacific Skies

Die Luftwaffe wird das diesjährige „Indo-Pacific Deployment“, das als Weltumrundung geplant ist, gemeinsam mit den Luftwaffen Frankreichs und Spaniens durchführen. Soweit bislang bekannt, soll die „Pacific Skies-Flotte“ rund 50 Flugzeuge umfassen; 32 davon stellt die Bundeswehr. Nach Angaben von Luftwaffeninspekteur Generalleutnant Ingo Gerhartz sind erst Kriegsübungen in Alaska, anschließend weitere in Japan vorgesehen, bevor die Flotte geteilt werden soll.[1] Ein Teil wird laut Gerhartz in Australien an dem Großmanöver Pitch Black teilnehmen, zu dem ein deutsches Geschwader bereits im Jahr 2022 entsandt wurde. Pitch Black ist eine multinationale Kriegsübung, mit der sich Australien regelmäßig auf einen möglichen Krieg etwa gegen China vorbereitet.[2] Ein anderer Teil der Pacific Skies-Flotte soll nach Hawaii verlegen, um dort an RIMPAC 2024 teilzunehmen, einem US-Großmanöver, an dem sich die Bundeswehr seit 2016 beteiligt. Damals probten deutsche Einheiten unter anderem die „Befreiung“ einer Insel, die von einer Miliz namens Draco gehalten wurde. Draco heißt Drache; dieser gilt im Allgemeinen als Symbol für China.[3] Abschließend ist erstmals die Teilnahme der deutschen Luftwaffe an einem Manöver in Indien geplant.[4]

Pacific Waves

Die Marine plant ihre Aktivitäten im Rahmen des „Indo-Pacific-Deployments“ („Pacific Waves“) gleichfalls als Weltumrundung. Beschränkte sie sich bei ihrer ersten Asien-Pazifik-Fahrt, die die Fregatte Bayern von August 2021 bis Februar 2022 absolvierte, noch auf die Entsendung eines einzelnen Kriegsschiffs, so sollen dieses Jahr zwei in die Weltmeere stechen – die Fregatte Baden-Württemberg und der Einsatzgruppenversorger Frankfurt am Main. Die Baden-Württemberg gehört zur Klasse F125, der modernsten der Deutschen Marine.[5] Sie kann bei entsprechender Versorgung bis zu zwei Jahre in fernen Gewässern kreuzen. Allerdings ist sie auf den Kampf gegen Piraten und auf die Aufstandsbekämpfung im Küstengebiet spezialisiert; für die Flugabwehr etwa ist sie so wenig geeignet, dass die Bundeswehr anstelle einer F125 die ältere Fregatte Hessen der F124-Klasse zur Abwehr der Huthi-Drohnen und -Raketen ins Rote Meer entsandt hat.[6] Im Fall einer Eskalation der Spannungen in der Asien-Pazifik-Region hin zu einem offenen Krieg wäre die Fregatte Baden-Württemberg ein leichtes Opfer für die als äußerst effizient geltenden chinesischen Anti-Schiffs-Raketen.

Seemanöver und Einflussarbeit

Die Route, die die Pacific Waves-Flottille zurücklegen soll, ist bislang nur in Grundzügen bekannt. Vermutlich wird sie durch den Panama-Kanal in den Pazifischen Ozean einfahren, um zunächst Kurs auf Hawaii zu nehmen; dort soll sie die Luftwaffeneinheiten, die an RIMPAC 2024 teilnehmen, unterstützen. Die nächsten Stationen sind laut Marineinspekteur Vizeadmiral Jan Christian Kaack mit Japan, Singapur und wohl auch Australien Staaten, mit denen Deutschland schon seit langen Jahren militärisch kooperiert. Hinzu kommen nach aktuellem Informationsstand Zwischenstationen in Malaysia und Indonesien.[7]

Dabei nennt die Deutsche Marine für Pacific Waves fünf Schwerpunkte:

  • Der Einsatz für die „Freiheit der Seewege“;
  • die Beteiligung an – US-geführten – Maßnahmen zur Überwachung des UN-Embargos gegen Nordkorea;
  • die „Teilnahme des Deutsch-Französischen Marineverbandes (DEFRAM) an der maritimen Präsenz der Europäischen Union im westlichen Indischen Ozean“;
  • Seemanöver mit Partnern in der Region“;
  • „militärdiplomatische[...] Hafenbesuche entlang der Route, um internationale Beziehungen zu vertiefen“.
    Parallel dazu sind Flugzeugträger aus Frankreich (Charles de Gaulle) und Italien (Cavour) im Indischen sowie im Pazifischen Ozean unterwegs.[8]

Kein Entweder-oder

Mit Blick darauf, dass die Bundeswehr ihre militärischen Aktivitäten im Indischen und im Pazifischen Ozean intensiviert, während sie zugleich ihre Truppenpräsenz und ihre Manöver in Ost- und Südosteuropa verstärkt, äußert Luftwaffeninspekteur Gerhartz, es gehe bei der Frage nach den deutschen Interventionsschwerpunkten nicht um „die Frage eines Entweder-oder“, sondern um „ein Statement des Sowohl-als-auch“.[9]
Demnach schließt für Berlin die etwaige Beteiligung an einem allseits heraufbeschworenen möglichen Krieg gegen Russland eine parallele Beteiligung an einem etwaigen Krieg gegen China nicht aus.

 Die erste Inselkette

Die Gefahr, dass es zu einem solchen Krieg kommt, nimmt beständig zu. Die Vereinigten Staaten intensivieren ihre Bemühungen, die Länder und Gebiete der sogenannten ersten Inselkette – Japan und die Philippinen sowie die südostchinesische Insel Taiwan – zu einem festen Bündnis gegen China zusammenzuschweißen. Von der ersten Inselkette aus lässt sich die Volksrepublik auf breiter Front angreifen; zudem kann, wer sie kontrolliert – das sind aktuell die USA –, die chinesische Marine vor der chinesischen Küste einschließen und sie damit ihrer militärischen Handlungsfreiheit berauben. Washington ist zuletzt vor allem dazu übergegangen, die Philippinen als Marine-, Heeres- und Luftwaffenstützpunkt zuzurichten und damit den militärischen Druck auf China deutlich zu erhöhen (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Derzeit droht der Konflikt zwischen Beijing und Manila um ein Riff im Südchinesischen Meer, das Second Thomas Shoal, zu eskalieren; aktuelle Berichte belegen, dass Manila Angebote der chinesischen Regierung, sich in Verhandlungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts zu bemühen, brüsk abgewiesen hat – mutmaßlich in politischer Abstimmung mit Washington.[11]

Bündnisse und Manöver

Erst in der vergangenen Woche haben die Vereinigten Staaten ihre militärischen Bündnisse am Pazifik deutlich intensiviert. Zunächst empfing US-Präsident Joe Biden den japanischen Ministerpräsidenten Fumio Kishida im Weißen Haus, um den Ausbau nicht nur der wirtschaftlichen und der technologischen, sondern auch der militärischen Zusammenarbeit voranzutreiben. In die gemeinsamen Aktivitäten der jeweiligen Streitkräfte werde vor allem auch Australien einbezogen, hieß es.[12] Anschließend empfing Biden Kishida und den Präsidenten der Philippinen, Ferdinand „Bongbong“ Marcos, zu einem Dreiergipfel. Dabei ging es ebenfalls um die Verstärkung der Militärkooperation. Biden und Kishida sagten Marcos zudem ökonomische und technologische Unterstützung zu. Man habe erst unlängst gemeinsame Kriegsübungen der USA, Japans, der Philippinen und Australiens im Südchinesischen Meer durchgeführt, hieß es am Rande der Zusammenkunft; weitere solche Manöver sollten folgen. Die New York Times sprach ausdrücklich von der Schaffung einer „Vereinigten Front gegen China“.[13] In diese reiht sich jetzt die Bundeswehr mit dem diesjährigen Indo-Pacific Deployment ein.

 

[1] Helena Legarda: The Bundeswehr Returns to the Indo-Pacific. ip-quarterly.com 20.03.2024.

[2] S. dazu Die zweite Front der Bundeswehr

[3] S. dazu Kriegsspiele im Pazifik

[4] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[5] Alex Luck: German Navy Chief Talks Indo-Pacific Deployment, Round The World-Sail. navalnews.com 05.02.2024.

[6] S. dazu Kriegserfahrung sammeln

[7] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[8] Alex Luck: German Navy Chief Talks Indo-Pacific Deployment, Round The World-Sail. navalnews.com 05.02.2024.

[9] Pacific Skies/Pacific Waves: Auftakt zum Indo-Pacific Deployment 2024. bundeswehr.de 22.03.2024.

[10] S. dazu Spiel mit dem Feuer

[11] Franco Jose C. Baroña: PH ignored China’s proposals on sea row. manilatimes.net 11.03.2024.

[12] Peter Baker, Michael D. Shear: Biden and Kishida Agree to Tighten Military and Economic Ties to Counter China. nytimes.com 10.04.2024.

[13] Michael D. Shear: Biden Aims to Project United Front Against China at White House Summit. nytimes.com 11.04.2024.

Chinas unfaire "Überkapazitäten"

Mi, 10/04/2024 - 14:43

Der jüngste Unsinn der US-Finanzministerin Janet Yellen über Chinas "Überkapazitäten" und "unfaire Subventionen" für seine Industrie ist besonders erbärmlich. 

 

"Die so genannte Bedrohung durch Chinas industrielle Überkapazitäten" ist ein Schlagwort, das in Wirklichkeit bedeutet, dass China einfach zu wettbewerbsfähig ist, und was Yellen von China verlangt, ist in Wirklichkeit so, wie wenn ein Sprinter Usain Bolt bittet, weniger schnell zu laufen, weil er nicht mithalten kann."

Renaud Bertrand

In der Tat ist Bertrands Widerlegung von Yellens Behauptungen über "Überkapazitäten" folgendermaßen zu zitieren:

"Fangen wir mit der Kapazitätsauslastung an. Es ist ganz klar, dass sie in China in den letzten 10 Jahren ziemlich konstant war und derzeit bei etwa 76 % liegt, was in etwa der gleichen Größenordnung liegt wie die Auslastung in den USA mit etwa 78 %. Da gibt es also kein Problem."
Bertrand fährt fort: "Trotz der sehr niedrigen Preise für ihre EVs oder Solarpaneele machen die beteiligten chinesischen Unternehmen immer noch Gewinn (die Industriegewinne steigen zweistellig), und sie verlangen im Ausland höhere Preise als im Inland. Die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Unternehmen ist überwältigend: In zahlreichen Branchen - wie der Solarbranche oder den Elektrofahrzeugen - können amerikanische oder europäische Unternehmen heute einfach nicht mehr mit chinesischen Unternehmen konkurrieren. Das ist das eigentliche Problem: Yellen und die westlichen Staats- und Regierungschefs haben Angst, dass China, wenn es so weitergeht, einfach alle auffressen wird."

China ist das einzige Land der Welt, das alle von der Weltzollorganisation (WZO) klassifizierten Warenkategorien herstellt. Das verschafft dem Land einen entscheidenden Vorteil, wenn es um Endpreise geht: Wenn man etwas in China bauen will, kann man buchstäblich die gesamte Lieferkette dafür im eigenen Land finden.

Bertrand: "China hat sich zu einer Innovationsschmiede entwickelt. Im Jahr 2023 meldete das Land ungefähr so viele Patente an wie der Rest der Welt zusammen, und es wird geschätzt, dass es bei 37 der 44 kritischen Zukunftstechnologien führend ist. All dies hat auch Auswirkungen auf die Endpreise seiner Produkte.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben Yellens Aussagen aufgegriffen.  Nach einem Treffen mit Xi in Peking im vergangenen Dezember stellte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, fest, dass sich das Handelsdefizit der EU mit China von 40 Milliarden Euro vor 20 Jahren auf 400 Milliarden Euro aufgebläht hat, und wies auf eine Reihe von Beschwerden hin, darunter Chinas industrielle "Überkapazitäten".

Damit wir uns richtig verstehen: Das Handelsdefizit der EU mit China ist innerhalb von 20 Jahren von 40 Milliarden Dollar auf 400 Milliarden Dollar gestiegen!  Nicht in zwei Jahren, nicht in fünf Jahren, nicht in zehn Jahren, sondern in diesem ganzen Jahrhundert.  Erstens ist der Anstieg des Defizits pro Jahr nicht so groß, sagen wir 10-15 Milliarden Dollar, und während dieses Zeitraums hörten wir kaum Klagen von der EU, dass China unfaire Handelspraktiken anwendet.  Plötzlich, nach dem Debakel der steigenden Energiekosten nach dem Abschneiden der russischen Energieimporte und einer fast zweijährigen Rezession in den wichtigsten EU-Ländern, gibt von der Leyen China die Schuld. In der Tat ist der größte Teil des Anstiegs des "China-Defizits" in der Zeit nach der Pandemie aufgetreten.

Was die USA betrifft, so ist das bilaterale Handelsdefizit zwischen den USA und China im Verhältnis zur Größe der US-Wirtschaft derzeit so niedrig wie seit 2002 nicht mehr.  Wie Bertrand sagt: "Es ist also ein merkwürdiger Zeitpunkt, sich so lautstark über das Handelsungleichgewicht mit China zu beschweren, denn aus amerikanischer Sicht ist das Handelsungleichgewicht so niedrig wie seit über 20 Jahren nicht mehr."

Nichtsdestotrotz unterstützen die Keynesianer/China-Experten die Botschaft Yellens und plappern sie nach.  Hier ist ein Zitat aus einer westlichen Medienquelle: "Vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Besorgnis glauben Experten, dass die Strategie des verarbeitenden Gewerbes die Wachstumsziele Pekings nicht erreichen wird. Die Exporte machen bereits ein Fünftel des BIP aus, und Chinas Anteil an der weltweiten Produktion liegt bei 31 Prozent. Ohne eine Explosion der Nachfrage sei es unwahrscheinlich, dass der Rest der Welt Chinas Exporte absorbieren könne, ohne dass die eigene Produktion schrumpfe", so die Experten.

Wer sind diese großen Experten?  Die üblichen Verdächtigen.

Michael Pettis sagt uns, dass China, wenn es seine Exporte im verarbeitenden Gewerbe ausweitet, "vom Rest der Welt aufgefangen werden muss". Und es ist unwahrscheinlich, dass der Rest der Welt das tun wird.  Tatsächlich?  Es scheint, dass China kein Problem damit hat, seine Exporte an die Verbraucher und Hersteller in der übrigen Welt zu verkaufen, die begierig sind, sie zu kaufen.

Ein weiterer Experte ist Brad Setser.  Setser sagt uns, dass "Chinas inländischer Markt für Elektroautos durch die Industriepolitik entstanden ist, er ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Das ist ein entscheidender Punkt, der heute oft vergessen wird. Das Gleiche gilt für die HGV und die Windenergie, und China versucht es auch in anderen Sektoren."  Schock, Schrecken, das wurde nicht durch Marktkräfte erreicht, sondern durch staatlich gelenkte Investitionen.  Er fährt fort: "Die Tatsache, dass viele von Chinas Exporterfolgen nicht durch die Magie des Marktes zustande gekommen sind, erschwert zweifellos den Welthandel, da sich die Anpassung an Chinas Erfolge nicht wie eine echte Marktanpassung anfühlt."  Mit anderen Worten: Die USA, Europa und Japan können nicht mithalten.  Was ist also zu tun?  Setser sagt: "Ich denke, die USA sollten sich wirklich bemühen, Chinas wirtschaftlichen Zwang hier auszugleichen. Das wird ein paar Opfer erfordern, aber ich bin zumindest bereit, mich zu engagieren."   Wettbewerb heißt jetzt also "Zwang", und die USA müssen selbst mit Zwang reagieren, wobei Setser bereit ist, Yellen dabei zu helfen.

Die Rationalität dieses Unsinns liegt in der im Westen vorherrschenden Ansicht begründet, dass China in einem alten Modell der investitionsgestützten Exportproduktion feststeckt und eine Umstellung auf eine verbraucherorientierte Binnenwirtschaft vornehmen muss, in der der Privatsektor freie Hand hat.  Chinas schwacher Verbrauchersektor zwingt das Land dazu, zu versuchen, "Überkapazitäten" in der Fertigung zu exportieren.

Die Beweise dafür sind jedoch nicht vorhanden. Einer aktuellen Studie von Richard Baldwin zufolge funktionierte das exportorientierte Modell zwar bis 2006, doch seitdem boomt der Inlandsabsatz, so dass das Verhältnis zwischen Exporten und BIP sogar gesunken ist.
"Der chinesische Konsum chinesischer Industriegüter ist seit fast zwei Jahrzehnten schneller gewachsen als die chinesische Produktion. Der chinesische Inlandsverbrauch von in China hergestellten Waren ist bei weitem nicht unfähig, die Produktion zu absorbieren, sondern ist VIEL schneller gewachsen als die Produktion des chinesischen verarbeitenden Gewerbes."

Trotz aller Bemühungen des Westens, Zölle und andere protektionistische Maßnahmen zu verhängen, bleiben die chinesischen Hersteller auf den Weltmärkten äußerst wettbewerbsfähig.  Besonders gut schneidet China bei der Produktion von Elektrofahrzeugen, Solarenergie und anderen grünen Technologien ab. Wie Baldwin betont, bedeutet dieser Exporterfolg jedoch nicht, dass das Wachstum Chinas vom Export abhängt.  China wächst vor allem durch die Produktion für die heimische Wirtschaft, wie die USA.

Aber es gibt noch einen besorgniserregenden Aspekt dieses "Überkapazitäts"-Unsinns.  Er wurde von Wirtschaftswissenschaftlern im chinesischen Bankensektor, die hauptsächlich an westlichen Universitäten ausgebildet wurden, mit Haut und Haaren geschluckt.  Nehmen wir die jüngste Rede des Chefvolkswirts der China Bank, Zu Gao.  Seine Rede wurde von Leuten wie Pettis und Setser hoch gelobt.  Xu argumentierte, dass "die im Vergleich zum weltweiten Durchschnitt deutlich niedrigere Konsumquote in China die Hauptursache für die schwache Inlandsnachfrage und den wirtschaftlichen Abschwung des Landes ist".

Xu erklärt, dass "die schwache Inlandsnachfrage, die durch eine schwache Auslandsnachfrage oder ein geringes Exportvolumen verstärkt wird, zu einer unzureichenden Gesamtnachfrage führt und damit das Wirtschaftswachstum abwürgt. In diesem Sinne liegen die langfristigen Wachstumsbeschränkungen für die chinesische Wirtschaft nicht im Angebot, sondern in der Nachfrage." 
Wirklich?  Die relative Wachstumsverlangsamung Chinas in den letzten zehn Jahren ist auf die Verlangsamung des Wachstums der Erwerbsbevölkerung zurückzuführen, so dass das Wirtschaftswachstum in erster Linie von der Steigerung der Arbeitsproduktivität abhängt.  Und das hängt von Investitionen in produktivitätssteigernde Technologien ab, nicht vom Konsum, der von den Ressourcen für Investitionen abgezogen wird.  Und welche Länder haben in den letzten Jahren ein schnelleres Wachstum erzielt: der konsumorientierte Westen oder das konsumarme China?

Xu schließt an seine klassische, krude keynesianische Theorie an, indem er sagt, dass "das Ziel des Wirtschaftswachstums darin besteht, die Erwartungen der Menschen an ein besseres Leben zu erfüllen, was sich in erster Linie durch ihre Erwartungen an einen höheren Konsum - bessere Qualität von Lebensmitteln, Kleidung und Freizeitaktivitäten - manifestiert. Wenn der Konsum eines Landes nur einen kleinen Teil seines BIP ausmacht, deutet dies auf eine Diskrepanz zwischen dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum (wie es durch das BIP dargestellt wird) und den Lebenserfahrungen der Bevölkerung hin.

Aber das ist einfach nicht wahr.  Ein niedriger Anteil des Verbrauchs am BIP bedeutet nicht unbedingt ein niedriges Verbrauchswachstum.  Und Chinas Verbrauchswachstum ist viel schneller als das der konsumorientierten Volkswirtschaften des Westens.

Dann kommen wir zum eigentlichen Zweck von Xus Rede.  "Die starke Präsenz staatlicher Unternehmen in China, deren Gewinne und Dividenden in erster Linie an den Staat und nicht an die Haushalte fließen, schwächt den Wohlstandseffekt ab, der andernfalls den Verbrauch der Haushalte anregen könnte.  Sie sehen, die staatlich gelenkte Wirtschaft Chinas ist das Problem: Sie verhindert das Funktionieren eines "effizienten Marktmechanismus".

Was ist also zu tun? "Natürlich sind die staatlichen Unternehmen in China technisch gesehen im Besitz des Volkes, doch ihr Eigenkapital befindet sich überwiegend im Besitz des Staates. Folglich fließen die Dividenden staatlicher Unternehmen in erster Linie an den Staat und nicht an die Haushalte; die nach der Dividendenausschüttung einbehaltenen Gewinne staatlicher Unternehmen fließen nicht direkt in die Bilanzen der Haushalte ein, so dass es schwierig ist, zum Wohlstand der Haushalte beizutragen.  Deshalb, so Xu, "müssen wir alle SOE-Aktien an die Bürger verteilen", d.h. die staatlichen Unternehmen privatisieren.

Der Chefvolkswirt der China Bank, Xu, scheint zu glauben, dass die einzige Antwort auf den wahrgenommenen "Nachfragemangel" und die "Überkapazitäten" in China darin besteht, die Vorherrschaft des "effizienten Marktmechanismus wiederherzustellen".

 

 

Die Chemie stimmt nicht - BASF, BAYER & Co. verlieren im weltweiten Wettbewerb an Boden

So, 07/04/2024 - 16:36

Bei den deutschen Chemie-Unternehmen lief es im Jahr 2023 nicht gut. Der Umsatz ging gegenüber 2022 um zwölf Prozent auf 230 Milliarden Euro zurück. "Besonders kräftig fiel der Rückgang im Inlandsgeschäft aus - die Verkäufe sanken um 16 Prozent auf 86 Milliarden Euro". (Verband der Chemischen Industrie,VCI). Dementsprechend reduzierte sich auch der Ausstoß der Fabriken um acht Prozent, die Pillen-Fabrikation herausgerechnet sogar um elf Prozent.

 

Auszug aus dem isw-wirtschaftsinfo 64, März 2024

Mit je 15 Prozent am stärksten brach die Fertigung von Petro-Chemikalien inklusive Derivaten und von Polymer-Kunststoffen ein. Nur zu 77 Prozent nutzte die Branche ihre Kapazitäten aus. "Damit liegt die Produktion seit rund neun Quartalen unter der wirtschaftlich notwendigen Grundauslastung von 82 Prozent", konstatierte der Verband am 15. Dezember 2023 auf Basis der Zahlen bis einschließlich November.
Bei der BASF rutschte der Umsatz um 18,5 Milliarden Euro auf rund 69 Milliarden Euro ab und bei Wacker um 22 Prozent auf 6,4 Milliarden Euro. Von den meisten anderen Unternehmen lagen bislang noch keine Zahlen für das Gesamtjahr vor, lediglich für das 3. Quartal 2023; aber auch hier liegen die Einbrüche jeweils bei über 20 Prozent.
Bei Covestro waren es 22,7 Prozent, bei Lanxess 26,7 Prozent und bei Evonik 23 Prozent. Nur bei den Konzernen, die mit Haushaltschemikalien, Pestiziden oder Pharmazeutika handeln, sieht es etwas besser aus.
Der drittgrößte bundesdeutsche Industrie-Zweig, der rund 480.000 Beschäftigte zählt, reagiert auf die schlechten Bilanzen mit den üblichen Maßnahmen. BASF etwa vernichtet 2.600 Arbeitsplätze. Zudem legte die Aktiengesellschaft in Ludwigshafen Werke zur Herstellung von Ammoniak und Kunststoff still.
Daneben gab sie Pläne bekannt, die Bereiche "Agro-Chemikalien" und "Batterie-Chemikalien" aus der Verbundstruktur zu lösen und zu eigenständigen Einheiten umzugestalten – normalerweise der erste Schritt zu einer Abspaltung. Den Verkauf von Wintershall Dea – lange Zeit die Gasleitung der Firma nach Russland – an das britische Unternehmen Harbour Energy machte das Management kurz vor Weihnachten 2023 bekannt. Allerdings beabsichtigt die Bundesregierung, den Deal intensiv zu prüfen, weil sie die BASF-Tochter wegen ihres Pipeline-Netzes in Deutschland zur kritischen Infrastruktur zählt und ihres Zugriffs auf Öl und Gas wegen als wichtig für die Energiesicherheit des Landes erachtet. Evonik folgt dem Vorbild BASF und formt seine Sparte "Technology & Infrastructure" zu einer eigenständigen Gesellschaft um. "Vom vollständigen Verbleib im Konzern über Partnerschafts- und Joint-Venture-Modelle werden alle Optionen geprüft", heißt es in einer Pressemitteilung. Überdies legte der Chemie-Riese ein Sparprogramm im Umfang von 250 Millionen Euro auf. Damit nicht genug, steht noch eine Umstrukturierung der Verwaltung an. Einen solchen Plan hegt auch Bayer. Zudem kündigte der Vorstandsvorsitzende Bill Anderson Mitte Januar 2024 einen "erheblichen Personalabbau" an. Finanzinvestoren fordern vom Management des Unternehmens, dessen Börsen-Kurs infolge der Schadensersatz-Prozesse in Sachen "Glyphosat" immer neue Tiefstände erreicht, sich von einzelnen Sparten zu trennen. Eine Entscheidung darüber will der Leverkusener Multi Anfang März 2024 am Kapitalmarkt-Tag bekanntgeben.
Wacker verspricht seinen Aktionären derweil, einen "verstärkten Fokus auf Effizienz und Kostendisziplin" zu legen, während Lanxess erwägt, sich von der Abteilung mit den Polyurethan-Kunststoffen zu trennen. Covestro ist indes als Ganzes gefährdet. Der saudi-arabische Öl-Gigant Adnoc interessiert sich für eine Übernahme und führt entsprechende Verhandlungen mit dem Vorstand.
Gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz verlor die deutsche Chemie-Industrie 2023 an Boden.
In Europa hatte bei der Produktion mit einem Minus von 9,5 Prozent nur Polen einen drastischeren Einschnitt zu verkraften. Der Durchschnittswert – auf Basis der Zahlen von Januar bis November 2023 – lag bei -0,6 Prozent. Im globalen Maßstab legte der Ausstoß sogar zu: +2,2 Prozent. Neben Russland (+5,2 Prozent) verzeichneten vor allem Indien (+5,4 Prozent) und China (+5,8 Prozent) Steigerungen.

Das Klagelied

Als Hauptgrund für die Misere nennt die Branche die gestiegenen Strompreise nach dem Stopp der Lieferungen aus Russland.
Tatsächlich hat kaum ein anderer Industrie-Zweig einen derart hohen Bedarf an Energie; neun Prozent des gesamten Verbrauchs in Deutschland gehen auf sein Konto. An erster Stelle steht dabei die Kunststoff-Produktion mit all ihren Vorstufen. Nicht zuletzt deshalb ist die BASF der größte Gas-Konsument des Landes. Im europäischen Vergleich jedoch bewegt sich die finanzielle Belastung deutscher Unternehmen bei diesem Kostenfaktor nach Angaben der Statistik-Behörde Eurostat und der "Internationalen Energie-Agentur" im Mittelfeld. Die Betriebe profitieren nämlich von zahlreichen Vergünstigungen wie Befreiungen von der Strom-Steuer, einer "Strompreis-Kompensation" und kostenlosen CO2-Verschmutzungszertifikaten. Evonik & Co. verweisen jedoch vornehmlich auf die USA, wo die Kosten für Strom nur ein Viertel dessen betragen, was die Firmen in Deutschland aufbringen müssen.
Des Weiteren führen die Chemie-Riesen die weltweit schwache Nachfrage für ihre Erzeugnisse als Ursache für ihre schlechten Bilanzen an. Hierzulande litten sie als Anbieter von Vorleistungsgütern speziell unter der schwierigen Lage, dem Konjunktur-Einbruch im Baubereich, auf den mehr als 50 Prozent aller Investitionen kommen, und der Situation im Automobil-Sektor.
Darüber hinaus verweisen die Unternehmen auf zu viel Bürokratie im Allgemeinen und zu lange Genehmigungsverfahren für neue Anlagen im Besonderen. Sie klagen zudem über die Masse an Auflagen aus Brüssel hinsichtlich Umwelt- und Sozialstandards sowie über die Belastungen durch die Umstellung auf klima-freundlichere Produktionsverfahren. Schließlich beanstandet die Branche noch die angeblich zu hohe Steuerlast und Defizite bei der Infrastruktur.
Dementsprechend lang ist der Forderungskatalog. "Die Bundesregierung muss den Alarmruf der energie-intensiven Industrie ernst nehmen. Uns eint der Wille, die Deindustrialisierung zu stoppen. Ein entscheidender Schritt ist ein international wettbewerbsfähiger Strompreis. Deshalb brauchen wir einen Brückenstrompreis und die Beibehaltung des Spitzenausgleichs", mahnte der "Verband der Chemischen Industrie" (VCI) im September 2023 an. Drei Monate später hieß es dann: "Das Energiethema ist aber nur eins von vielen ungelösten Problemen. Auf der Mängelliste stehen weiterhin die marode Infrastruktur, der Fachkräftemangel oder die überbordende Bürokratie und Regulierung." Und nach Ansicht des VCI-Präsidenten Markus Steilemann haben die Konzerne schon reagiert.
 "Die Leute laufen in die USA, als gebe es kein Morgen mehr", so der Covestro-Manager.

Tatsächlich reduzierten in 2023 40 Prozent der Firmen ihre Investitionen im Inland. Demgegenüber stehen 23 Prozent, die ihre Ausgaben erhöhten. Was das Ausland betrifft, so verhält es sich nahezu umgekehrt: 21 Prozent fuhren ihre Investitionen zurück, während 37 Prozent drauflegten. Die Pläne für 2024 sehen laut VCI ähnlich aus. In Deutschland wollen 38 Prozent ihre Investitionen kappen und 31 Prozent mehr Geld anlegen, im Ausland hingegen wollen nur 18 Prozent sparen und 44 Prozent tiefer in die Tasche greifen. Allerdings lassen sich Chemie-Fabriken nicht so einfach in einer Lauftasche mitführen oder aus dem 3D-Drucker zaubern. Standort-Entscheidungen haben einen langen Vorlauf und erfordern umfangreiche Planungen und Bau-Tätigkeiten. Die Rede von der Deindustrialisierung Deutschlands gehört deshalb zu einem guten Stück auch zu einem Horrorszenario, mit dem BASF & Co. ganz bewusst Politik machen.
Zudem ist der Kostenfaktor oftmals gar nicht ausschlaggebend dafür, ein bestimmtes Land für die Errichtung einer neuen Niederlassung zu wählen. "Markterschließung bleibt das wichtigste Motiv für Investitionen an Standorten im Ausland", muss der VCI konzedieren. 59 Prozent der Unternehmen nannten das als Hauptgrund, Einsparungen nur 41 Prozent. Nur bei Engagements in Nordamerika dominierten finanzielle Erwägungen.
Europa-weit rechnen nach einer Erhebung der Unternehmensberatung Deloitte unter Chemie-Managern 81 Prozent mit einem Abzug energie-intensiver chemischer Wertschöpfungsstufen vom alten Kontinent. 71 Prozent haben dabei die Vereinigten Staaten als Ziel im Auge, wobei 58 Prozent angeblich dem Ruf des "Inflation Reduction Acts" und anderer Programme bereits gefolgt sind.

 

Gipfel-Politik

Die Bundes- und Landesregierungen machten die neuerlichen Fernweh-Anwandlungen merklich nervös. Nicht nur deshalb beschäftigten sie sich eingehend mit dem Wunschzettel der Branche. In Formaten wie "Chemie-Allianz", "Pharma-Gipfel" und "Chemie-Gipfel" nahm die Ampel-Koalition deren Kritik auf und versprach Besserung. Auch in der Industrie-Strategie mit ihrer "transformativen Angebotspolitik", die in den durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Verwerfungen nach der Finanzkrise und der Corona-Pandemie den dritten Anwendungsfall  für ein aktives Eingreifen in den Wirtschaftsprozess jenseits des "Laissez-faire" des Neoliberalismus gekommen sieht, räumen SPD, Grüne und FDP dem Begehr der Chemie-Firmen viel Platz ein.
Die Chemie-Allianz konstituierte sich aus zwölf Bundesländern, die sich dem "Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland" verschrieben haben.
"Ohne ein entschlossenes Gegensteuern besteht die akute Gefahr einer Verlagerung von Produktion und damit Arbeitsplätzen an kostengünstigere Standorte im Ausland",
hielten die Ministerpräsidenten fest. Darum machten sie sich zu Fürsprechern der Konzerne und forderten von der Ampel-Koalition im Vorfeld des Chemie-Gipfels unter anderem eine Absenkung der Strom-Steuer sowie einen "zeitlich befristeten Brückenstrompreis".

Eine Zusage dazu wollte Olaf Scholz bei dem Treffen, an dem Vertreter des VCI, der Chemie-Unternehmen, des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie, der IG BCE sowie Bundesminister und Ministerpräsidenten der Länder teilnahmen, allerdings nicht geben. Es blieb bei einer Absenkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum von 0,50 Euro pro Megawattstunde. Zusammen mit den Zuschüssen zu den Netzentgelten und anderen Wohltätigkeiten kommen da für die energieintensiven Firmen bis 2028 Subventionen in Höhe von 28 Milliarden Euro heraus – und ein Strompreis von sechs Cent pro Kilowattstunde. Trotzdem hätten BASF & Co. lieber einen Industriestrompreis gehabt.
Ansonsten aber lieferte der Chemie-Gipfel. So sicherte die Ampelkoalition den Multis eine "Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung" zu.
Zudem stellte sie Unterstützung bei der Verhinderung eines kompletten Banns der gesundheitsschädlichen PFAS-Chemikalien in Aussicht.
SPD, Grüne und FDP sprachen sich gegen "pauschale, undifferenzierte Verbote ganzer Stoffklassen" aus. Umweltministerin Steffi Lemke suchte stattdessen den Schulterschluss mit den Unternehmen: "Wir brauchen eine starke Chemie-Branche, die für ihre Weiterentwicklung zu nachhaltiger Chemie Planungssicherheit und klare Rahmenbedingungen bekommen muss."

Auch darüber hinaus tut die Ampel alles, um die Konzerne vor Unbill aus Brüssel zu verschonen bzw. den europäischen Regulierungsrahmen "ausgewogener" zu gestalten. Sie stellte sich – Koalitionsvertrag hin oder her – etwa der Zulassungsverlängerung für Glyphosat nicht entgegen. Und gegen die Deregulierungen der neuen Gentechniken erhebt sie so wenig Einspruch wie gegen die Aufweichung der Luftqualitätsrichtlinie.

Den Rest erledigt die Kommission selbst. Sie verschob die Verschärfung der REACH-Verordnung, welche die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Anwendungs-beschränkungen von chemischen Substanzen regelt, auf unbestimmte Zeit. Auch nahmen von der Leyen & Co. die Prüfung eines Export-Verbots für solche Pestizide, die innerhalb der EU wegen ihrer Risiken und Nebenwirkungen keine Zulassung (mehr) haben, aus ihrem Arbeitsprogramm. Zum Ende der Legislatur-Periode ist deshalb von dem zuvor groß angekündigten Green Deal kaum noch etwas übrig.

Parallel zum Chemie-Gipfel lud die Bundesregierung auch zum Pharma-Gipfel. Dort stellte Gesundheitsminister Karl Lauterbach die "Pharma-Strategie" des Bundes vor. Diese möchte er in ein Medizinforschungsgesetz einfließen lassen mit dem Ziel, den Pillen-Standort Deutschland zu stärken. "Mit Bayer hat er deshalb eine Gesetzesinitiative abgesprochen", meldete der "Kölner Stadtanzeiger". Der Gesundheitsminister erklärte gegenüber der Zeitung freimütig, bei der Arbeit an dem Projekt im engen Austausch mit Stefan Oelrich, dem Pharma-Vorstand des Leverkusener Multis, gestanden zu haben. Der hatte nämlich im Januar 2023 lamentiert: "Die europäischen Regierungen versuchen, Anreize für Forschungsinvestitionen zu schaffen, aber auf der kommerziellen Seite machen sie uns das Leben schwer", und für Bayer hat er die Konsequenz gezogen:
"Wir verlagern unseren kommerziellen Fußabdruck und die Ressourcen deutlich weg von Europa." Im Mai gab der Pillen-Riese dann bekannt, seine Forschungsausgaben in den USA verdoppeln und eine Milliarde Dollar investieren zu wollen.

Das hat Lauterbach, der seinen Wahlkreis in Leverkusen hat, anscheinend alarmiert. Sein Paragraphen-Werk sieht nun unter anderem vor, den Pillen-Riesen klinische Studien zu erleichtern, das Extra-Profite garantierende Patentrecht auf europäischer Ebene zu verteidigen und "Anreize zum Aufbau von Produktionsstätten in Deutschland" zu prüfen. Die Genehmigungsdauer für Medikamenten-Tests plant die Ampelkoalition auf fünf Tage zu verkürzen. Darüber hinaus beabsichtigt sie, neben Uni-Kliniken auch ganz normalen Krankenhäusern zu erlauben, klinische Prüfungen für die Pharma-Industrie durchzuführen, was alles nicht gerade der Sicherheit der Probanden dient. Parallel dazu schuf Lauterbach im "Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens" schon einmal bessere Möglichkeiten zur Nutzung von Patienten-Daten zu Forschungszwecken und erfüllte damit eine Forderung des Leverkusener Multis. "Problematisch in Deutschland ist neben der Bürokratie der fehlende Zugang zu Forschungsdaten. Es ist hierzulande schwerer als in anderen Industrie-Nationen, für die Forschung an anonymisierte Patienten-Daten zu kommen, hatte Oelrich noch im April 2023 geklagt. Das "Handelsblatt" zeigte sich dementsprechend begeistert über das Vorhaben des Gesundheitsministers. "Lauterbach-Pläne könnten Wirtschaft Milliarden-Einnahmen bescheren", frohlockte die Zeitung.

Auch Roche zeigte sich zufrieden mit den Aussichten. Nach Einschätzung des Unternehmens hat die Pharma-Strategie das Potenzial, "Fehlentwicklungen zu korrigieren und bietet die Chance, dass Deutschland zukünftig wieder ein Beispiel für Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Gesundheit wird". Der Konzern kündigte Investitionen in Höhe von rund drei Milliarden Euro binnen der nächsten drei Jahre an, die er als "Vorleistung und Vertrauensvorschuss für die Politik" verstanden wissen will.

Die Verfassungsbeschwerde gegen das "Gesetz zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung", das die freie Preis-Gestaltung für neue Medikamente auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzte und die Porto-Kassen der Pillenhersteller noch mit einigen weiteren Maßnahmen belastete, lässt Roche jedoch nicht fallen. Dem Vorstandsvorsitzenden Hagen Pfundner ist es nämlich ein Anliegen, höchstrichterlich klären zu lassen, ob es dem Staat "je nach Bedarf" erlaubt sein darf, "Unternehmen in die Tasche zu greifen".

Chemie- und Pharma-Gipfel haben die Wunschliste der Branche also konsequent abgearbeitet. Daneben profitieren Bayer & Co. noch von den allgemeinen Wohltaten der Ampelkoalition, wie dem Wachstumschancen-Gesetz, und dürfen dank Robert Habeck zusätzlich noch auf eine Unternehmenssteuerreform hoffen.

Das China-Syndrom

In Sachen "China" verstört der Wirtschaftsminister die Branche allerdings ebenso häufig wie seine Ampel-Partner. Sogar in seinem eigenen Haus stößt er auf Widerstand, denn die Aufgeschreckten wissen um die Bedeutung des Landes für die Chemie-Industrie und die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen. Dabei hatte die Bundesregierung im Juli 2023 eine gemeinsame China-Strategie vorgelegt. "China hat sich verändert – dies und die politischen Entscheidungen Chinas machen eine Veränderung unseres Umgangs mit China erforderlich", heißt es darin. Nunmehr ist das Land "gleichzeitig Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale". Deshalb wollen SPD, Grüne und FDP künftig einseitige Abhängigkeiten – z.B. bei Rohstoffen – vermeiden und die "technologische Souveränität" wahren. "Unternehmen müssen geopolitische Risiken bei ihren Entscheidungen adäquat berücksichtigen. Die Kosten von Klumpenrisiken müssen unternehmensseitig verstärkt internalisiert werden, damit im Falle einer geopolitischen Krise nicht staatliche Mittel zur Rettung einstehen müssen", mahnen sie.
Zudem sieht die China-Strategie eine Überprüfung chinesischer Direktinvestitionen in Deutschland vor, wenn diese in kritische Infrastruktur und Hoch- oder Grundlagen-Technologien fließen.
Aber während SPD und FDP vor der Feinderklärung zurückschrecken und zur Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen auch den Konflikt mit den USA nicht scheuen, die strikt auf Konfrontationskurs sind, denken die Grünen transatlantisch. So wollte Robert Habeck eine Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco am Hamburger Hafenterminal Tollerort verhindern. Gegenüber Olaf Scholz konnte er sich damit aber nicht durchsetzen. Der hatte den amerikanischen Freunden seine Position zu China diplomatisch verklausuliert in der einflussreichen Zeitschrift "Foreign Affairs" dargelegt: "Chinas Aufstieg ist weder eine Rechtfertigung für die Isolation Pekings noch für eine Einschränkung der Zusammenarbeit. Aber zugleich rechtfertigt Chinas wachsende Macht auch keine Hegemonialansprüche in Asien und darüber hinaus."
Habeck ließ jedoch nicht locker. Im Januar 2024 unternahm er sogar einen – von der China-Strategie nicht gedeckten – Vorstoß dazu, Kontrollen von Direktinvestitionen nicht mehr nur One-Way, sondern auch in Richtung Deutschland-China vorzunehmen. Bei solchen Operationen besteht seiner Meinung nach nämlich ebenfalls die Gefahr eines unerwünschten Technologie-Transfers. Da die Vereinigten Staaten ein solches "Outbound Investment Screening" bereits betreiben und die Bündnispartner drängen, es ihnen nachzutun, versuchte Habeck, einen solchen Mechanismus in die von der EU auf den Weg gebrachte "Strategie für wirtschaftliche Sicherheit" zu implementieren.
Trotz tatkräftiger Mithilfe von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheiterte das Unterfangen allerdings am Widerstand der Wirtschaft. So verfolgte laut "Handelsblatt" die "Deutsche Industrie- und Handelskammer" (DIHK) "die Diskussion über eine neue staatliche Aufsicht von Auslandsinvestitionen mit großer Sorge". Aktivitäten zu verbieten oder zu reglementieren, lehnt die DIHK ebenso wie der VCI ab.
Überdies erteilte DIHK-Präsident Martin Wansleben der "Vorstellung, dass es relativ leicht ist, China kurzfristig als Handelspartner zu ersetzen", eine Absage. Eine Reise nach Südostasien im Begleittross von Außenministerin Annalena Baerbock verfehlte offensichtlich den erhofften Zweck, ökonomische Beziehungen jenseits des Reiches der Mitte zu vertiefen.

"Das Geschäft mit der Region Asien-Pazifik ohne den chinesischen Markt kann immer nur ein Add-on sein, eine Absicherung in Form eines China plus 1‘ – aktuell aber kein Ersatz für China",
so Wansleben.
 Das gilt in besonderer Weise für die Chemie, denn weltweit werden 43 Prozent aller Geschäfte des Sektors in China abgewickelt.
Der Wacker-Konzern macht dort 30 Prozent seines Umsatzes, Covestro 20 Prozent, die BASF 14 Prozent und Evonik acht Prozent. Die BASF baut in Zhanjiang für zehn Milliarden Euro gerade den nach Ludwigshafen und Antwerpen drittgrößten Verbund-Standort des Unternehmens auf.
"Ohne das Geschäft in China wäre die notwendige Umstrukturierung hier nicht so möglich", sagt der Vorstandsvorsitzende Martin Brudermöller mit Verweis auf die Elektrifizierung der Produktionsprozesse. Auch Merck, Covestro, Evonik, Henkel und Bayer investieren weiter in dem Land. Der Glyphosat-Produzent beteiligte sich etwa an der Biopharmazie-Firma Jixing und nutzte die alljährlich in Shanghai stattfindende Import-Messe CIIE neben der Präsentation seiner Agrar- und Pharma-Produkte auch dazu, um Kooperations-vereinbarungen mit chinesischen Firmen abzuschließen. "Dies ist eine wirklich wichtige Veranstaltung", sagte Unternehmenssprecher Matthias Beringer in einem Interview mit "China Daily": "Sie wurde eingeführt, um sicherzustellen, dass China nicht nur als großer Exporteur, sondern auch als offener Markt für Importe präsentiert wird. Für Bayer ist es unser Ziel, Brücken zu bauen und Partnerschaften über manchmal sehr schwierige Grenzen hinweg zu schließen." Allerdings treffen die Firmen Vorsichtsmaßnahmen für den Fall zunehmender Spannungen zwischen dem Westen und China. Im Zuge dieses "De-Risking" entkoppeln viele der Betriebe ihre Geschäfte dort von denjenigen im Rest der Welt und produzieren stattdessen "in China für China".
Von den europäischen Chemie-Multis, die Deloitte befragte, gaben 71 Prozent an, ihre digitalen und physischen Vermögenswerte im Reich der Mitte künftig unabhängiger verwalten zu wollen. "Angesichts geopolitischer Spannungen überprüfen die europäischen Chemie-Hersteller insgesamt ihre Investitionsstrategien.
Die Unternehmen regionalisieren ihre Lieferanten-Netzwerke und Produktionskapazitäten und nutzen Investitionsanreize, um sich resilienter aufzustellen", resümiert Deloitte-Director Dr. Alexander Keller.

Die Bundesbank befasste sich derweil bereits mit den finanziellen Risiken, die aus den Engagements in China erwachsen, wenn die Konflikte mit den USA zunehmen oder der strauchelnde Immobiliensektor in China eine Wirtschaftskrise auslöst. Nach Einschätzung der Banker wären die Folgen schwerwiegend, da die Geldhäuser die Projekte von BASF, VW & Co. mit Krediten in beträchtlicher Höhe stützen. Dem Monatsbericht der Bundesbank vom Januar 2024 zufolge beliefen sich die Forderungen der Geldhäuser auf fast 220 Milliarden Euro (Stand: Ende 2022) – nicht weniger als 42 Prozent ihres Kernkapitals. "Insbesondere systemrelevante Institute haben vergleichsweise hohe Gesamtforderungen", so die Bundesbank.

Ausblick

Das alles sind keine guten Aussichten für die Branche, und positive Entwicklungen zeichnen sich kaum ab. Deshalb schaut der VCI nicht eben hoffnungsvoll in die nähere Zukunft. Für das laufende Jahr rechnet er mit einem Umsatz-Minus von drei Prozent und einer stagnierenden, aber wenigstens nicht weiter abfallenden Produktion. "Die Talsohle scheint erreicht", so der Verband. Nach einer Umfrage bei den Mitgliedsunternehmen erwartet der Großteil (45 Prozent) eine Belebung des Geschäfts erst 2025 oder später, 33 Prozent im 2. Halbjahr 2024 und 13 Prozent noch im 1. Halbjahr 2024. Lediglich Zehn Prozent spüren bereits jetzt einen Aufwärtstrend.

 

CCS: der beschleunigte Weg in die Klimakatastrophe

Fr, 05/04/2024 - 17:57

CCS heißt: Carbon Capture and Storage,
also Kohlenstoff einfangen und speichern.
Tatsächlich soll jedoch Kohlendioxid eingefangen und in Deponien endgelagert werden. Es geht also weder um Kohlenstoff noch um Speicher. Mit falschen Begriffen soll einem „weiter so“ der fossilen Energiewirtschaft der Weg geebnet werden.

Mit „CCS“ gehen 50 Jahre Falschinformation der fossilen Energiewirtschaft in die nächste Runde. Wie die aktuelle Gesetzesplanung offenbart, geht es vorrangig bei CCS um die dauerhafte Nutzung von Erdgas. Die Bundesregierung plant, dass die geplanten neuen Gaskraftwerke in Deutschland baulich CCS-Ready gebaut werden sollen, also die Hauptlieferanten für die CO2-Deponien würden. Die Unternehmen, die uns seit 50 Jahren bewusst in die Klimakatastrophe geführt haben, sollen jetzt ein Feigenblatt für die Fortsetzung ihres Geschäftsmodells bekommen und die Erde weiter in den Abgrund der Klimakatastrophe führen.

Erdgas besteht aus Methan. Methan ist das zweitwichtigste klimaaktive Gas und für rund ein Drittel der menschengemachten Klimaerwärmung verantwortlich.
Eine, wenn nicht sogar die Hauptquelle des von Menschen emittierten Methans, ist die Öl- und Gasindustrie.[1]
Gerade das Fracking-Erdgas aus den USA, das wir derzeit in steigenden Mengen als LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Deutschland importieren, ist deutlich schädlicher für das Klima, als die Nutzung von Steinkohle.[2]
CCS plus LNG bilden eine gefährliche Kombination, die die Klimakatastrophe zusätzlich beschleunigt.

CCS ist eine gescheiterte Technik, die nicht hält, was sie verspricht

Der Europäische Rechnungshof hat 2018 festgestellt, dass alle 12 von der EU geförderten CCS-Projekte die Ziele nicht erreicht haben.[3]

Auch weltweit ist CCS von gescheiterten Projekten gekennzeichnet[4] oder wurde vorrangig genutzt, um noch mehr Öl und Gas zu fördern[5] und die Klimakatastrophe weiter anzuheizen.[6]

Während die CO2-Minderungsziele verfehlt wurden, sind die Kosten explodiert.[7]

Die Verbrennung von Müll wird als eine der „unvermeidbaren“ CO2-Quellen angeführt, die CCS unbedingt notwendig machen würden. Fakt ist aber: die Anlage mit der höchsten Abscheiderate einer Müllverbrennungsanlage hat gerade einmal 11% des CO2 eingefangen, also 89% CO2 emittiert.[8] Da die Zusammensetzung von Müll stark schwankt, ist eine Optimierung der CO2-Abscheidung auch kaum möglich. Gerade dort, wo CCS angeblich unverzichtbar ist, ist es technisch bisher gescheitert.

Die CO2-Deponien sind weder sicher, noch wird CO2 dauerhaft gebunden

 Frühere Vermutungen, dass sich Erkenntnisse einzelner CO2-Deponien auf andere übertragen ließen, haben sich nicht bewahrheitet. Eine aktuelle Studie zu den „Vorzeige“-Deponien in Norwegen zeigt die erheblichen Probleme sowie fehlende Vorhersagbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen der Deponieeigenschaften auf.[9]

In den für die Errichtung von CO2-Deponien vorgesehenen Feldern in der Nordsee gibt es wahrscheinlich rund 1.800 undichte Bohrlöcher[10] sowie einzelne Blowouts.

Es findet weder ein systematisches Monitoring statt, noch werden undichte Altbohrungen abgedichtet.

Für eine Abdichtung von Leckagen von CO2-Deponien in der Nordsee gibt es noch keine etablierten Verfahren.

Aus dem Blowout von 1990 vor Schottland treten jedes Jahr zusätzlich 300.000 t Methan aus.[11] Dort lässt sich auch beobachten, welche gravierenden Auswirkungen Leckagen auf die Umwelt und die Artenzusammensetzung haben.

Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die CO2-Deponien dicht sein werden. Das CO2 würde sich durch die Sedimente hindurchbewegen und die dortige Artenzusammensetzung massiv beeinträchtigen,[12] das Meerwasser weiter versauern und teilweise wieder in die Atmosphäre gelangen.

Das Einbringen von Millionen Tonnen CO2 in den Untergrund Jahr für Jahr könnte zu Auftrieb und Erdbeben führen, ähnlich dem Vorfall vom 22. November 2022 in Alberta, Kanada.[13]
Bereits seit 2015 ist aus den USA bekannt, dass das Verpressen von Flüssigkeiten Erdbeben auslöst.[14]
Das gefährdet CO2-Endlager, Windparks, Erdgas- und Erdölplattformen und die Nordsee.

In den Sandsteinformationen der Nordsee und des Norddeutschen Beckens fehlen die Mineralien, die für eine Mineralisierung benötigt würden. Deshalb wandelt sich das CO2 nur zu einem sehr geringen Teil in Gestein um und wird im Untergrund nicht fest verbunden. Das CO2 wird auch nach Jahrtausenden dort weitgehend mobil bleiben.[15]
Damit bleiben CO2-Endlager dauerhaft tickende Zeitbomben für das Klima.
Die Kosten der Überwachung werden aber schon nach wenigen Jahrzehnten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, falls es überhaupt zu einer dauerhaften Überwachung dieser Endlager kommen sollte.

Die einzige CO2-Forschungsdeponie in Deutschland, das Projekt Ketzin, wurde nach Ende der Injektionsphase nur 5 Jahre lang überwacht.[16] Seitdem gibt es keine Erkenntnisse mehr über den Verbleib des CO2. Trotzdem wird dieses Forschungsprojekt in Ermangelung anderer Projekte als „Demonstrations“-Projekt für das Kohlendioxidspeichergesetz herangezogen und als Erfolg bezeichnet.

Wasserprobleme durch CCS

Der Bedarf an Wasser für den geplanten Umfang an CCS könnte etwa dem Wasserverbrauch entsprechen, den das Umweltbundesamt für die gesamte Landwirtschaft in Deutschland angibt.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei der Verpressung von CO2 durch den dabei ausgeübten Druck Salzwasser aus dem Untergrund weiträumig verdrängt wird. Damit könnten unsere Grundwasservorkommen auch noch in 50-100 km Entfernung gefährdet werden, wie eine Karte der beiden 2009 in Schleswig-Holstein geplanten CO2-Endlager verdeutlicht. In jedem Fall wird die Verdrängung saliner Formationswässer durch CO2 zwangsläufig zu ausgedehnten Versalzungen höherer Süßwasser-Stockwerke führen.[17]

CO2-Pipelines

Für Deutschland ist derzeit ein neu zu errichtendes CO2-Pipelinenetz von rund 4.600 km Länge geplant. Dafür müsste jeweils auf einer Breite von rund 45 Metern eine breite Baustelle entstehen, die anschließend eine deutlich verschlechterte landwirtschaftliche Fläche bzw. zerstörte Umwelt hinterlassen würde.[18]

Die CO2-Pipelines wären eine dauerhafte Gefahr für Mensch und Umwelt, da mit Unfällen zu rechnen wäre. So gab es gerade erst in diesem Jahr einen Unfall mit einer neu gebauten Erdgaspipeline in Stade, bei der 60.000 Kubikmeter Erdgas austraten bzw. abgefackelt werden mussten.[19] Ein vergleichbarer Unfall mit einer CO2-Pipeline in einem besiedelten Gebiet könnte zu tausenden Todesfällen führen, da CO2 die Luft verdrängt und zur Erstickung führen kann.

Erfahrungen mit CO2-Pipelineunfällen gibt es insbesondere aus den USA.[20] Je dichter besiedelt das Gebiet ist, durch das die Pipelines laufen, desto mehr Menschen werden durch Unfälle geschädigt.[21] In Deutschland sind die CO2-Pipelines auch für die am dichtesten besiedelten Gebiete geplant, so dass es nicht eine Frage ist, ob tödliche Unfälle auftreten werden, sondern lediglich, wann, wie oft und mit welchen Folgen. Unfälle mit CO2 sind auch deshalb so gefährlich, weil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren plötzlich stehen bleiben und Rettungsfahrzeuge dadurch oft gar nicht erst zum Unfallgeschehen vordringen können.[22]

CCS würde die Energiekosten dauerhaft erhöhen

Fast alle Technologien werden im Laufe der Anwendung immer preiswerter.

CCS ist hier eine unrühmliche Ausnahme.
Die Kosten pro abgeschiedener und verpresster Tonne CO2 haben sich in den letzten 50 Jahren nicht relevant verringert,[23] sondern bei direkter Abscheidung aus der Luft sogar erhöht. Die Kosten für eine relevante Abscheidung und Deponierung von CO2[24] wären auch in einem reichen Land wie Deutschland nicht aufzubringen. Für die Welt wäre CCS wegen der Kosten erst recht keine Lösung.

Damit zeichnet sich eine politisch induzierte dauerhaft hohe Inflation ab, die vorrangig die Ärmsten treffen wird, sowohl in Deutschland, der EU als auch im Globalen Süden.

Fazit:

Die Energiewende kann nur ohne CCS gelingen. Mit CCS würde die Klimakatastrophe beschleunigt werden und das zu Lasten insbesondere der Ärmsten, von Minderheiten und der Umwelt.

 

 

Anmerkungen zum Autor:
Dr. Reinhard Knof

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager e.V.
https://keinco2endlager.de

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]      https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/

[2]https://www.research.howarthlab.org/documents/Howarth2022_EM_Magazine_methane.pdf

[3]      https://www.eca.europa.eu/de/publications?did=47082

[4]      https://ieefa.org/resources/carbon-capture-has-long-history-failure

[5]      https://www.desmog.com/2023/09/25/fossil-fuel-companies-made-bold-promises-to-capture-carbon-heres-what-actually-happened/  

[6]      https://energyandpolicy.org/department-of-energy-analysis-says-coal-carbon-capture-project-would-emit-more-greenhouse-gases-than-it-stores/

[7]     https://ieefa.org/wp-content/uploads/2022/03/Gorgon-Carbon-Capture-and-Storage_The-Sting-in-the-Tail_April-2022.pdf

[8]     https://www.biofuelwatch.org.uk/wp-content/uploads/BECCS-report-2022-final.pdf

[9]https://ieefa.org/sites/default/files/2023-06/Norway%E2%80%99s%20Sleipner%20and%20Sn%C3%B8hvit%20CCS-%20Industry%20models%20or%20cautionary%20tales.pdf

[10]     https://www.geomar.de/news/article/neue-studie-bestaetigt-umfangreiche-gasleckagen-in-der-nordsee

[11]   https://de.wikipedia.org/wiki/Erdgasleck_in_der_Nordsee

[12]https://www.mpg.de/11936761/kohlendioxid-ccs

[13]https://phys.org/news/2023-03-oil-industry-triggered-large-alberta.html

[14]https://www.americangeosciences.org/geoscience-currents/induced-seismicity-oil-and-gas-operations

[15]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspa.2014.0853

[16]https://www.lbeg.niedersachsen.de/energie_rohstoffe/co2speicherung/co2-speicherung-935.html

[17]https://keinco2endlager.de/geologische-kurzstudie-zu-den-bedingungen-und-moeglichen-auswirkungen-der-dauerhaften-lagerung-von-co2-im-untergrund/

[18]https://api.yooble.com/uploads/703565_1525680274_nCwaj.jpg

[19]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/LNG-Terminal-Stade-Rund-60000-Kubikmeter-Gas-muessen-verbrannt-werden,aktuelllueneburg10050.html

[20]    https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0950423023001596

[21]https://www.npr.org/2023/05/21/1172679786/carbon-capture-carbon-dioxide-pipeline

[22]https://www.wz.de/nrw/moenchengladbach/gas-unfall-mehr-als-100-verletzte-in-moenchengladbacher-lackfabrik_aid-31503165

[23]https://www.focus.de/earth/news/ccs-technik-retten-co2-staubsauger-unser-klima-ein-realitaetscheck-der-wunderwaffe_id_228126796.html

[24]file:///tmp/mozilla_nutzer0/kostenschaetzung-fuer-ein-ccs-system-fuer-die-schweiz-bis-2050.pdf

CCS: der beschleunigte Weg in die Klimakatastrophe
Reinhard Knof

 

CCS heißt: Carbon Capture and Storage, also Kohlenstoff einfangen und speichern.

Tatsächlich soll jedoch Kohlendioxid eingefangen und in Deponien endgelagert werden. Es geht also weder um Kohlenstoff noch um Speicher. Mit falschen Begriffen soll einem „weiter so“ der fossilen Energiewirtschaft der Weg geebnet werden.



Mit „CCS“ gehen 50 Jahre Falschinformation der fossilen Energiewirtschaft in die nächste Runde. Wie die aktuelle Gesetzesplanung offenbart, geht es vorrangig um CCS für die dauerhafte Nutzung von Erdgas. Die Bundesregierung plant, dass die geplanten neuen Gaskraftwerke in Deutschland baulich CCS-Ready gebaut werden sollen, also die Hauptlieferanten für die CO2-Deponien würden. Die Unternehmen, die uns seit 50 Jahren bewusst in die Klimakatastrophe geführt haben, sollen jetzt ein Feigenblatt für die Fortsetzung ihres Geschäftsmodells bekommen und die Erde weiter in den Abgrund der Klimakatastrophe führen.

 

Erdgas besteht aus Methan. Methan ist das zweitwichtigste klimaaktive Gas und für rund ein Drittel der menschengemachten Klimaerwärmung verantwortlich.
Eine, wenn nicht sogar die Hauptquelle des von Menschen emittierten Methans, ist die Öl- und Gasindustrie.[1]
Gerade das Fracking-Erdgas aus den USA, das wir derzeit in steigenden Mengen als LNG (verflüssigtes Erdgas) nach Deutschland importieren, ist deutlich schädlicher für das Klima, als die Nutzung von Steinkohle.[2]
CCS plus LNG bilden eine gefährliche Kombination, die die Klimakatastrophe zusätzlich beschleunigt.

 

CCS ist eine gescheiterte Technik, die nicht hält, was sie verspricht

     

 

 

Der Europäische Rechnungshof hat 2018

festgestellt, dass alle 12 von der EU

geförderten CCS-Projekte die Ziele nicht

erreicht haben.[3]

 

 

 

 

 

 

 

Auch weltweit ist CCS von gescheiterten Projekten gekennzeichnet[4] oder wurde vorrangig genutzt, um noch mehr Öl und Gas zu fördern[5] und die Klimakatastrophe weiter anzuheizen.[6]

                   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Während die CO2-Minderungsziele verfehlt wurden, sind die Kosten explodiert.[7]

 

Die Verbrennung von Müll wird als

eine der „unvermeidbaren“ CO2-Quellen

angeführt, die CCS unbedingt notwendig

machen würden. Fakt ist aber: die Anlage

mit der höchsten Abscheiderate einer

Müllverbrennungsanlage hat gerade

einmal 11% des CO2 eingefangen,

also 89% CO2 emittiert.[8] Da die

Zusammensetzung von Müll stark

schwankt, ist eine Optimierung der

CO2-Abscheidung auch kaum möglich.

Gerade dort, wo CCS angeblich

unverzichtbar ist, ist es technisch

bisher gescheitert.

 

Die CO2-Deponien sind weder sicher, noch wird CO2 dauerhaft gebunden

 

Frühere Vermutungen, dass sich Erkenntnisse einzelner CO2-Deponien auf andere übertragen ließen, haben sich nicht bewahrheitet. Eine aktuelle Studie zu den „Vorzeige“-Deponien in Norwegen zeigt die erheblichen Probleme sowie fehlende Vorhersagbarkeit und Übertragbarkeit von Erkenntnissen der Deponieeigenschaften auf.[9]

 

In den für die Errichtung von CO2-Deponien vorgesehenen Feldern in der Nordsee gibt es wahrscheinlich rund 1.800 undichte Bohrlöcher[10] sowie einzelne Blowouts.

Es findet weder ein systematisches Monitoring statt, noch werden undichte Altbohrungen abgedichtet.

Für eine Abdichtung von Leckagen von CO2-Deponien in der Nordsee gibt es noch keine etablierten Verfahren.

Aus dem Blowout von 1990 vor Schottland treten jedes Jahr zusätzlich 300.000 t Methan aus.[11] Dort lässt sich auch beobachten, welche gravierenden Auswirkungen Leckagen auf die Umwelt und die Artenzusammensetzung haben.

Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die CO2-Deponien dicht sein werden. Das CO2 würde sich durch die Sedimente hindurchbewegen und die dortige Artenzusammensetzung massiv beeinträchtigen,[12] das Meerwasser weiter versauern und teilweise wieder in die Atmosphäre gelangen.

 

Das Einbringen von Millionen Tonnen CO2 in den Untergrund Jahr für Jahr könnte zu Auftrieb und Erdbeben führen, ähnlich dem Vorfall vom 22. November 2022 in Alberta, Kanada.[13]
Bereits seit 2015 ist aus den USA bekannt, dass das Verpressen von Flüssigkeiten Erdbeben auslöst.[14]
Das gefährdet CO2-Endlager, Windparks, Erdgas- und Erdölplattformen und die Nordsee.

 

In den Sandsteinformationen der Nordsee und des Norddeutschen Beckens fehlen die Mineralien, die für eine Mineralisierung benötigt würden. Deshalb wandelt sich das CO2 nur zu einem sehr geringen Teil in Gestein um und wird im Untergrund nicht fest verbunden. Das CO2 wird auch nach Jahrtausenden dort weitgehend mobil bleiben.[15]
Damit bleiben CO2-Endlager dauerhaft tickende Zeitbomben für das Klima.
Die Kosten der Überwachung werden aber schon nach wenigen Jahrzehnten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, falls es überhaupt zu einer dauerhaften Überwachung dieser Endlager kommen sollte.

Die einzige CO2-Forschungsdeponie in Deutschland, das Projekt Ketzin, wurde nach Ende der Injektionsphase nur 5 Jahre lang überwacht.[16] Seitdem gibt es keine Erkenntnisse mehr über den Verbleib des CO2. Trotzdem wird dieses Forschungsprojekt in Ermangelung anderer Projekte als „Demonstrations“-Projekt für das Kohlendioxidspeichergesetz herangezogen und als Erfolg bezeichnet.

 

Wasserprobleme durch CCS

 

Der Bedarf an Wasser für den geplanten Umfang an CCS könnte etwa dem Wasserverbrauch entsprechen, den das Umweltbundesamt für die gesamte Landwirtschaft in Deutschland angibt.

Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bei der Verpressung von CO2 durch den dabei ausgeübten Druck Salzwasser aus dem Untergrund weiträumig verdrängt wird. Damit könnten unsere Grundwasservorkommen auch noch in 50-100 km Entfernung gefährdet werden, wie eine Karte der beiden 2009 in Schleswig-Holstein geplanten CO2-Endlager verdeutlicht. In jedem Fall wird die Verdrängung saliner Formationswässer durch CO2 zwangsläufig zu ausgedehnten Versalzungen höherer Süßwasser-Stockwerke führen.[17]

 

 

CO2-Pipelines

 

Für Deutschland ist derzeit ein neu zu errichtendes CO2-Pipelinenetz von rund 4.600 km Länge geplant. Dafür müsste jeweils auf einer Breite von rund 45 Metern eine breite Baustelle entstehen, die anschließend eine deutlich verschlechterte landwirtschaftliche Fläche bzw. zerstörte Umwelt hinterlassen würde.[18]

 

Die CO2-Pipelines wären eine dauerhafte Gefahr für Mensch und Umwelt, da mit Unfällen zu rechnen wäre. So gab es gerade erst in diesem Jahr einen Unfall mit einer neu gebauten Erdgaspipeline in Stade, bei der 60.000 Kubikmeter Erdgas austraten bzw. abgefackelt werden mussten.[19] Ein vergleichbarer Unfall mit einer CO2-Pipeline in einem besiedelten Gebiet könnte zu tausenden Todesfällen führen, da CO2 die Luft verdrängt und zur Erstickung führen kann.

Erfahrungen mit CO2-Pipelineunfällen gibt es insbesondere aus den USA.[20] Je dichter besiedelt das Gebiet ist, durch das die Pipelines laufen, desto mehr Menschen werden durch Unfälle geschädigt.[21] In Deutschland sind die CO2-Pipelines auch für die am dichtesten besiedelten Gebiete geplant, so dass es nicht eine Frage ist, ob tödliche Unfälle auftreten werden, sondern lediglich, wann, wie oft und mit welchen Folgen. Unfälle mit CO2 sind auch deshalb so gefährlich, weil Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren plötzlich stehen bleiben und Rettungsfahrzeuge dadurch oft gar nicht erst zum Unfallgeschehen vordringen können.[22]

 

CCS würde die Energiekosten dauerhaft erhöhen

 

Fast alle Technologien werden im Laufe der Anwendung immer preiswerter.

CCS ist hier eine unrühmliche Ausnahme.
Die Kosten pro abgeschiedener und verpresster Tonne CO2 haben sich in den letzten 50 Jahren nicht relevant verringert,[23] sondern bei direkter Abscheidung aus der Luft sogar erhöht. Die Kosten für eine relevante Abscheidung und Deponierung von CO2[24] wären auch in einem reichen Land wie Deutschland nicht aufzubringen. Für die Welt wäre CCS wegen der Kosten erst recht keine Lösung.

Damit zeichnet sich eine politisch induzierte dauerhaft hohe Inflation ab, die vorrangig die Ärmsten treffen wird, sowohl in Deutschland, der EU als auch im Globalen Süden.

 

Fazit:

 

Die Energiewende kann nur ohne CCS gelingen. Mit CCS würde die Klimakatastrophe beschleunigt werden und das zu Lasten insbesondere der Ärmsten, von Minderheiten und der Umwelt.

 

 

Anmerkungen zum Autor:

Dr. Reinhard Knof

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager e.V.
https://keinco2endlager.de

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]      https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/

[2]https://www.research.howarthlab.org/documents/Howarth2022_EM_Magazine_methane.pdf

[3]      https://www.eca.europa.eu/de/publications?did=47082

[4]      https://ieefa.org/resources/carbon-capture-has-long-history-failure

[5]      https://www.desmog.com/2023/09/25/fossil-fuel-companies-made-bold-promises-to-capture-carbon-heres-what-actually-happened/  

[6]      https://energyandpolicy.org/department-of-energy-analysis-says-coal-carbon-capture-project-would-emit-more-greenhouse-gases-than-it-stores/

[7]     https://ieefa.org/wp-content/uploads/2022/03/Gorgon-Carbon-Capture-and-Storage_The-Sting-in-the-Tail_April-2022.pdf

[8]     https://www.biofuelwatch.org.uk/wp-content/uploads/BECCS-report-2022-final.pdf

[9]https://ieefa.org/sites/default/files/2023-06/Norway%E2%80%99s%20Sleipner%20and%20Sn%C3%B8hvit%20CCS-%20Industry%20models%20or%20cautionary%20tales.pdf

[10]     https://www.geomar.de/news/article/neue-studie-bestaetigt-umfangreiche-gasleckagen-in-der-nordsee

[11]   https://de.wikipedia.org/wiki/Erdgasleck_in_der_Nordsee

[12]https://www.mpg.de/11936761/kohlendioxid-ccs

[13]https://phys.org/news/2023-03-oil-industry-triggered-large-alberta.html

[14]https://www.americangeosciences.org/geoscience-currents/induced-seismicity-oil-and-gas-operations

[15]https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rspa.2014.0853

[16]https://www.lbeg.niedersachsen.de/energie_rohstoffe/co2speicherung/co2-speicherung-935.html

[17]https://keinco2endlager.de/geologische-kurzstudie-zu-den-bedingungen-und-moeglichen-auswirkungen-der-dauerhaften-lagerung-von-co2-im-untergrund/

[18]https://api.yooble.com/uploads/703565_1525680274_nCwaj.jpg

[19]https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/LNG-Terminal-Stade-Rund-60000-Kubikmeter-Gas-muessen-verbrannt-werden,aktuelllueneburg10050.html

[20]    https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0950423023001596

[21]https://www.npr.org/2023/05/21/1172679786/carbon-capture-carbon-dioxide-pipeline

[22]https://www.wz.de/nrw/moenchengladbach/gas-unfall-mehr-als-100-verletzte-in-moenchengladbacher-lackfabrik_aid-31503165

[23]https://www.focus.de/earth/news/ccs-technik-retten-co2-staubsauger-unser-klima-ein-realitaetscheck-der-wunderwaffe_id_228126796.html

[24]file:///tmp/mozilla_nutzer0/kostenschaetzung-fuer-ein-ccs-system-fuer-die-schweiz-bis-2050.pdf

 

Weiteres Jahr, weiterer Ostermarsch: Schade, dass niemand Zeit für Revolutionen hat

Di, 02/04/2024 - 16:12

Mit dem Christentum hat die in Ost-Berlin aufgewachsene Autorin wenig am Hut. Doch eine Eigenschaft erkennt sie in Jesus doch:
Mut zur Revolution.  

 

Als Kind fand ich Ostern toll. Eiersuche, Schokolade und Frühling. Welches Kind mag das nicht? Heute gehe ich auf Ostermärsche, der Papst spricht seinen Ostersegen, und ich fühle mich wie im falschen Film.

Nicht „Die Passion Christi“, sondern „Täglich grüßt das Murmeltier“: Ein Mann erwacht Tag für Tag im selben Tag. Er versucht seinem Schicksal zu entkommen, schafft es aber nicht.

Im Film ist das lustig, in der Welt weniger. Denn seit Jahren hören wir Osteransprachen über Frieden und Mitgefühl. Wir demonstrieren gegen Krieg, Armut und Hass. Das ist gut und wichtig, manche nennen es Tradition. Aber ich verzweifle jedes Jahr aufs Neue an der Politik und ihren selbstherrlichen Phrasen.

Als Ost-Berliner Kind wusste ich lange nicht, was es mit Ostern auf sich hat. Christentum, Jesus, Auferstehung? Bis heute habe ich damit wenig am Hut. Trotzdem hilft Ostern den Menschen zur Besinnung. Es geht um Güte, Demut und Achtsamkeit, denn darum ging es Jesus.

Der, und auch das wusste ich lange nicht, war ein radikaler Revoluzzer. Er lebte entgegen allen Konventionen. Für ihn hatten Menschen Wert, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft. Prostituierte, Arme, Kranke. Alle waren gleich. Heute haben wir  Künstliche Intelligenz, Supercomputer, und wir fliegen Reiche ins All. Aber die Tatsache, dass allen Menschen Wert zukommt, verstehen wir trotzdem nicht. Und stünde Jesus vor meiner Tür, riefe ich wahrscheinlich die Polizei.

Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe

Denn ehrlich, wer will schon wirklich Veränderung? Das Klima spielt verrückt, im Mittelmeer sterben Menschen, aber wir tun so, als habe das wenig mit uns zu tun. Denn ändern können wir eh nichts, und am Ende geht es uns doch ganz gut, oder?
Klar, die Ampel-Regierung ist eine Katastrophe und mit der Alternative für Deutschland (AfD) wollen völkische Nationalist:innen an die Macht. Schon wieder! Als hätte uns die Geschichte nicht gezeigt, wo das hinführt. Aber sich deswegen politisch engagieren und raus aus der Komfortzone? So weit gehen weder Empörung, Angst noch Nächstenliebe.

Natürlich ist der Vergleich unfair. Jesus gehörte in eine andere Liga – ähnlich wie Gandhi oder MArtin Luther. Sie alle kritisierten die Mächtigen und ihre Institutionen; wollten Reformen oder Revolution. Das setzt die Messlatte ziemlich hoch.
Denn heute leben wir Alltag – wir haben Berufe, Kinder und Kredite. Da bleibt kaum Zeit für Revolution.

Trotzdem, täten wir alle ein Fünkchen von dem, was wir zu Ostern propagieren, sähe die Welt anders aus: kein Ignorieren obdachloser Menschen, kein Anfeinden statt Zuhören, kein „Ich zuerst und nach mir die Sintflut“.
Das wäre doch etwas.

Jesus meinte einmal, ein Kamel komme eher durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Das stimmt bis heute. Aber wir fliegen um die halbe Welt in Urlaubsparadiese und kommen dem Himmel so ziemlich nah. Das ist die Ironie der Geschichte. Und Jesus, Gandhi und Luther? Ihr Erbe wird benutzt und ist oft Teil jener Institutionen, die sie einst kritisierten. Das ist das Schicksal deren, die Geschichte schreiben.

In „Täglich grüßt das Murmeltier“ entkommt der Held schließlich seinem immer gleichen Tag. Er überwindet sein Ego und tut Gutes für andere.
Und wir?

Vielleicht ist es Zeit, unsere Komfortzonen zu verlassen.
Denn sonst wiederholt sich, statt den Ostermärschen, auch unsere Geschichte.

 

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung 1.4.2024

 

 

 

Memorandum-Gruppe: Aufrüstung verschärft die finanzielle Situation

Sa, 30/03/2024 - 08:47

In derArbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e.V. ("Memorandumgruppe") arbeiten Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler sowie Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter an der Entwicklung wirtschaftspolitischer Vorschläge und Perspektiven für die Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, der Verbesserung des Lebensstandards, dem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme für die abhängig Beschäftigten sowie wirksamen Umweltschutz

Den Wirtschaftswissenschaftlern geht es nach eigenem Bekunden „…um die Kritik und Zurückweisung der Vorstellungen und Theorien, die Beschäftigung, Einkommen, Sozialleistungen und Umweltschutz den Gewinnen der Privatwirtschaft nach- und unterordnen. Es wird der Eindruck verbreitet, zur aktuell betriebenen - in erster Linie auf private Gewinnförderung gerichteten - Wirtschaftspolitik gäbe es aus wissenschaftlichen Gründen keine Alternative.
Vernünftige und realistische Alternativen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen, lassen sich allerdings nicht durch Appelle an die Einsicht der Bundesregierung, sondern nur im Kampf gegen die Interessen der Privatwirtschaft durchsetzen.“Vernünftige und realistische Alternativen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen, lassen sich allerdings nicht durch Appelle an die Einsicht der Bundesregierung, sondern nur im Kampf gegen die Interessen der Privatwirtschaft durchsetzen.“

Der aktuelle Bericht der Arbeitsgruppe „Memorandum 2024“zeichnet ein düsteres Bild von der politischen und wirtschaftlichen Situation.
Dramatische Krisen und Kriege und gestörte Lieferketten haben (Brems-)Spuren hinterlassen.
Preissteigerungen mindern die Realeinkommen großer Teile der Bevölkerung.

Die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierenden ist groß - ebenso wie die Angst davor, bei der Lösung der Probleme überfordert zu werden.
Im Kapitel 8 des Memorandums 2024 wird unter der Überschrift „Aufrüstung verschärft die finanzielle Situation“ auf die negativen Folgen der weiteren Hochrüstung hingewiesen.

Das Memorandum weist darauf hin, dass Deutschland im Jahr 2024 85,5 Milliarden für Rüstung ausgibt. Die Festlegung, jährlich 2% des BIP für Rüstung auszugeben, führe zu einem fatalen Aufrüstungsautomatismus. Angesichts der hohen Rüstungsausgaben in den gleichfalls hochgerüsteten NATO-Staaten sei eine weitere Aufrüstungsspirale nicht zu rechtfertigen.
Daran ändert auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nichts“ heißt es in dem Bericht.

Und bezugnehmend auf die gegenwärtige Finanzdebatte wird festgestellt:

„Wer die Schuldenbremse unbedingt einhalten will und Steuererhöhungen konsequent ablehnt, hat bei einer kräftigen Erhöhung der Militärausgaben keine andere Wahl, als dringende Aufgaben zu vernachlässigen.“

Diese „zu vernachlässigten Aufgaben werden den Sozial- und Bildungsbereich treffen, es wird Menschen treffen, die bezahlbare Wohnungen oder einen Kitaplatz suchen, oder die, die von einer Armutsrente leben müssen.

Investitionen in eine sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft oder eine entsprechende Verkehrswende werden einer aggressiven Aufrüstung geopfert.

Hundert Milliarden „Sonderschulden“ werden an der Schuldenbremse vorbei für neue Rüstungsprogramme reserviert und gleichzeitig wächst die Armut drastisch.

Armut wächst

Denn ärmere Haushalte sind besonders stark von Inflation betroffen, weil sie einen großen Teil ihres Budgets für Lebensmittel und Energie ausgeben müssen. Diese Güter sind die stärksten Preistreiber.

Dem neuen Armutsbericht des paritätischen Gesamtverbandes ist zu entnehmen: 16,8 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 

Nach diesem Bericht müssen 14,2 Millionen Menschen in diesem reichen Land zu den Armen gezählt werden.

2022 waren damit fast eine Million Menschen mehr von Armut betroffen als vor der Pandemie.
Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension.

Auf einen neuen traurigen Rekordwert ist nach der Studie zudem die Kinderarmut gestiegen: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Bei Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.

Aber es gibt auch Gewinner der Aufrüstung.

Das sind große Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, dessen Aktienkurs seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um 266% gestiegen ist.

 

Hoffnungsschimmer

Reiche stärker besteuern, abrüsten, Reichtum umverteilen und eine sozialökologische Wende erkämpfen ist die Aufgabe.
Die großen Demonstrationen gegenRechts sind ein Hoffnungsschimmer heißt es im Memorandum 2024. Daran müsse angeknüpft werden, so die Autoren.

„Die Bewegungen müssen gebündelt und gestärkt werden, damit sich auch in wirtschaftlichen und sozialen Fragen das gesellschaftliche Klima wendet.“

 

 

 

Europa auf dem Weg nach rechts

Di, 26/03/2024 - 06:52

Parteien der äußersten Rechten drohen bei der Europawahl in neun EU-Staaten stärkste Kraft zu werden.
Enge Kooperation mit einigen Rechtsaußenparteien unter Kommissionschefin von der Leyen ist für die Zeit nach der Wahl im Gespräch.

 

Hinweis auf isw-Veranstaltung
Europa auf dem Weg nach rechts

EineWeltHaus München & ZOOM
12. Juni 2024
https://www.isw-muenchen.de/aktuelles/termine/eventdetail/30/-/europa-auf-dem-weg-nach-rechts

Flyer zur isw-Veranstaltung

Bei der Europawahl im Juni drohen Parteien der äußersten Rechten laut Umfragen in einem Drittel der Mitgliedstaaten zur stärksten, in einem weiteren Drittel zur zweit- oder drittstärksten Kraft zu werden. Dies zeigt eine Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR), einer EU-weit vernetzten Denkfabrik.
Im EU-Parlament wären die Rechtsaußen-Fraktionen ECR und ID nach aktuellem Umfragestand gemeinsam stärker als die Fraktion der Sozialdemokraten und als die der konservativen EVP. EVP und Sozialdemokraten stehen laut Umfragen vor Verlusten und könnten gemeinsam mit der liberalen Fraktion Renew Europe zwar noch rechnerisch eine knappe Mehrheit bilden; diese wäre aber in der parlamentarischen Praxis nicht stabil.

Entsprechend dauert die Debatte an, ob unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach der Wahl nicht auch Kräfte der äußersten Rechten zu einer intensiven Kooperation herangezogen werden sollen – vor allem aus der Fraktion ECR, der unter anderem die Schwedendemokraten und Vox aus Spanien angehören. Angeführt wird diese Fraktion von den ultrarechten Fratelli d’Italia unter Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

Die große Koalition rutscht ab

Die Fraktionen, die traditionell die Politik der EU-Kommission tragen, werden bei der Europawahl, die vom 6. bis zum 9. Juni abgehalten wird,voraussichtlich spürbare Verluste hinnehmen müssen. Aus einer Analyse des European Council on Foreign Relations (ECFR), die auf der Grundlage zahlreicher nationaler Umfragen erstellt wurde, geht hervor, dass die

-  konservative Europäische Volkspartei (EVP)  von 178 auf 173 Sitze fallen soll,
die Sozialdemokraten von 141 auf 131,
die liberale Renew Europe von 101 auf 86;
auch die Grünen werden reduziert und statt 71 nur noch 61 Mandate haben.

Dies hat Folgen für die Optionen, die für die Bildung einer Koalition zur Verfügung stehen. Laut der Prognose wird die „große Koalition“ aus EVP und Sozialdemokraten, die 2019 erstmals die Mehrheit verlor, von aktuell 45 auf 42 Prozent der Mandate abrutschen. Eine „supergroße Koalition“ unter Einschluss von Renew Europe käme zwar auf 54 Prozent und damit auf eine rechnerische Mehrheit; das werde aber in der parlamentarischen Praxis nicht ausreichen, um eine stabile Koalition zu bilden, weil im Europaparlament regelmäßig Teile der Fraktionen aufgrund abweichender nationaler Interessen nicht mit der Mehrheit stimmten, urteilt der ECFR.[1]

Die äußerste Rechte legt zu

Deutliche Zugewinne erzielen werden dem ECFR zufolge Parteien diverser Schattierungen der äußersten Rechten, die in neun Staaten zur stärksten [2], in neun weiteren zur zweit- oder drittstärksten Kraft [3] werden dürften. Sie stellen schon heute Italiens Ministerpräsidentin (Giorgia Meloni, Fratelli d’Italia), hätten beinahe den Ministerpräsidenten der Niederlande gestellt (Geert Wilders, Partij voor de Vrijheid), halten den Posten der stellvertretenden Ministerpräsidentin Finnlands (Riikka Purra, Perussuomalaiset/Die Finnen), waren bereits in der Vergangenheit an Regierungen beteiligt (FPÖ) oder tolerierten sie (Dansk Folkeparti). Der ECFR rechnet ihnen auch Ungarns Regierungspartei Fidesz mit Ministerpräsident Viktor Orbán und Polens langjährige Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) unter Jarosław Kaczyński zu.
In Deutschland ist die äußerste Rechte vor allem in der AfD organisiert. Im Europaparlament sind die Parteien der äußersten Rechten bislang in der Fraktion der European Conservatives and Reformists (ECR) und in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) vereinigt. Die ECR um die Fratelli d’Italia und die PiS können dem ECFR zufolge hoffen, die Zahl ihrer Mandate von 67 auf 85 zu steigern; die ID um die FPÖ, die italienische Lega und den französischen Rassemblement National (RN) wird die Zahl ihrer Sitze wohl von 58 auf 98 steigern. Hinzu kommen fraktionslose extrem rechte Abgeordnete.

Koalitionsoptionen

Treffen die Prognosen auch nur annähernd zu,  dann werden ECR und ID, wie der ECFR konstatiert, rund 25 Prozent der Mandate im Europaparlament halten und gemeinsam mehr Abgeordnete stellen als jeweils die EVP oder die Sozialdemokraten. Damit geraten auch neue Koalitionen so langsam in den Bereich des Möglichen. Entschlössen sich EVP und Renew Europe, nicht mehr mit den Sozialdemokraten, sondern lieber mit den ECR zu kooperieren, dann kämen sie auf annähernd 48 Prozent der Sitze. Ginge die EVP eine Zusammenarbeit mit den ECR und der ID ein, könnte dieses Bündnis 49 Prozent aller Mandate vereinigen, mehr als seine bisherigen 43 Prozent. Rechne man zu ihm noch zumindest einige fraktionslose Abgeordnete der extremen Rechten hinzu, dann sei – zum ersten Mal in der Geschichte des Europaparlaments – eine konservativ-ultrarechte Koalition zumindest rechnerisch möglich.

Doch schon unabhängig davon werde sich das politische Klima im Europaparlament klar verschieben, sagt der ECFR voraus. So sei zum Beispiel eine weitere Verschärfung bei der Abwehr von Flüchtlingen wahrscheinlich; das gleiche gelte für die innere Repression. Zudem sei mit einer deutlichen Aufweichung der Maßnahmen zum Klimaschutz zu rechnen, deren Umsetzung von den Parteien der äußersten Rechten klar abgelehnt werde.


Der EVP-ECR-Dialog

In Brüssel hat die Debatte über mögliche Koalitionen längst begonnen. Klar scheint, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beste Chancen auf eine Wiederwahl hat: Die EVP wird höchstwahrscheinlich erneut die stärkste Fraktion im Europaparlament bilden können. Die EVP wiederum führt schon seit Jahren einen „Dialog“ mit den ECR, denen neben den Fratelli d’Italia und der polnischen PiS unter anderen die spanische Partei Vox und die Schwedendemokraten angehören. Diesem Dialog ist es geschuldet, dass im Januar 2022 der Lette Roberts Zīle zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt werden konnte; Zīle gehört der ultrarechten lettischen Nacionālā apvienība „Visu Latvijai!“ – „Tēvzemei un Brīvībai/LNNK“ (Nationale Vereinigung „Alles für Lettland“ – „Für Vaterland und Freiheit/Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“) an, die ihrerseits bei den ECR organisiert ist. Im Mai 2023 rief Italiens Außenminister Antonio Tajani, dessen Partei Forza Italia der EVP angehört, dazu auf, den EVP-ECR-Dialog auch nach der Europawahl 2024 fortzusetzen. In der italienischen Regierung unter Ministerpräsidentin Meloni ist der „Dialog“ längst institutionalisiert, da Melonis Fratelli d’Italia eine führende Rolle innerhalb der ECR innehaben.[4]
Beobachter sprechen von einer systematischen Bewegung der EVP nach rechts.


Das Ende des cordon sanitaire

Meloni wiederum hat im vergangenen Jahr insbesondere im Rahmen der Flüchtlingsabwehr sehr eng mit von der Leyen kooperiert; sie reiste gemeinsam mit der Kommissionspräsidentin im Sommer 2023 nach Tunis [5] und kürzlich nach Kairo [6], um dort jeweils Deals zur Abschottung des Mittelmeers gegen Bootsflüchtlinge, die sie zuvor in die Wege geleitet hatte, zu unterzeichnen.
Von der Leyen hat sich im Februar erstmals klar zu möglichen Koalitionen nach ihrer wahrscheinlichen Wiederwahl geäußert. Dabei zog sie drei „rote Linien“: Sie werde lediglich mit Kräften kooperieren, die erstens „proeuropäisch“ seien, zweitens „den Rechtsstaat“ achteten und drittens die Ukraine unterstützten bzw. „gegen Putins Versuch“ kämpften, „Europa zu schwächen und zu spalten“.[7] Wie das Beispiel Meloni zeigt, schließt dies zumindest Teile der ECR ein. Während die polnische PiS sowie der ungarische Fidesz durch die Verweise auf den „Rechtsstaat“ bzw., im Fall des – zur Zeit fraktionslosen – Fidesz, auf die Unterstützung der Ukraine ausgeschlossen werden, ist das bei anderen ECR-Parteien nicht unbedingt der Fall. Unklar ist zudem, ob die Formel womöglich den RN einschließt, dessen Führung sich von Russland losgesagt hat und nicht mehr auf einen Austritt aus der EU orientiert. Tatsache ist jedenfalls, dass der cordon sanitaire, mit dem in Europa die extreme Rechte lange Zeit ausgeschlossen wurde, auch im Europaparlament zu bröckeln beginnt.


Hinweise

[1] Zitate hier und im Folgenden: Kevin Cunningham, Simon Hix, Susi Dennison, Imogen Learmonth: A sharp right turn: A forecast for the 2024 European Parliament elections. ecfr.eu 23.01.2024.

[2] Bei den neun Staaten, in denen Parteien der äußersten Rechten zur stärksten Kraft werden dürften, handelt es sich um Belgien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn.

[3] Bei den neun Staaten, in denen Parteien der äußersten Rechten zur zweit- oder drittstärksten Kraft werden dürften, handelt es sich um Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Portugal, Rumänien, Schweden und Spanien.

[4] Federica Pascale, Roberto Castaldi, Sonia Otfinowska: Italian FM says EPP-ECR dialogue should continue after EU elections. euractiv.com 12.05.2023.

[5] S. dazu Ab in die Wüste.

[6] S. dazu Geld gegen Flüchtlinge.

[7] Eleonora Vasques: Von der Leyen ponders conservatives parties joining centre-right in next EU Parliament. euractiv.com 22.02.2024.

 

Blutmineralien für Europas Energiewende

Fr, 22/03/2024 - 15:28

Eine der wichtigsten Fragen bei der Energiewende ist der Zugang zu Ressourcen.
Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Union ein Abkommen mit der Regierung Ruandas unterzeichnet, das darauf abzielt, "nachhaltige und widerstandsfähige" Wertschöpfungsketten für wichtige Rohstoffe zu fördern.

"Im Rahmen von Global Gateway, dem europäischen Investitionsprogramm für die Welt investieren die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten als 'Team Europa' mehr als 900 Mio. EUR in Ruanda. …. Investitionen in Bereichen wie Gesundheit, kritische Rohstoffe, Agrar- und Lebensmittelindustrie, Klimaresilienz und Bildung", heißt es in einer Erklärung der EU.
Was so neutral klingt, verschleiert, dass es im Kern um kritische Mineralien geht.

So heißt es denn auch in einer Presseerklärung der EU-Kommission:

"Das Land spielt eine maßgebliche Rolle bei der weltweiten Tantalgewinnung. aber auch für den Abbau von Zinn, Wolfram, Gold und Niob und hat Potenzial für weitere Rohstoffe wie Lithium und Seltene Erden. Darüber hinaus kann Ruanda aufgrund seines günstigem Investitionsklimas und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu einem Drehkreuz für die Wertschöpfung im Mineralsektor werden. Es gibt bereits eine Goldraffinerie und in Kürze wird auch eine Tantalraffinerie den Betrieb aufnehmen. Ruanda verfügt zudem über Afrikas einzige in Betrieb befindliche Zinnschmelzanlage.
Für die EU wird diese Partnerschaft dazu beitragen, eine nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen, insbesondere kritischen Rohstoffen, als wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele in den Bereichen grüne und saubere Energie sicherzustellen." [1]

Aus Sicht der Demokratischen Republik Kongo, die Ruanda beschuldigt, ihre Ressourcen zu stehlen und den Krieg in der Region Kivu anzuheizen, ist das Abkommen schlichtweg "unanständig".

Das Memorandum sieht eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und Ruanda in fünf Bereichen vor: Integration der Wertschöpfungsketten für kritische Mineralien, Zusammenarbeit bei der nachhaltigen und verantwortungsvollen Produktion dieser Rohstoffe, Forschung und Innovation im Bergbausektor, Stärkung der Kapazitäten lokaler Akteure zur Einhaltung von Vorschriften und Mobilisierung von Finanzmitteln für all dies. Innerhalb von sechs Monaten wird ein gemeinsamer Fahrplan zur Umsetzung dieser Partnerschaft entwickelt, der sich in die Global-Gateway-Strategie, die europäische Antwort auf Chinas neue Seidenstraße, einfügen wird.

Die Europäische Union hat ähnliche Abkommen mit anderen wichtigen mineralienproduzierenden afrikanischen Ländern geschlossen: Auf dem Global Gateway Forum im Oktober wurden ähnliche Abkommen mit Sambia und der Demokratischen Republik Kongo (DRK) und davor mit Namibia unterzeichnet.

Doch gerade die Demokratische Republik Kongo kann den neuen EU-Ruanda-Pakt nicht verdauen: Die kongolesische Regierung hat Ruanda stets beschuldigt, die Rebellen der M23-Gruppe zu unterstützen, zu finanzieren, zu bewaffnen und auszubilden. Diese operieren im Osten des Landes in einem der blutigsten, gewalttätigsten, komplexesten und scheinbar unlösbaren Konflikte der Welt. Im November 2021 übernahm die M23 die Kontrolle über weite Teile der Provinz Nord-Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo an der Grenze zu Ruanda. Dabei verübte sie schwere Menschenrechtsverletzungen und zwang mehr als 800.000 Menschen zur Flucht. UN-Berichte kommen zu dem Ergebnis, dass ruandische Streitkräfte sogar direkt und mit hochentwickelten Waffen in die Kämpfe verwickelt sind.

 Mit sehr deutlichen Worten hat der Erzbischof von Kinshasa, Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, das Abkommen der EU mit dem Nachbarland Ruanda kritisiert. Sein Heimatland Kongo werde ausgeplündert und von Krieg überzogen. Der EU warf Ambongo Doppelmoral vor.
"An der Energiewende klebt Blut"
Kardinal Fridolin Ambongo, Erzbischof von Kinshasa

"Die Europäische Union unterzeichnet ein Abkommen mit Ruanda über eine nachhaltige Zusammenarbeit beim Bergbau. Im Hinblick auf geplünderte Ressourcen in der Demokratischen Republik Kongo: Ist das nicht eine starke Unterstützung für den Aggressor? Ist das nicht eine parteiische Beurteilung zweier ähnlicher Dinge, die nach unterschiedlichen Regeln beurteilt werden?“
Mit diesen Worten wandte sich Kardinal Ambongo in seiner Sonntagspredigt vom 24. Februar in Kinshasa an die Verantwortlichen der Europäischen Union.

Kein Frieden ohne Ende des Raubbaus

"Aggressoren und multinationale Konzerne verbünden sich, um die Kontrolle über den Reichtum des Kongo zu erlangen, zum Nachteil und unter Missachtung der Würde der friedlichen kongolesischen Bürger, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurden", schloss Ambongo seine Predigt. Um Frieden für sein kriegsgebeuteltes Land zu erreichen, müsse der "schamlose Raubbau" aufhören. [2]

Abkommen ist Gipfel des Zynismus und der Doppelmoral

Während in Brüssel der ruandische Außenminister Biruta und die EU-Kommissarin für internationale Partnerschaften, Jutta Urpilainen, das Abkommen über ruandische Mineralien unterzeichneten, marschierten in Goma, der Hauptstadt der kongolesischen Provinz Nord-Kivu, die an der Grenze zu Ruanda liegt, kongolesischen Demonstranten, die in die Flagge ihres Landes gehüllt waren, und zertrampelten die Flaggen der USA, der EU, Frankreichs und Polens, die sie als "Komplizen Ruandas" bezeichneten.

Am Vortag hatte das französische Außenministerium an Ruanda appelliert, die Unterstützung der M23 einzustellen, und auch die Europäische Union hat Kigali wiederholt aufgefordert, alle Beziehungen zu den Rebellen abzubrechen und sich aus dem kongolesischen Gebiet zurückzuziehen.

In diesem Sinne entzieht sich das Bergbauabkommen jeglicher Logik der Kohärenz seitens der Europäischen Kommission.

"Ruanda ist heute auf Ressourcen aufgebaut, die aus der Demokratischen Republik Kongo gestohlen werden"

Felix Tshisekedi; Präsidenten der demokratischen Republik Kongo

Erschwerend kommen die Äußerungen des kongolesischen Präsidenten Felix Tshisekedi hinzu, der das Abkommen zwischen der EU und Ruanda als "unanständig" bezeichnete und schwere Anschuldigungen gegen Ruandas Nachbarn erhob: "Ruanda ist heute auf Ressourcen aufgebaut, die aus der Demokratischen Republik Kongo gestohlen werden", und die Mineralien in dem Abkommen mit Europa "sind gestohlene Produkte" aus der Demokratischen Republik Kongo.

"Die EU erreicht nicht nur den Gipfel des Zynismus in Bezug auf die Geostrategie, sondern zeigt einmal mehr eine Politik der Doppelmoral, die die Glaubwürdigkeit der internationalen Institutionen untergräbt", sagte der kongolesische Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, ein Gynäkologe, der in Bukavu auf der anderen Seite des Kivu-Sees in der Nähe von Goma arbeitet. Ein Gebiet, das seit Jahrzehnten von Konflikten geprägt ist. Das Abkommen, so Mukwege, stehe "in völligem Widerspruch zum Grundsatz der Kohärenz und zu den Grundwerten der EU, insbesondere zur Förderung des Friedens und der Menschenrechte", und er forderte Europa erneut auf, "für eine größere Kohärenz zwischen der Wirtschaftspolitik und der Achtung der Menschenrechte zu sorgen und die Menschenwürde in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen und finanziellen Belange zu stellen".

Hilfswerke fordern Sanktionen gegen Ruanda anstatt Abkommen

"Wie kann die Europäische Union ein Abkommen über die Nachhaltigkeit und Rückverfolgbarkeit strategischer Mineralien mit einem Land unterzeichnen, das diese gar nicht selbst produziert, sondern sie illegal aus einem Nachbarstaat bezieht?"

Dies fragen sich in einem gemeinsamen Statement acht Hilfswerke, darunter das Netzwerk "Rete Pace per il Congo", dem Missionare angehören, die in der Demokratischen Republik Kongo leben und arbeiten. Sie fordern die Annullierung des am 19. Februar unterzeichneten Protokollabkommen zwischen der EU und Ruanda. Das Abkommen war bereits von Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, dem Erzbischof von Kongos Hauptstadt Kinshasa, kritisiert worden.

"Ruanda ist nur dank der Kriege im Kongo zum Exporteur dieser Mineralien geworden“
gemeinsame Erklärung von acht Hilfswerken

"Es ist bedauerlich", so führen die Hilfswerke in ihrem Statement aus, "dass die EU in diesem Sinne in ein Land investiert, das nicht über nennenswerte Mengen dieser Mineralien verfügt. Ein Land, das nur dank der Kriege, die es seit 1996 in der Demokratischen Republik Kongo immer wieder angezettelt hat, zu einem wichtigen Exporteur dieser Mineralien geworden ist, und zwar durch verdeckt agierende Bewegungen, die in den letzten Jahren den Namen M23 angenommen haben."

"Aus dem Osten des Kongo fließen mit Unterstützung korrupter Beamter auf verschiedenen Ebenen seit Jahren die wertvollen Mineralien Gold, Coltan und Seltene Erden in großen Mengen nach Ruanda und in andere östliche Nachbarländer“, so die Hilfswerke weiter. Das sei jetzt noch einfacher geworden, weil die M23-Rebellen Gebiete gleich jenseits der Grenze zu Ruanda kontrollieren.
 

"Der Preis dafür sind Tote, Gewalt jeglicher Art, Raub des Eigentums einer Bevölkerung, deren einziger Fehler es ist, in einem begehrten Gebiet zu leben, und mehr als eine Million Vertriebene allein im Osten, die mitten in der Regenzeit in behelfsmäßigen Hütten elendiglich überleben oder sterben“, heißt es in dem Statement der Hilfswerke weiter. Die EU solle Sanktionen gegen Ruanda verhängen, "anstatt mit ihm Abkommen über die Früchte eines stattfindenden Raubes zu schließen". [3]

 


Anmerkungen

[1] EU-Kommission, 19. Februar 2024, Pressemitteilung: "EU und Ruanda unterzeichnen eine Vereinbarung über Wertschöpfungsketten für nachhaltige Rohstoffe"
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_24_822

[2] Vatikan, 28.2.2024: "Kardinal Ambongo: Der Kongo wird ausgeplündert"
https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2024-02/kardinal-ambongo-der-kongo-wird-ausgepluendert.html 

[3] Rete Pace per il Congo, 7.3.2024: "Comunicato di IPC sull’accordo UE-Rwanda su minerali strategici"
https://www.paceperilcongo.it/2024/03/comunicato-a-proposito-del-protocollo-ue-rwanda-firmato-il-19-febbraio-2024/ 

 

Zinserträge russischer Staataguthaben - „Erträge, die niemandem zustehen“

Fr, 22/03/2024 - 08:23

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz befürwortet die Konfiskation von Zinserträgen russischer Staatsguthaben in der EU. Experten stufen dies als klar völkerrechtswidrig ein und warnen, andere Staaten, etwa China, könnten ihr Vermögen aus der EU abziehen.


Die Bundesregierung treibt die EU-Pläne zur Beschlagnahmung von Geldern der russischen Zentralbank voran. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich auf dem EU-Gipfel am gestrigen Donnerstag in Brüssel dafür aus, die Zinsen, die das Finanzinstitut auf seine in der EU eingefrorenen Guthaben erhält, zu konfiszieren und das Geld vor allem in Munition und Waffen für die Ukraine zu investieren.
Den Vorschlag hatten am Mittwoch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Außenbeauftragte Josep Borrell offiziell vorgelegt. Bei den Zinsen handele es sich um „Erträge, die niemandem zustehen“ und die man deshalb abgreifen dürfe, behauptete Scholz. Bis 2027 könnten in Abhängigkeit von der Zinsentwicklung 15 bis 20 Milliarden Euro auflaufen. Wirtschafts- und Finanzkreise warnen eindringlich, die Maßnahme breche die Staatenimmunität und sei deshalb klar völkerrechtswidrig. Konfisziere man russische Zinserträge, dann könnten zudem Finanzinstitute und Konzerne etwa aus China, aber auch aus anderen Ländern beginnen, ihr Vermögen aus der EU abzuziehen, weil es dort nicht mehr als sicher gelte, heißt es. Nicht zuletzt sei mit russischen Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen.

Russlands eingefrorene Guthaben

Der Vorschlag, die in der EU eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank zu nutzen, um der Ukraine zusätzliche Gelder zukommen zu lassen, wird bereits seit langem diskutiert. Die Guthaben belaufen sich insgesamt auf rund 210 Milliarden Euro; rund 190 Milliarden davon liegen bei Euroclear, einem Finanzinstitut mit Sitz in Brüssel, das auch als Verwahrstelle für Wertpapiere fungiert.
Von dem Gedanken, die Guthaben umstandslos zu konfiszieren, um aus ihnen zum Beispiel den Wiederaufbau der Ukraine zu bezahlen, nimmt die EU bislang Abstand.
Zum einen bräche eine Beschlagnahmung russischer Staatsgelder mit dem Prinzip der Staatenimmunität und wäre daher völkerrechtswidrig.
Zum anderen müsste mit Vergeltungsmaßnahmen seitens Moskaus gerechnet werden; Guthaben deutscher Staatsstellen oder auch deutscher Unternehmen in Russland gerieten in Gefahr.
Es kommt hinzu, dass die EU für staatliche Stellen oder auch für Privatunternehmen aus Drittstaaten in Zukunft nicht mehr als sicherer Investitionsstandort gälte, wenn Brüssel sich in einem Präzedenzfall Zugriff auf auswärtiges Eigentum verschafft.

Gelder beispielsweise aus China, aber etwa auch aus den arabischen Golfstaaten könnten, um politisch bedingte Risiken zu vermeiden, aus der EU abgezogen werden – zum Nachteil der Union.

„Zufallsgewinne“

Am Mittwoch hat die EU nun einen Plan vorgelegt, der eine Alternative zu einer kompletten Beschlagnahmung der russischen Staatsguthaben vorsieht. Demnach sollen lediglich die Zinserträge der Guthaben konfisziert und der Ukraine zugeleitet werden. Euroclear zufolge beliefen sich die Zinsen im vergangenen Jahr auf 4,4 Milliarden Euro.[1] Bis 2027 könnten je nach Zinsentwicklung insgesamt 15 bis 20 Milliarden Euro anfallen, heißt es. Brüssel erklärt die Zinserträge nun freihändig zu „Zufallsgewinnen“, die angeblich abgeschöpft werden dürfen.[2]

Kanzler Scholz behauptete auf dem EU-Gipfel am 20. März d.J., es gehe um „Erträge, die niemandem zustehen und die deshalb von der Europäischen Union verwendet werden können“.[3]

Die Kommission will 10 Prozent der Zinsen bei Euroclear belassen, um dem Finanzkonzern ein Finanzpolster für die zu erwartenden Gerichtsverfahren zu gewähren. Weitere 3 Prozent darf Euroclear als sogenannte Bearbeitungsgebühr kassieren. 87 Prozent der Zinserträge sollen dann an die Ukraine fließen.
Die Kommission will neun Zehntel davon in die „Europäische Friedensfazilität“ stecken, aus der Munition wie auch Waffen für Kiew bezahlt werden. Ein Zehntel soll über den EU-Haushalt in den Aufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie investiert werden.[4]


Risiken und Nebenwirkungen

Wirtschafts- und Finanzkreise warnen vor dem Schritt, den gestern die EU-Staats- und Regierungschefs weithin positiv beurteilt haben und den sie nach einer Prüfung durch ihre Juristen in aller Form beschließen könnten.
Die Europäische Zentralbank (EZB) etwa hält es für denkbar, dass Finanzinstitute insbesondere aus China, womöglich aber auch aus anderen Staaten nun ihre Vermögen von Euroclear abziehen.
Dies würde nicht nur die Marktmacht des belgischen Finanzkonzerns schwächen, heißt es; im Extremfall könne er sogar ins Wanken geraten. Selbst eine Kettenreaktion, etwa ein fluchtartiger Abzug in Euro gehaltener Währungsreserven, sei nicht auszuschließen; das könne schlimmstenfalls „das europäische Finanzsystem destabilisieren“.[5] Aber auch wenn der Extremfall nicht eintrete, könne die Maßnahme „das Vertrauen der Märkte in den Euro untergraben“. Um dies zu verhindern, sei es dringend nötig, eine „solide rechtliche Basis“ für die Beschlagnahmung der Zinsen vorzutragen und jeden „Eindruck einer willkürlichen Enteignung“ unbedingt zu vermeiden. Allerdings erschließt sich kaum, wieso Finanzinstitute, die Milliardensummen in der EU angelegt haben oder die darüber nachdenken, dies zu tun, so naiv sein sollen zu glauben, die EU gehe auch in Zukunft bloß gegen Russland und ganz gewiss gegen keinen einzigen anderen Staat vor.

Gegenmaßnahmen

Es kommt hinzu, dass Russland Gegenmaßnahmen bereits angekündigt hat. Schon am Mittwoch bezeichnete die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, eine mögliche Konfiskation der Zinserträge als „Banditentum und Diebstahl“. Der Sprecher des russischen Präsidialamtes, Dmitri Peskow, äußerte, „die Europäer“ sollten sich „des Schadens bewusst sein, den solche Entscheidungen ihrer Wirtschaft, ihrem Image und ihrem Ruf als zuverlässige Garanten der Unverletzlichkeit des Eigentums zufügen können“.[6] Peskow deutete an, Moskau werde sich auf gerichtlichem Weg gegen die Maßnahmen zur Wehr setzen; die Verantwortlichen müssten „viele Jahrzehnte“ lang mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.[6] Darüber hinaus könnte Moskau konkrete Vergeltungsmaßnahmen in die Wege leiten. Denkbar sei etwa, dass russische Stellen im Gegenzug Vermögen von Euroclear beschlagnahmten, heißt es; Berichten zufolge hat Euroclear nahezu 33 Milliarden Euro in Russland liegen.[7] Zudem sei nicht auszuschließen, dass Moskau dazu übergehe, Unternehmen aus EU-Staaten, die weiterhin in Russland tätig seien – das ist für diverse Firmen trotz der Sanktionen unverändert ganz legal möglich –, mit Zwangsenteignungen zu überziehen. Im Fall einer Eskalation drohten enorme Schäden.

Nur ein erster Schritt

Trotz aller Risiken dringen zum Beispiel die USA, aber auch deutsche Politiker darauf, die Maßnahmen auszuweiten und perspektivisch sämtliche Guthaben der russischen Zentralbank zu enteignen. So ließ sich am Montag US-Außenminister Antony Blinken zum Treffen der EU-Außenminister per Video hinzuschalten – Berichten zufolge, um „den Druck auf die Europäer zu erhöhen“, die gesamten eingefrorenen russischen Staatsgelder an die Ukraine zu transferieren.[8] Anfang Februar forderte auch die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt: „Wenn in einem ersten Schritt die [Zins-, d.Red.] Erträge freigegeben sind, sollten wir uns auch das Vermögen selbst ansehen.“ Es gebe zwar „rechtliche Fragen“, äußerte sie mit Blick auf Grundelemente des internationalen Rechts wie die Staatenimmunität. „Aber die müssen mit dem Ziel geprüft werden, das Vermögen am Ende für die Ukraine freizugeben.“[9] Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.

 

[1] Zinsgewinne für Militärhilfe? tagesschau.de 21.03.2024.

[2] Wie die EU-Kommission mit Zinserträgen der Ukraine helfen will. deutschlandfunk.de 20.03.2024.

[3] Staats- und Regierungschefs beraten über Nutzung von Zinsgewinnen von eingefrorenen russischen Vermögen. deutschlandfunk.de 21.03.2024.

[4] Jakob Mayr: EU will russisches Vermögen indirekt für Kiew nutzen. tagesschau.de 20.03.2024.

[5] Moritz Koch, Carsten Volkery: EU will russische Sondergewinne für Waffenhilfen an Kiew nutzen. handelsblatt.com 19.03.2024.

[6] Russisches Vermögen für Waffenkäufe: Russland droht EU mit strafrechtlicher Verfolgung. diepresse.com 20.03.2024.

[7] Bernd Riegert: EU: Russische Zinsen für ukrainische Waffen. dw.com 20.03.2024.

[8] Moritz Koch, Carsten Volkery: EU will russische Sondergewinne für Waffenhilfen an Kiew nutzen. handelsblatt.com 19.03.2024.

[9] „Der Moment ist jetzt“. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 04.02.2024.

 

Profite: Margen und Preise

Mo, 18/03/2024 - 13:28

Die Profit-Spannen der US-Unternehmen befinden sich auf einem Rekordhoch, obwohl sich die Preisinflation verlangsamt und die Löhne steigen.


Betrachtet man die gesamte US-Wirtschaft, so sind die Profit-Spannen des Nicht-Finanzsektors auf dem höchsten Stand des 21. Jahrhunderts (über 16 %) und nicht weit entfernt von den Rekordwerten des "goldenen Zeitalters" des kapitalistischen Wachstums Mitte der 1960er Jahre.


Und ein Blick auf die Netto-Profit-Spannen (d. h. nach Abzug aller Produktionsstückkosten) der 500 größten Unternehmen in den USA zeigt dasselbe Bild.

Es gibt erdrückende Beweise dafür, dass die Inflationsspirale nach der Einführung des COVID es vielen Unternehmen ermöglichte, die Preise für ihre Produkte erheblich anzuheben, so dass die Profit-Spannen stark anstiegen, weil die Lohnerhöhungen nicht mit den Preissteigerungen Schritt hielten.  Die Inflation hat sich in den Lebensstandard der meisten amerikanischen Haushalte eingefressen, nicht aber in die Profit-Spannen der US-amerikanischen Multis und Megafirmen.

Seit Ende 2019 sind die Preise in den USA um 17 % gestiegen, und zwar stärker als die Arbeits- und Nichtarbeitskosten. Das Ergebnis: Die Profite stiegen um 41 %. Wären die Profite  in gleichem Maße wie die Kosten gestiegen, hätte dies zu einem kumulativen Preisanstieg von nur 12,5 % und einer durchschnittlichen jährlichen Inflationsrate geführt, die um etwa 1 Prozentpunkt niedriger gewesen wäre.

Jüngste Untersuchungen haben jedoch bestätigt, dass der Anstieg der Gewinnspannen der Unternehmen "hauptsächlich von einer Untergruppe von Unternehmen mit hohen Gewinnspannen getragen wird".  Die inzwischen wohlbekannte Weber-Wasner-These zur gewinngetriebenen Inflation besagt, dass Engpässe in der Lieferkette den Wettbewerb einschränkten, da einige Unternehmen nicht in der Lage waren, die Nachfrage zu bedienen.  Dies ermöglichte es einigen Unternehmen, ihre Gewinnspannen und Preise zu erhöhen.  Eine Studie der Bank of England ergab, dass die Gewinne zwar nominal stark gestiegen sind. Aber die Kosten stiegen auch. Die Studie kam zu dem Schluss, dass sich die Gewinnspannen außer in den Bereichen Öl, Gas und Bergbau bis zum Jahr 2022 ziemlich normal verhalten. Eine andere Studie des IWF, die sich mit der Eurozone befasst, kommt zu dem Schluss, dass die begrenzten verfügbaren Daten nicht auf einen weit verbreiteten Anstieg der Gewinnspannen hindeuten".  Die profitorientierte Inflation scheint sich stark auf einige wenige Unternehmen und einige wenige "systemrelevante" Sektoren konzentriert zu haben, darunter die Rohstoffindustrie, das verarbeitende Gewerbe sowie der IT- und Finanzsektor.

Dennoch sind die Ökonomen von Goldman Sachs begeistert von der Aussicht, dass die Gewinnspannen weiter steigen werden.  Sie gehen davon aus, dass, obwohl die Durchschnittslöhne derzeit schneller steigen als die Preise, dies die Gewinnspannen nicht beeinträchtigen wird, da mit der Verlangsamung der Inflation auch die Zinssätze (letztendlich) sinken werden und somit die Kosten für den Schuldendienst sinken werden, um einen etwaigen Druck auf die Gewinne durch die Löhne auszugleichen.

Tatsächlich rechnet FactSet, ein Unternehmen, das die Gewinne der 500 größten US-Unternehmen überwacht, für das erste Quartal 2024 mit einer Nettogewinnspanne von 11,5 %, was über der Nettogewinnspanne des vorangegangenen Quartals von 11,2 % liegt und dem Fünfjahresdurchschnitt von 11,5 % entspricht, wobei sieben Sektoren im ersten Quartal 2024 Nettogewinnspannen melden dürften, die über ihrem Fünfjahresdurchschnitt liegen, angeführt vom Sektor Informationstechnologie (25,1 % gegenüber 23,3 %).

Goldman Sachs kommt zu dem Schluss, dass die US-Wirtschaft für 2024 gut aufgestellt ist, da die Gewinnspannen weiterhin stabil bleiben, mehr Investitionen generieren und die Beschäftigung erhalten werden.  Doch während der Technologiesektor mit seinen hohen Gewinnspannen und Gewinnen den Aktienmarkt stützt und den Eindruck eines weit verbreiteten Gewinnsprungs vermittelt, befindet sich der übrige Unternehmenssektor in den USA in einer Flaute.  In den meisten Sektoren sind die Gewinnspannen knapp.

Und, was am wichtigsten ist, es gibt hier eine Definitionsfrage.  Profit-Spannen sind nicht dasselbe wie Profite. Profit-Spannen sind die Differenz zwischen dem Preis pro verkaufter Einheit und den Kosten pro Einheit.  Die Rentabilität des Kapitals sollte jedoch an den Gesamtgewinnen im Verhältnis zu den Gesamtkosten für Anlagevermögen (Anlagen, Maschinen, Technologie), Rohstoffe und Löhne gemessen werden.  Nach diesem Maßstab weisen die übrigen US-Unternehmen - abgesehen von den "glorreichen Sieben" der US-Mega-Tech- und Social-Media-Unternehmen sowie der Energieunternehmen - eine geringe Rentabilität ihres Kapitals auf.  Es wird geschätzt, dass 50 % der börsennotierten US-Unternehmen unrentabel sind.

Und wenn wir die durchschnittliche Profitrate des US-Kapitals im Nicht-Finanzsektor berechnen, stellen wir fest, dass seit 2012 ein allgemeiner Rückgang zu verzeichnen ist (meine Schätzung für 2023).

Quelle: FRED, Berechnungen des Autors (auf Anfrage)

Die Profit-Margen mögen hoch sein, aber die gesamten Unternehmens-Profite des US-Nichtfinanzsektors sind im letzten Quartal 2023 gesunken, und im letzten Jahr ist das gesamte Profitwachstum fast zum Stillstand gekommen.

Und auch das Wachstum der Gesamt-Profite (nicht der Profit-Spannen) der 500 größten US-Unternehmen verlangsamt sich.  FactSet prognostiziert für das erste Quartal 2024 einen Profit-Anstieg von nur 3,3 %, gegenüber fast 6 % im Jahr 2023.

Das erklärt, warum 2024 mehr Unternehmen ihre Schulden nicht begleichen konnten als zu jedem anderen Jahresbeginn seit der globalen Finanzkrise, da der Inflationsdruck und die hohen Zinssätze laut S&P Global Ratings weiterhin auf den riskantesten Schuldnern der Welt lasten. Laut der Rating-Agentur liegt die Zahl der Unternehmensausfälle in diesem Jahr weltweit bei 29 und damit so hoch wie seit 2009 nicht mehr, als im gleichen Zeitraum 36 Ausfälle verzeichnet wurden.

 

Goldmans ist nach wie vor zuversichtlich, dass sich die Ausfallraten aufgrund der verbesserten makroökonomischen Aussichten und der Hoffnung auf sinkende Zinssätze in der zweiten Jahreshälfte stabilisieren werden.  Die Ratingagentur Moody's ist nicht so zuversichtlich.  Sie geht davon aus, dass die weltweite Ausfallquote für spekulative Anleihen bis 2024 weiter ansteigen wird und damit deutlich über dem historischen Durchschnitt liegt. 

Nicht zu vergessen sind die "Zombies", Unternehmen, die ihren Schuldendienst schon jetzt nicht mehr aus den Profiten bestreiten können und deshalb nicht investieren oder expandieren können, sondern wie die lebenden Toten weitermachen.  Sie haben sich vervielfacht und überleben bisher, indem sie mehr Kredite aufnehmen - und sind daher anfällig für hohe Kreditzinsen.

Für die Zukunft wird erwartet, dass sich der Anstieg des realen BIP in den USA nach fast allen Prognosen von 2,5 % im letzten Jahr verlangsamen wird (und dieses Maß ist immer noch zweifelhaft, wenn wir das reale BIP mit dem realen Bruttoinlandseinkommen (BDI) vergleichen).

Die Nowcast-Prognose der New Yorker Fed geht von einem annualisierten Wachstum von 1,78 % für das gerade zu Ende gehende erste Quartal 2024 aus.  Und die Nowcast-Prognose der Atlanta Fed für das BIP liegt bei 2,2 %.  Die Konsensprognosen liegen bei 2 %. Dies deutet darauf hin, dass sich das Wachstum der Unternehmenseinnahmen weiter verlangsamen könnte, was zu einem Rückgang der Profite im ersten Quartal führen würde.

Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass in einer kapitalistischen Wirtschaft die Profite die Investitionen und dann die Beschäftigung anführen.  Wo Profite vorangehen, folgen Investitionen und Beschäftigung mit Verzögerung.

Die Rentabilität ist gegenüber dem Niveau vor der Pandemie gesunken, und auch das Wachstum der Profite insgesamt ist nicht mehr gestiegen.  Dies wirkt sich bereits auf das Investitionswachstum und die Beschäftigung aus. Steigende Margen lassen dies nicht erkennen.

               

 

 

 

 

Aktienrente: Unwirksam, unsicher und ein Risiko für die Staatsfinanzen

So, 17/03/2024 - 11:56

"Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt."  

 

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) präsentierten am 5. März ein Reformpaket, mit dem das Rentenniveau von 48 Prozent des aktuellen Durchschnittsgehalts für Rentner:innen, die 45 Jahre mit Durchschnittsgehalt gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, auch für die Zukunft garantiert werden soll.

Kürzungen bei der Rente schloss Bundeskanzler Olaf Scholz aus. "Für mich kommen Kürzungen bei der Rente nicht in Betracht", sagte der SPD-Politiker. Scholz kritisierte Vorschläge zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre und Forderungen nach Renten-Null-Runden. Heil versprach: "Es wird keine Rentenkürzung geben und auch keine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters."

Noch ist das Absicherungsniveau der Rente – aktuell rund 48,2 Prozent – nur bis 2025 festgeschrieben. Bis 2037 dürfte das Rentenniveau nach offizieller Schätzung aber auf 45 Prozent sinken. Der Grund: Millionen Babyboomer:innen mit Geburtsjahren in den 1950er und 1960er Jahren werden in den Ruhestand gehen. Nun soll ein 48-Prozent-Niveau zunächst bis 2040 gesichert werden. Das Reformpaket solle noch vor der parlamentarischen Sommerpause im Juli vom Bundestag beschlossen werden. (1)

Weil das hohe zusätzliche Milliardensummen kostet, die Rentenbeiträge aber nicht zu stark steigen sollen, soll die Finanzierung auf ein zusätzliches Standbein gestellt werden. Um Beitragssprünge in Zukunft zu vermeiden, will die Bundesregierung Milliarden am Kapitalmarkt anlegen und aus den Erträgen ab Mitte der 2030er-Jahre Zuschüsse an die Rentenversicherung zahlen. Damit erhält die Rentenversicherung zusätzlich zu Beiträgen und Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt eine dritte Finanzierungsquelle.

Finanzminister Christian Lindner sprach bei der Vorstellung des Rentenpakets davon, dass es "überfällig" sei, "die Chancen der Kapitalmärkte auch für die gesetzliche Rentenversicherung zu nutzen". Da will sich Christian Lindner sogar ausnahmsweise verschulden - nicht für große Investitionen in Deutschlands Infrastruktur oder Bildung, sondern um das Geld an den Finanzmärkten anzulegen.

Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen

Das schon immer verfolgte Ziel der Liberalen ist, das kollektive Sicherungssystem zu schwächen und dafür möglichst viel private Elemente zu schaffen, wie eben eine Aktienrente und mehr private Altersvorsorge.

Ein besonderer Dorn im Auge der FDP ist das Umlageverfahren, mit dem die gesetzliche Rente (genauso wie die anderen Zweige der Sozialversicherung) finanziert wird. Denn was die Beschäftigte und Unternehmen an Beiträgen einzahlen, wird nahezu ohne Zeitverzug in Form von Renten an die mehr als 21 Millionen Rentner:innen ausgezahlt. Inklusive des Bundesanteils wurden so im Jahr 2023 rund 375 Milliarden Euro ein- und ausgezahlt oder eben "umgelegt". Grundsätzlich wird nichts im klassischen Sinne angespart und angelegt. Die Befürworter des Umlageverfahrens sehen darin große Vorteile: Es funktioniert unabhängig von der Höhe der Kapitalmarktzinsen. Niedrig- oder gar Nullzinsen, wie sie in den vergangenen Jahren den Lebensversicherungen stark zu schaffen machten, sind kein Problem. Auch Inflation, Wirtschaftskrisen, ja sogar staatliche Umbrüche verkraftet die gesetzliche Rente in der Regel gut. Und sie funktioniert naturgemäß ohne langjährige Ansparphase und mit geringen Kosten in von ungefähr vier Prozent.

Zum Vergleich: Zum Betrieb der Riester-Rente werden bis zu 25 Prozent der eingezahlten Prämien abgezweigt. Wenn diese Betriebskosten ausgeglichen werden sollten, müsste die Rendite schon ausgesprochen hoch sein. Das gilt auch für die jetzt wieder vorgeschlagenen Methode, die "Aktienrente".

Die Aktienrente ist ein Lieblingsprojekt der Liberalen, das gegen den Widerstand insbesondere der linken Sozialdemokraten Eingang in den Koalitionsvertrag fand. In ihrem Wahlprogramm forderte die FDP, dass zwei Prozentpunkte aus dem Rentenbeitragssatz in Höhe von 18,6 Prozent des Bruttolohns der Beschäftigten nicht mehr länger an die Deutsche Rentenversicherung fließen sollen, sondern an einen unabhängigen Fonds gehen, der die Gelder "chancenorientiert" in Aktien investiert. "Durch unser Modell erwerben zukünftig alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler (…) echtes Eigentum für ihre Altersvorsorge und erhalten höhere Altersrenten", verspricht die FDP.

Dieses Ziel hat die FDP verfehlt. Zwar wird der Bundestag wohl noch in diesem Sommer eine Reform der Alterssicherung beschließen, die den Namen "Aktienrente" oder auch "Generationenkapital" trägt, doch der Gesetzentwurf, den Finanzminister Lindner und Sozialminister Heil jetzt gemeinsam vorlegen werden, bleibt deutlich hinter den Wünschen der FDP zurück.

Aber für eine Stabilisierung der Rentenfinanzen taugt der Vorschlag der Ampel wenig. Er wird die Renten nicht erhöhen, die Beiträge wenn überhaupt nur marginal senken und dafür mit Sicherheit die Schulden erhöhen.

Die Akteinrente wird auf Pump finanziert

Anders als es die FDP ursprünglich vorhatte, werden keine Beitragsgelder verwendet und es wird auch kein persönliches Vermögen für einzelne Versicherte in Form von Aktien oder Aktienfonds gebildet. Stattdessen wird der Bund Schulden machen, die nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden. In diesem Jahr sind das erst einmal 12 Milliarden Euro, in den kommenden Jahren soll es jeweils etwas mehr werden. Lindner stellt sich auch vor, Beteiligungen des deutschen Staates an Unternehmen (wie etwa der Deutschen Bahn) in den Fonds zu überführen. Insgesamt sollen so 2035 mindestens 200 Milliarden Euro in Aktien und Fonds angelegt werden. Aus den Erträgen am Aktienmarkt sollen dann ab 2036 jährlich zehn Milliarden Euro an die gesetzliche Rentenversicherung fließen, um Beitragssatzanstiege zu verhindern oder zu dämpfen.

"Deutlich wird: Es dauert zunächst viele Jahre, bis eine kapitalgedeckte Anlage eine Wirkung entfalten kann, und sei sie noch so klein. In den nächsten zehn Jahren, wenn Millionen sogenannter Babyboomer in Rente gehen werden, kann und wird die Aktienrente also nichts bewirken", kritisiert der Rentenexperte Holger Balodis. (1)

Nach Lindners Konzept soll die Aktienrente vom KENFO verwaltet werden – dem öffentlichen Fonds, der bisher vor allem damit betraut war, die Entsorgung von Atommüll zu finanzieren. Nun soll sich dieser Fonds auch um die Rentenbeiträge kümmern, indem er für die Renten am Finanzmarkt spekuliert. Aktuell hat er das Ziel, zu 30 Prozent in "Private Equity, Private Debt und Infrastruktur" zu investieren.

Neben dem Fonds soll auch der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglicht werden, ihre Reserven auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Staatliche Geldtöpfe sollen also in größerem Umfang auf den Finanzmarkt umgeleitet werden.

Bei der Aktienrente handelt es sich um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Holger Balodis.(2)

Finanzmärkte sind immer volatil und spekulativ - deshalb sahen vor allem die Grünen die Pläne zunächst skeptisch. Der Grünen-Rentenexperte Markus Kurth brachte im vergangenen Sommer das Beispiel des bereits existierenden Staatsfonds zur Finanzierung der Atommüll-Entsorgung (KENFO), der sich künftig auch um die Rente kümmern soll. Dieser Fonds habe 2022 einen Verlust von 12,2 Prozent eingefahren.

Finanzminister Lindner hat deshalb mehrfach klargestellt, dass die Rentenversicherung kein Risiko tragen solle. Falls Verluste anfallen, wolle der Staat Geld nachschießen. Es handelt sich also um ein kreditfinanziertes Spekulationsgeschäft, für das der Bund das Ausfallrisiko trägt.

Nach 2036, wenn ein Kapitalstock von 200 Milliarden erreicht ist, sollen die Erträge aus Kursgewinnen, Dividenden etc. planmäßig zugunsten einer Beitragsstabilisierung abgeschöpft werden. Das heißt der Wert des Kapitalstocks wird nicht mehr wachsen, ist aber stattdessen beständig von der Inflation bedroht. "Sollte ein Sparvolumen von 200 Milliarden Euro auf eine Geldentwertung von 10 Prozent treffen, wie wir sie in weiten Teilen der Welt in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, so würde sich sein Wert bereits nach wenigen Jahren halbieren", warnt Holger Balodis.

Da der Staat für den Aufbau des Kapitalstocks Kredite an den Kapitalmärkten, d.h. bei Finanzinvestoren und Großbanken, aufnimmt, muss er für diese Fremdfinanzierung Zinsen zahlen. Somit handelt es sich bei der neuen Aktienrente um eine Wette, die darauf baut, dass die Rendite aus der Anlage stets höher ist als der Zins, den der Staat für das aufgenommene Darlehen leisten muss.

Dazu kommt das Risiko, dass Aktien- und Finanzmärkte abstürzen, es also keinen Ertrag aus dem "Generationenkapital" gibt, sondern Verluste. Es gäbe nicht nur keine Zuschüsse für die Rentenkasse, auch der Wert des Kapitalstocks selbst würde sinken. Dann müsste der Staat für die Verluste geradestehen, um für das Folgejahr wieder die Voraussetzungen für die planmäßige Entnahme sicher zu stellen. "Statt wie behauptet mehr Sicherheit für die Rentenkasse, drohen mit der Aktienrente also in schlechten Börsenjahren gewaltige finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt", stellt Holger Balodis fest.

Fachleute gehen auch davon aus, dass die Effekte des "Generationenkapitals" gering ausfallen werden. Denn auch bei den guten Renditen, von denen die Bundesregierung voller Optimismus ausgeht, würde der Beitrag um gerade einmal 0,23 bis 0,3 Beitragssatzpunkte sinken. Die Plattform "Finanztip" hat eine Beispielrechnung gemacht. Danach würde diese Senkung bei einem Bruttoarbeitslohn von 3.000 € zu einer Entlastung um gerade einmal 4,50 Euro im Monat jeweils für Beschäftigte und Unternehmen führen.

Eine echte Stabilisierung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente ist also durch die Einführung der Aktienrente nicht zu erwarten. Vor allem gilt: Immer müssen die Leistungen für die Rentnergeneration von der arbeitenden Generation aufgebracht werden.

Aber anstatt gute Arbeit mit guten Löhnen und damit hohen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleisten, wird ein Grundpfeiler des Sozialstaats – die gesetzliche Rentenversorgung – für die Profitlogik der Finanzmärkte geöffnet.

Zudem ist zu befürchten, dass das Generationenkapital in Zukunft noch zu einer "richtigen" Aktienrente ausgeweitet wird. Denn das jetzt verabschiedete Modell ist nur eine abgeschwächte Form des FDP-Vorschlags. Der FDP schwebt nach wie vor vor, dass zukünftig unsere Rentenbeiträge direkt an den Finanzmarkt fließen sollen.

Julia Bernard schreibt in der Zeitschrift Jacobin:

"Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen."

"Die Logik der Aktienrente ist völlig verkehrt. Denn sie impliziert, man könne mit Aktienbesitz gesellschaftlichen Wohlstand fördern. Dabei hängen die Renten in Wirklichkeit davon ab, wie produktiv wir sind, wie viel gut bezahlte Arbeit es gibt und wie viel wir auf Grundlage dessen real umverteilen können.
Die eigentliche Frage ist nämlich: Warum sind unsere Rentenkassen eigentlich so leer? Warum sorgen wir nicht auf viel direkterem Wege für eine gute Rente – nämlich durch gut bezahlte Arbeit? Warum stecken wir die 12 Milliarden Euro nicht einfach in Bildung und gute, klimagerechte Arbeitsplätze? Bessere Arbeit würde schließlich auch dafür sorgen, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite mehr in die Rentenkasse einzahlen.
Was eine gute Rente ermöglicht, sind gute und vor allem gut bezahlte Jobs. Umwege über die Finanzmärkte zu gehen, ist reiner Klassenkampf für Finanzinvestorinnen und -investoren. Auch die Aktienrente zeigt es wieder: Der gesellschaftliche und vor allem gewerkschaftliche Einsatz für gute und nachhaltige Arbeit muss unser aller Priorität sein – auch um die Rentenfrage zu lösen." (3)

 

Quellenhinweise

Siehe hierzu die Vorschläge des Sachverständigenrates zur Rentenkürzung , in: isw-wirtschaftsinfo 64, Bilanz 2023, „ Die Planungen zum Rentenabbau gehen weiter“,, https://www.isw-muenchen.de/broschueren/wirtschaftsinfos/217-wirtschaftsinfo-64

Rosa Luxemburg Stiftung, 6.3.2024: Die neue «Aktienrente»: weitgehend nutzlos. Der Kapitalmarkt rettet die gesetzliche Rente nicht
https://www.rosalux.de/news/id/50118

Jacobin, 5.2.2024: Die Aktienrente macht Spekulation zur Staatsräson
https://jacobin.de/artikel/aktienrente-generationenkapital-spekulation

 

 

 

 

 

 

Rüstungstreiber Europa

Mi, 13/03/2024 - 07:55

Europa verdoppelt Rüstungsimporte und ist globaler Treiber bei der Militarisierung. Im Rüstungsexport dominieren die USA – auch den europäischen Markt, zum Nutzen deutscher Konzerne und zu Lasten Frankreichs.



Die Staaten Europas haben ihre Rüstungsimporte im vergangenen Fünfjahreszeitraum nahezu verdoppelt und treiben damit die Militarisierung weltweit an vorderster Stelle voran.
Dies geht aus aktuellen Statistiken des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI hervor.

Demnach sind in allen Großregionen weltweit von Afrika über den Mittleren Osten bis Südostasien die Waffeneinfuhren zuletzt teils deutlich zurückgegangen – nur in Europa schnellten sie um 94 Prozent in die Höhe. SIPRI misst in Fünfjahreszeiträumen, um Schwankungen auszugleichen, die in der Rüstungsbranche beim Kauf besonders teurer Waffen – Kampfjets, Kriegsschiffe – regelmäßig entstehen. Größter Rüstungsexporteur sind die Vereinigten Staaten, die ihren Anteil am Weltmarkt auf 42 Prozent ausbauen konnten; die Bundesrepublik liegt auf der Weltrangliste derzeit auf Platz fünf. Während die USA mehr als die Hälfte der europäischen Rüstungseinfuhren abdecken und nun auch europäische Konzerne – etwa Rheinmetall – in ihre Fertigungsketten einbinden, hält Frankreich in Europa einen Marktanteil von nicht einmal fünf Prozent und ist auf Ausfuhren in den Mittleren Osten und nach Asien angewiesen.

Globaler Rückgang im Waffenhandel

Der globale Waffenhandel lag im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 schon um fast die Hälfte über dem Wert zur Jahrtausendwende; er hatte seinen Wert aus den letzten Jahren des Kalten Kriegs zu knapp drei Vierteln wieder erreicht. Gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor (2014 bis 2018) ging er allerdings leicht um rund 3,3 Prozent zurück – dies, weil die Rüstungseinfuhren in allen Großregionen mit Ausnahme von Europa schrumpften.[1] So gingen die Waffenimporte in Nord- und Südamerika um 7,2 Prozent, in Asien und der Pazifikregion um 12 Prozent, im Nahen und Mittleren Osten ebenfalls um 12 Prozent sowie in Afrika um 52 Prozent zurück. Gegenläufig dazu wuchsen die Käufe von Kriegsgerät vor allem in einzelnen Ländern, die sich eng an der Seite der USA für einen möglichen Krieg gegen China rüsten – in Südkorea (plus 6,5 Prozent) und in Japan (plus 155 Prozent). Auch die Philippinen, die sich seit Mitte 2022 den USA als Stützpunkt für den militärischen Aufmarsch gegen China zur Verfügung stellen (german-foreign-policy.com berichtete [2]), steigerten ihre Rüstungskäufe erheblich: um rund 105 Prozent. In Südostasien insgesamt hingegen ging die Einfuhr von Kriegsgerät im selben Zeitraum um 43 Prozent zurück.

Der Westen rüstet auf

Maßgeblich getrieben wird der globale Waffenhandel aktuell von den Vereinigten Staaten sowie vor allem von Europa. Europa steigerte seine Rüstungsimporte im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 um stolze 94 Prozent gegenüber dem Fünfjahreszeitraum zuvor.
Zwar gingen von der nahezu verdoppelten Waffeneinfuhr 23 Prozent kriegsbedingt in die Ukraine.
Doch weiteten die anderen europäischen Staaten ihre Rüstungsimporte gleichfalls um rund ein Viertel aus.
Fünf der acht größten Rüstungsexporteure liegen in Westeuropa;
- Frankreich ist zum zweitgrößten Waffenverkäufer der Welt aufgestiegen,
- Deutschland steht – vor Italien, Großbritannien, Spanien – auf Rang fünf.
Während Russland zurückfiel und sich mit 11 Prozent aller Rüstungsexporte weltweit mit Platz drei begnügen musste – vor China, dessen Anteil auf 5,8 Prozent sank –, konnte Frankreich seinen Anteil um 47 Prozent auf 11 Prozent steigern.

Unangefochtene Nummer eins sind allerdings völlig unverändert die Vereinigten Staaten. Stellten sie im Fünfjahreszeitraum von 2014 bis 2018 noch 34 Prozent sämtlicher Waffenausfuhren weltweit, so konnten sie ihre Spitzenposition im jüngsten Fünfjahreszeitraum ausbauen und lagen nun schon bei 42 Prozent.

Prognosen für den Waffenexport

Die naheliegende Vermutung, die westlichen Staaten dürften auch künftig die Spitzenplätze auf der Rangliste der größten Waffenexporteure weltweit dominieren, lässt sich laut Einschätzung von SIPRI mit einem Blick auf die aktuellen Auftragsbestände der jeweiligen Rüstungskonzerne erhärten. Insbesondere ins Gewicht fallen dabei – wegen ihrer hohen Kaufpreise – Militärflugzeuge und Kriegsschiffe.
Laut SIPRI haben US-Konzerne aktuell Aufträge zur Lieferung von 1.071 Kampfflugzeugen und 390 Kampfhubschrauber in ihren Büchern – weit mehr als alle anderen Staaten zusammengenommen.
Hinzu kommen unter anderem Aufträge für die Lieferung von 561 Kampfpanzern. Französische Konzerne haben die Ausfuhr etwa von 223 Kampfjets und 20 großen Kriegsschiffen zugesagt, deutsche Unternehmen den Export von 25 großen Kriegsschiffen und 241 Kampfpanzern. China und Russland liegen mit 94 beziehungsweise 78 Kampfjets und wenigen Kriegsschiffen klar zurück. Allerdings berücksichtigt die SIPRI-Statistik eine Tendenz noch nicht, die sich zur Zeit abzeichnet, deren Umfang allerdings unklar und die womöglich auch reversibel ist: Mehrere wohlhabende Staaten auf der Arabischen Halbinsel beginnen, sich für chinesische Rüstungsgüter zu interessieren.[3] Das könnte die Gewichte langfristig verschieben.

DIe US-Rüstungsindustrie dominiert

Die dramatische Zunahme der Waffenimporte nach Europa jenseits der Ukraine geht vor allem auf die bereits 2014 beschlossene Steigerung der nationalen Rüstungshaushalte in den NATO-Staaten auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurück. Mehrere Staaten geben sogar deutlich mehr aus; Polen etwa investiert derzeit 3,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in seine Streitkräfte. Die gesteigerten Waffenkäufe werden bloß zum Teil durch die jeweils nationale Rüstungsindustrie gedeckt. Dabei stieg in Europa der Anteil der Waffeneinfuhren aus den USA laut SIPRI von 35 Prozent (2014 bis 2018) auf 55 Prozent (2019 bis 2023). In der EU erreichte er laut Angaben der EU-Kommission zwischen dem 24. Februar 2022 und Juni 2023 sogar 63 Prozent.[4] Noch weiter gestärkt werden Einfluss wie auch Absatz der US-Rüstungsindustrie dadurch, dass Washington die partielle Verlagerung der US-Rüstungsproduktion ins Ausland vorantreibt, um zusätzliche Kapazitäten zu erlangen. So produzieren Fabriken in Australien und in Japan in Lizenz US-Munition und US-Patriot-Flugabwehrsysteme.[5] Der polnische Rüstungskonzern PGZ fertigt mit einer Lizenz von Northrop Grumman US-Panzermunition.[6] Die Kooperation gestattet es der US-Rüstungsindustrie, ihren Weltmarktanteil noch weiter auszudehnen.

Teil der Fertigungskette

Daran beteiligt sich auch die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall. Das Unternehmen hat im Sommer 2023 begonnen, im niederrheinischen Weeze eine Fabrik zu errichten, in der Rumpfmittelteile für diejenigen US-Kampfjets vom Typ F-35 produziert werden sollen, die für den Export bestimmt sind.[7] Dazu zählen auch die 35 F-35-Jets, die Deutschland für die sogenannte nukleare Teilhabe kaufen wird.[8] Die Fertigung der Rumpfmittelteile in Weeze setzt in den Vereinigten Staaten Kapazitäten für die Herstellung anderen Kriegsgeräts frei; Rheinmetall wiederum sichert sie Zusatzprofite und den Ausbau der Konzernbeziehungen in die USA. Insgesamt stärkt sie freilich die Marktdominanz der US-Rüstungsindustrie – nicht zuletzt in Europa.

Frankreichs europäische Schwäche

Dies stößt auf Unmut in Paris. Hielten deutsche Konzerne im Fünfjahreszeitraum von 2019 bis 2023 einen Anteil von rund 6,4 Prozent am Waffenimport der europäischen Staaten, so lag derjenige Frankreichs laut den SIPRI-Statistiken bei nur 4,6 Prozent. Dass die US-Branche jetzt auch Konzerne aus EU-Mitgliedstaaten fest in ihre Fertigungsketten einbindet – darunter deutsche –, mindert die Chancen französischer Firmen zusätzlich. SIPRI zufolge gingen in den vergangenen fünf Jahren 42 Prozent aller französischen Rüstungsexporte nach Asien oder in die Pazifikregion, 34 Prozent in den Nahen und Mittleren Osten; nur 9,1 Prozent konnten in Europa abgesetzt werden. Rund die Hälfte der französischen Rüstungsexporte nach Europa bestand allein aus dem Verkauf von 17 Kampfjets des Typs Rafale an Griechenland. Die eklatante Schwäche der französischen Rüstungsindustrie auf dem europäischen Markt wirft ein Licht auf die hohe Bedeutung, die Frankreich der neuen EU-Strategie für die Förderung der europäischen Rüstungsindustrie beimisst – german-foreign-policy.com berichtete [9].

 

[1] Zahlen hier und im Folgenden: Trends in International Arms Transfers, 2023. SIPRI Fact Sheet. Solna, March 2024.

[2] S. dazu Drohnen gegen China.

[3] S. dazu Wonwoo Choi: UAE Receives First Batch Of Chinese L-15. theaviationist.com 08.11.2023.

[4] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

[5] Damien Cave: Why More American Weapons Will Soon Be Made Outside America. nytimes.com 01.03.2024.

[6] Poland and Weapons Maker Northrop Grumman Sign Deal Worth About $75 Million. usnews.com 20.02.2024.

[7] Rheinmetall baut mit am modernsten Kampfjet. manager-magazin.de 01.08.2023.

[8] S. dazu Festtage für die Rüstungsindustrie (II).

[9] S. dazu Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft.

 

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